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Schlick, Carnap, Neurath, Menger, ein Mord, die Nazis und die Folgen: Den "exemplarischen Charakter des Wiener Kreises für den Aufstieg und die Vertreibung der Vernunft" demonstriert Friedrich Stadler mit seinen "Studien zum Wiener Kreis".
Von Karl-Peter Schwarz
Die Geschichte des Wiener Kreises endete mit einem Mord. In der Begründung des Urteils gegen Hans Nelböck durch das Landesgericht für Strafsachen Wien I vom 26. Mai 1937 hieß es: "Am 22. Juni 1936 hat der Angeklagte um 9 Uhr 20 den Professor der philosophischen Fakultät Dr. Moritz Schlick im Gebäude der Wr. Universität auf der zur philosophischen Fakultät führenden Hauptstiege in dem Augenblick erschossen, als Dr. Schlick sich zu seiner Vorlesung begeben wollte. Die Leicheneröffnung ergab, daß Dr. Schlick von vier aus einer Pistole mit Kaliber 6.35 abgefeuerten Geschossen getroffen war."
Die Ermordung Schlicks war die Tat eines Psychopathen. Nelböck war bereits zweimal unter der Diagnose "schizoide Psychopathie" eingeliefert worden: in die Heilanstalt Am Steinhof und in die Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses. In beiden Fällen war diese Maßnahme auf Grund einer Anzeige von Moritz Schlick verfügt worden, der sich von seinem ehemaligen Studenten bedroht fühlte.
Der Haß gegen Schlick, den Nelböck in Morddrohungen zum Ausdruck gebracht hatte, wurde vom Gericht einerseits auf eine Affäre um eine Studentin zurückgeführt, andererseits darauf, daß Nelböck die Ablehnung seiner Bewerbung um eine Stelle bei den Volkshochschulen auf eine Intervention Schlicks zurückführte. Nach einer Zeugin soll Nelböck seinem Opfer zugerufen haben: "So Hund, du verfluchter, jetzt hast du es."
In der Urteilsbegründung wird noch ein Motiv genannt, nämlich "die grundverschiedene Weltanschauung", ein Umstand, der in der Anklageschrift präziser definiert wurde: "Der Beschuldigte, der von Natur aus religiös eingestellt ist, hat die wissenschaftliche Bekämpfung des von Prof. Schlick vertretenen Positivismus, bezw. den destruktiven Tendenzen des atheistischen Positivismus entgegenzuarbeiten, für unerläßlich erachtet" - eine Selbstladepistole, System Singer, als Ultima ratio transzendentalphilosophischer Kritik?
Ein reiner Weltanschauungstäter war Nelböck gewiß nicht. Dennoch war seine Tat das Symptom einer politisch-ideologischen Konfrontation, die das Ende des Wiener Kreises im Ständestaat herbeiführte, noch bevor die Nationalsozialisten ihr Vernichtungswerk vollendeten.
Im Dokumentenanhang zu Friedrich Stadlers voluminösen "Studien zum Wiener Kreis - Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext" ist der Artikel eines "Prof. Dr. Austriacus" enthalten, der wenige Wochen nach dem Mord in der Zeitschrift "Schönere Zukunft" erschienen ist. Der Autor (Philosophieprofessor Johann Sauter) gab vor, "von den verhängnisvollen Folgen auf die vermutlichen, bösen Ursachen" zurückzugehen: "Unter Schlicks Führung bildete sich der sog. ,Wiener Kreis', der sehr rührig war und der - sehr zum Schaden für den Ruf Österreichs als eines christlichen Staates - im Ausland als die österreichische Philosophie angesehen wird. Schlick bezeichnete seine Philosophie als Neupositivismus oder Logistik, . . . er (der Positivismus, Anm.) ist der radikale Leugner alles Metaphysischen." Diesem "Negativismus" sei die "in der christlichen Weltanschauung" erzogene Jugend ausgeliefert, was - wie der Mord an Schlick zeige - verheerende Folgen habe: "Die höhere Seelenkunde hat nachgewiesen, daß die moderne Zerrüttung der Nerven zum großen Teil auf die Zerrüttung in der Weltanschauung zurückgeht." Nach dieser Verkehrung der Täter-Opfer-Beziehung schloß "Prof. Dr. Austriacus": "Es ist bekannt, daß Schlick, der einen Juden (Waismann) und zwei Jüdinnen als Assistenten hatte, der Abgott der jüdischen Kreise Wiens war. Jetzt werden die jüdischen Kreise Wiens nicht müde, ihn als den bedeutendsten Denker zu feiern. Wir verstehen das sehr wohl. Denn der Jude ist der geborene Ametaphysiker, er liebt in der Philosophie den Logizismus, den Mathematizismus, den Formalismus und Positivismus, also lauter Eigenschaften, die Schlick in höchstem Maße in sich vereinigte. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage." 1937, ein Jahr nach dem Schlick-Mord, wurde der längst in Auflösung begriffene Wiener Kreis von einer ganz anderen Seite mit nicht geringerer Heftigkeit attackiert, diesmal als "Dienstmagd für die je geltenden Zwecke der Industriegesellschaft", ja - in denunziatorischer Pose - sogar als eine Denkschule, deren Verhältnis zum kulturellen Erbe "sich praktisch zuweilen bei nationalen Erhebungen und ihren Freudenfeuern zu betätigen pflegt". Der Autor, Max Horkheimer, führte den Positivismus auf eine soziale Wurzel zurück, nämlich die traurige "Verfassung eines großen Teils des Bürgertums, das aus Angst vor einer entscheidenden Änderung des Gesellschaftssystems sich willenlos der Herrschaft seiner kapitalkräftigsten Gruppen unterwirft".
Die Horkheimersche Polemik trug einen Titel, der auch Sauter hätte einfallen können: "Der neueste Angriff auf die Metaphysik". Vergegenwärtigt man sich den Einfluß, den diese beiden ideologischen Traditionen, die politkatholische und jene der Frankfurter Schule, auf den akademischen und intellektuellen Diskurs der Zweiten Republik genommen haben, braucht man sich nicht zu wundern, daß die Wiederentdeckung des Wiener Kreises ein spätes Ereignis ist. Es geht dabei nicht um die moralische Rehabilitierung einer Denkrichtung, die überholt wäre und sich im Aktenschrank der österreichischen Geistesgeschichte unterbringen ließe, sondern um den Rekurs auf eine österreichische Tradition, der eine Brücke baut zu den Grundlagen wissenschaftlichen Denkens im 20. Jahrhundert - es sind auch jene der Informationstechnologie.
Friedrich Stadler, Jahrgang 1951, Gründer und Leiter des Instituts Wiener Kreis, versteht seine "Studien zum Wiener Kreis" als "historische wie systematische Untersuchung mit Bezug auf bislang vernachlässigte Archivmaterialien. Sie will zugleich den exemplarischen Charakter des Wiener Kreises für den Aufstieg und die Vertreibung der Vernunft im Kontext dieser Epoche demonstrieren."
Dieses Herangehen unterscheidet sich seinem umfassenderen Anspruch nach von den bisherigen, durchwegs problemgeschichtlich orientierten Monographien, zum Beispiel von der (hervorragenden) Victor Krafts ("Der Wiener Kreis - Der Ursprung des Neopositivismus", 1950, neu aufgelegt bei Springer 1997).
Stadler beginnt nach einer Übersicht über die Bedeutung des Wiener Kreises für die aktuelle wissenschaftstheoretische Diskussion mit einem Prolog, der dem "Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie" in der Habsburgermonarchie mit Bernhard Bolzano, Franz Brentano und Ernst Mach gewidmet ist.
Von dem Gesprächskreis um Philipp Frank, Otto Neurath, Hans Hahn und Richard von Mises vor dem Ersten Weltkrieg verfolgt er den Bogen über die Donnerstagabendtreffen bei Moritz Schlick bis in die "öffentliche Phase" (1929: Veröffentlichung der Programmschrift "Wissenschaftliche Weltanschauung - Der Wiener Kreis", erstes Auftreten als Gruppe in Prag). Stadler weist darauf hin, daß hier "von einer marginalisierten Strömung gesprochen werden muß, die besonders auf akademischen Boden einer dominanten philosophia perennis in verschiedenen Variationen gegenüberstand."
Ungeachtet der beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Denkern des Wiener Kreises, die Stadler ausführlich behandelt, stützten sich die Diskussionen des Wiener Kreises auf zwei Grundannahmen, das "Basistheorem" (Erkenntnis resultiert ausschließlich aus Erfahrung) und das "Sinntheorem" (Der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation).
An die Stelle der traditionellen Metaphysik, deren Aussagen als "sinnlos" bezeichnet wurden, müsse eine wissenschaftliche Philosophie (Wissenschaftstheorie) treten, aus der schließlich - im radikalen, bei Neurath gesellschaftsverändernd definierten Ansatz - eine von den Schlacken der Metaphysik befreite "Wissenschaftliche Weltauffassung" hervorgehen müsse. Neuraths Ansatz, der von Schlick nicht geteilt wurde, schlug um in ein politisch-ideologisch legitimiertes Aufklärungsprogramm, das sich mit der sozialdemokratischen Erziehungs- und Kulturbewegung verband und den im Wiener Kreis herrschenden Konsens sprengte.
Auf der anderen Seite unterhielt Felix Kaufmann Beziehungen zu den um Ludwig von Mises gescharten Zirkel liberaler Nationalökonomen, zum "Geist-Kreis" Friedrich August von Hayeks und zu Kelsens Wiener Schule der Rechtstheorie. Stadler: "Trotz individueller Differenzen funktionierte die gemeinsame Arbeit an offenen Problemen und Themen. Transparenz und Klarheit waren die Voraussetzungen für eine pluralistische Theoriendynamik mit erwünschter Kritik und Selbstkritik im Kampf der Argumente." Der Vernetzung des Wiener Kreises mit den wissenschaftstheoretischen Knotenpunkten in Prag, Berlin, Warschau, in England, in den USA, in Finnland, Holland und Frankreich entsprach eine Vernetzung mit anderen Wiener Zirkeln (darunter Mengers Mathematisches Kolloquium und der Gomperz-Kreis) und Persönlichkeiten, die den Schlick-Zirkel beeinflußten oder von ihm beeinflußt wurden (Wittgenstein, Popper). Zu den aufregendsten Teilen des Buches gehören die erstmals veröffentlichten Protokolle des Schlick-Zirkels aus dem Nachlaß von Rose Rand, rekonstruiert nach den Tagebüchern Rudolf Carnaps, die einen Einblick in diese Werkstätte analytischen Denkens geben und zugleich deren Anziehungskraft auf die bedeutendsten Wissenschaftler der Zeit (Einstein, Heisenberg) dokumentieren.
Carnap verließ Österreich 1931, Neurath 1934, Karl Menger emigrierte 1936 in die USA, Friedrich Waismann 1937 nach England. Felix Kaufmann flüchtete 1938 nach New York, Edgar Zilsel folgte ihm 1939, Gödel ging 1940 nach Princeton, Richard von Mises nach Istanbul. Der bibliographische Anhang sowie der "Nekrolog: Der Exodus wissenschaftlicher Vernunft" lassen das Ausmaß des Kahlschlags ahnen, dem Österreich ausgesetzt war. Stadler: "Erst seit den späten sechziger Jahren wurden diese Spuren entdeckt und rekonstruiert, doch hatte die österreichische Philosophie und Wissenschaft in der beziehungsweise durch die Emigration selbst entscheidende Entwicklungen durchgemacht, die sie zu einem internationalen Unternehmen werden ließen. Der verspätete Re-Import zum Beispiel der analytischen Wissenschaftstheorie konnte den erlittenen Verlust und Rückstand nicht wettmachen, geschweige denn ersetzen."
Friedrich Stadler
Studien zum Wiener Kreis
Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im
Kontext, 1036 S., geb., S 715, Euro 51,4 (Suhrkamp Verlag,
Frankfurt/Main)