Der empirisch-analytische Ansatz

Was bedeutet "empirisch-analytisch"?

Dieser Rückgriff auf mathematisch-naturwissenschaftliche Methoden ist eines der Charakteristika empirisch-analytischen Vorgehens innerhalb der Sozialwissenschaften. So hat sich der Begriff "quantitativ" mittlerweile fast zu einem Synonym für empirisch-analytische Forschung entwickelt. Das Attribut "qualitativ" soll demgegenüber häufig das Wissenschaftsverständnis einer hermeneutisch orientierten Wissenschaft charakterisieren. Statt des im übrigen recht unpräzisen Begriffspaares "quantitativ versus qualitativ" wird auch die gleichermaßen unscharfe Beziehung "harte versus weiche Daten" verwendet.

Häufig verwendet man statt des Begriffs "empirisch-analytisch" auch den Begriff "nomothetisch". Dieser Begriff geht auf den deutschen Philosophen Wilhelm Windelband zurück, der die auf Gesetze zielende Methode der Naturwissenschaften als "nomothetisch" (von Nomos = Gesetz und These = Behauptung), die das Einzelne, Ideelle, Geschichtliche hervorhebende Methode der Geisteswissenschaften als "idiographisch" (von Idiom = Eigentümlichkeit und Graphik = [Be-] Schreibkunst) bezeichnete.

Der Naive Empirismus

Historisch betrachtet hat sich die moderne empirisch-analytische Wissenschaftsauffassung in den Sozialwissenschaften aus dem Empirismus bzw. Positivismus entwickelt. Der ältere Empirismus geht auf Francis BACON und den englischen Aufklärer David HUME zurück und gelangte im 17. und 18. Jahrhundert zu einem Höhepunkt, der neben HUME noch durch zwei weitere Männer gekennzeichnet ist: John LOCKE und George BERKELEY (1684-1753). Diese Philosophen lehnten die Vernunft als Grundlage der Erkenntnis ab und postulierten dagegen ein tabula-rasa-Bild des menschlichen Verstandes. Wissenschaft sollte daher eine rein empirische (= Erfahrung als Quelle der Erkenntnis) Wissenschaft sein, die die Metaphysik als unwissenschaftlich ausschalten sollte. In LOCKES Ideen widerspiegelt sich die entfaltende bürgerliche Gesellschaft Englands dieser Zeit. Seine Abhandlung "Über den menschlichen Verstand" will nachweisen, daß es nicht die "angeborenen Ideen" seien, die den Willen und die Handlungen des Menschen bestimmen, sondern, daß die Ideen elementare Komponenten der Erkenntnis sind, deren Ursprung sich von der sinnlichen Wahrnehmung ableiten läßt; daß es also die Objekte der Umwelt seien, die den Menschen auf Grund von Beobachtung und Erfahrung in seinem Denken beeinflussen und in seinem Verhalten formen.

"Ich sehe also keinen Grund für die Annahme, daß die Seele denke, ehe sie von den Sinnen mit Ideen versehen wurde, über die sie nachdenken kann...Denn die Objekte unserer Sinne drängen vielfach unserem Geist ihre besonderen Ideen auf, ob wir wollen oder nicht; und die Operationen unseres Geistes lassen uns wenigstens nicht ohne gewisse dunkle Begriffe von ihnen bleiben...Je nach der Verschiedenheit, mit der die uns umgebenden Körper auf unsere Organe einwirken, ist der Geist gezwungen, die Eindrücke aufzunehmen; er kann sich der Wahrnehmung der mit ihnen jeweils verknüpften Idee nicht entziehen." (LOCKE 1689).

Die Grundtendenz der empiristischen Strömungen ist in dieser frühesten Fassungen des Empirismus, am deutlichsten: Die radikale Kritik an den unbegrenzten Fähigkeiten des menschlichen Verstandes, die Kritik an der "reinen Vernunft", die Kritik an jeder Form des apriorischen Wissens. Die Grundthese des englischen Empirismus ist, das alles, was gewußt werden kann, sich (ausschließlich) auf Erfahrung gründen muß. Für die weitere Entwicklung bedeutsam sind die Auffassungen des Naiven Empirismus über den Erkenntnisvorgang: die Welt bildet sich in der sinnlichen Wahrnehmung bei Wahrnehmenden direkt ab, der Wahrnehmende hat eine, - zwar gelegentlich durch "Idole" und Aberglauben verstellten (BACON) - aber doch prinzipiell unmittelbaren Zugang zur wirklichen Welt, man kann völlige Gewißheit über den wahren Zustand der Dinge erlangen. Aus dieser Theorie der "einfachen Vorstellungen" - auch Sensualismus genannt (LOCKE, MILL u.a.) ergeben sich zwei wichtige Folgerungen, die auch für spätere Fassungen des Empirismus bestimmend wurden:

Diese Gedanken wurden von Auguste COMTE, der gleichzeitig als Begründer der Soziologie gilt, aufgenommen und weiterentwickelt. COMTE forderte vom Gegebenen, vom Tatsächlichen, eben vom "Positiven", auszugehen und hielt die Frage nach dem hinter den Erscheinungen stehenden Sinn für philosophisch unfruchtbar. Seiner Meinung nach verläuft die Entwicklung der Philosophie, aber auch des einzelnen Individuums, in drei Stadien.

Im Gegensatz zu den "Geistbeschwörern" wollte COMTE von der unmittelbar erfahrbaren Wirklichkeit ausgehen und den grundlegenden Gesetzen der sozialen Bewegung auf die Spur kommen. Um dieses positive Stadium endgültig zu erreichen, sollte Wissenschaft nur noch von positiv gegebenen Tatsachen ausgehen. Statt Spekulation sollten Erklärungen und Vorhersage die Wissenschaft bestimmen. Die allgemeine Aufgabe von Sozialwissenschaft, als deren Begründer er oft genannt wird, sah COMTE darin, die Öffentlichkeit über soziale Erscheinungen wissenschaftlich aufzuklären. Ihre Aufgabe sei es lediglich konkrete Zusammenhänge festzustellen, ohne sich unmittelbar in praktisch-politische Angelegenheiten des öffentlichen Lebens einzumischen.

Der Logische Empirismus

Der Wiener Kreis, eine Vereinigung von Philosophen und philosophisch interessierten Naturwissenschaftlern, zu der u.a. Ernst MACH, Moritz SCHLICK, Rudolf CARNAP und Otto NEURATH entwickelte 50 Jahre später den Positivismus Auguste COMTES weiter zum sogenannten Neopositivismus, indem sie eine an den Naturwissenschaften orientierte Methodologie konzipierten, die zur Grundlage aller Wissenschaften, somit auch der Sozial- und Geisteswissenschaften werden sollte.

Die logischen Empiristen erkannten, daß einem die Natur nicht sagen kann, was man an ihr beobachten soll. Der Forscher muß schon vorher wissen, was er beobachten will. Er muß "Kriterien" haben, nach denen er aus der unendlichen Menge von "Beobachtbarem" auswählen kann. Mit anderen Worten:

Wissenschaft beginnt nicht mit der Erfahrung, sondern mit theoretischen Konzeptionen.

Man kann das Programm des Neopositivismus damit umschreiben, daß - explizit - die Vorstellung fallen gelassen wird, "Erkenntnis" und Wissenserwerb erfolge unmittelbar mit dem Wahrnehmungsakt: (Subjektive) Erfahrung müsse immer erst selbst in Sätzen "protokolliert" werden (Protokollsätze) und eine Theorie müsse - nach festzulegenden "Sinnkriterien" aus Beobachtungssätzen abgeleitet (=induziert) werden. Der Neopositivismus verbindet also den naiven Empirismus mit dem Rationalismus. Der Aufbau aller Erkenntnis geschieht nach logischen Gesetzen und basiert auf der Erfahrung. Zentral für die Ideen des Wiener Kreises erscheint auch die Problematisierung der Bedeutung von Sprache als Vermittlungsinstanz von Erkenntnis und Erfahrungen, die auch die Basis für das Postulat einer Einheitswissenschaft darstellt.

Ausgangspunkt dieser wissenschaftstheoretischen Position bildet das Verständnis, daß es Aufgabe von Wissenschaft sei, Aussagesysteme über die Wirklichkeit zu entwerfen die dem empirischen Sinnkriterium zu genügen haben. Dieses Kriterium meint, daß wissenschaftliche Sätze nur dann als solche zu betrachten seien, wenn sie an der Erfahrung verifiziert (= bestätigt) werden können.

Theorien als wissenschaftliche Aussagesysteme müssen dabei folgenden Bedingungen genügen:

Wer von der Erfahrung ausgeht, wird notwendig auf den Weg der Induktion verwiesen. Erfahrungen, Beobachtungen und Fakten liegen nie in allgemeiner Form vor sondern als Einzelerfahrungen, individuelle Begebenheiten und singulare Erscheinungen. Im logischen Empirismus wird die Induktion gegenüber dem naiven Empirismus beträchtlich eingeschränkt. Es wird nicht mehr aus der Beobachtung von Einzelfällen auf Naturgesetze geschlossen, sondern es geht darum, den Geltungsanspruch hypothetischer Vorhersagen aufgrund früherer gewonnener Beobachtungen zu begründen. Hypothesen sollen empirisch "verifiziert" werden. Je häufiger dies gelingt, sich eine Hypothese also empirisch bestätigen läßt, desto höher ihr Vorhersagewert für zukünftige Ereignisse. Wobei mit dem Begriff der Hypothese, noch nicht an der Erfahrung erprobte Teilaspekte von wissenschaftlichen Aussagesystemen, gemeint sind. Eine Hypothese stellt eine wissenschaftlich begründete, aber empirisch noch nicht überprüfte, aber wahrscheinlich wahre Aussage über die Wirklichkeit dar, wobei der Begriff der Wahrheit einer solchen Aussage rein an Erfahrung orientiert ist.

Das Ziel wissenschaftlicher Arbeit läßt sich im Rahmen des empirisch-analytischen Ansatzes zusammenfassend als Versuch verstehen, die Ursachen für soziale Phänomene und Vorgänge zu finden und benennen zu können. Als Sozialwissenschaftler will man etwas erfahren über mögliche Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Miteinanders der Menschen. Man möchte nicht nur etwas über verschiedene Einzelereignisse wissen, sondern ist bestrebt, Zusammenhänge zu erkennen und Tatbestände zu "erklären". Die Verwendung des Verbs "erklären" bedeutet dabei, daß Wissenschaftler es nicht bei einer bloßen Deskription konkreter Umstände belassen wollen: Sie suchen nach allgemeinen, grundsätzlich gültigen Regeln, nach Gesetzmäßigkeiten, die sich hinter beobachtbaren Tatbeständen verbergen.

Der Kritische Rationalismus

Der kritische Rationalismus wurde 1934/35 von dem damals 32jährigen Karl R. POPPER mit seinem berühmten Buch "Logik der Forschung" begründet. Popper hat zunächst das oben dargestellte Verifikationsprinzip des Logischen Empirismus kritisiert und an seiner Stelle das sogenannte "Falsifikationsprinzip" vorgeschlagen.

Der kritische Rationalismus bleibt zwar einerseits in der Tradition empiristischer Wissenschaftstheorien, unterzieht aber gleichzeitig alle Versuche, Wissen als sicheres Wissen zu begründen, einer radikalen Kritik. Nach POPPER sollte ein Wissenschaftler nicht versuchen, Theorien und Hypothesen zu belegen (= verifizieren), sondern er muß versuchen, sie zu widerlegen (= falsifizieren). Ist eine Theorie sehr häufig der "Bewährungsprobe" eines Falsifikationsversuches unterzogen worden, schlägt POPPER vor, sie als "bewährt" zu bezeichnen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie auch "richtig" oder "wahr" ist, da ja immer die Möglichkeit besteht, daß sie sich bei einer neuerlichen Überprüfung als falsch erweist. Theorien können sich über derartige empirische Tests der Realität nur annähern, diese aber niemals gänzlich erfassen.

Nach dem eben skizzierten Selbstverständnis ist es also vordringliche Aufgabe eines Wissenschaftlers zu prüfen, inwieweit gefundene Erklärungen einer Überprüfung standhalten, also die kritische "In-Frage-Stellung" von Ergebnissen wissenschaftlicher Erkenntnis. Wobei für POPPER diese Form wissenschaftlichen Vorgehens jeder empirischen Methode zu Grunde liegen sollte, ganz gleich, ob es sich um Fragen der Natur-, Geistes- bzw. Sozialwissenschaften handelt.

POPPER geht davon aus, daß am Anfang jeglicher Wissenschaft die Theorie steht und sich jede Beobachtung nur im Licht der Theorie vollzieht (Scheinwerfertheorie): Man gewinnt auf reiner Erfahrungsgrundlage keine neuen Erkenntnisse, sondern nur durch Aufstellung neuer Theorien.

Formale Merkmale wissenschaftlicherTheorien

Das Ziel von Wissenschaft ist letztlich der Aufbau einer Theorie zur Beschreibung und Erklärung eines bestimmten Bereiches der Wirklichkeit. Eine Theorie ist eine deduktiv verknüpfte Menge von Gesetzen. Sie hat somit die logische Form einer Erklärung. Ziel jeder Theorie ist es, Prognosen über zukünftige Ereignisse in der von ihr beschriebenen Wirklichkeit zu ermöglichen.

In einer Theorie sind alle Aussagen Verallgemeinerungen. Man unterscheidet zwischen Axiomen und Theoremen. Theoreme sind Gesetze, die durch eine Theorie erklärt werden. Axiome sind empirische Gesetze, deren Wahrheit als gesichert angenommen wird, die helfen sollen, festzustellen, welche anderen empirischen Behauptungen (Theoreme) wahr sein müssen, wenn die Axiome wahr sind. Wenn die Axiome einer Theorie wahr sind, dann müssen auch die Theoreme wahr sein; sind sie falsch, dann läßt das nicht den Schluß zu, daß die Theoreme falsch sind, denn auch durch falsche Voraussetzungen können (zufällig) richtige Aussagen getroffen werden. Generell folgt der Voraussagewert einer Theorie aus der Wahrheit ihrer Axiome. Der Unterschied von Axiomen und Theoremen ist ein relativer, denn ein Axiom einer Theorie kann ein Theorem einer anderen sein.

In der Erziehungswissenschaft sind fast alle Untersuchungen theoriebezogen, doch sind diese Theorien meist nur von geringem Umfang; die Klassifikation von Theorien erfolgt also auch hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Reichweite. Das gilt für alle Human- und/oder Sozialwissenschaften.

Hypothesen sind vorläufige Annahmen über Zusammenhänge zwischen realen Phänomenen; logisch besitzen Hypothesen meist die Struktur von Wenn-dann und Je-desto-Aussagen. Hypothesen müssen folgenden Kriterien genügen:

1. logische und empirische Überprüfbarkeit
2. Beziehung zu bestimmten Theorien
3. Begründbarkeit
4. Informativität und relative Neuheit.

Jede allgemeine Theorie ist als falsifiziert zu betrachten, wenn eine der aus ihr abgeleiteten Hypothesen (Prüfungshypothesen) aufgrund einer empirischen und logischen Überprüfung nicht mit den Tatsachen übereinstimmt. Der Fehler muß durch Überprüfung der Axiome der Theorie gefunden werden.


Quellen: Stigler, Hubert (1996). Methodologie. Vorlesungskriptum. Universität Graz.
WWW: ftp://gewi.kfunigraz.ac.at/pub/texte/meth.doc (98-01-03)
Stangl, Werner (1997). Zur Wissenschaftsmethodik in der Erziehungswissenschaft. "Werner Stangls Arbeitsblätter".
WWW: http://paedpsych.jku.at