Thema1:
Die körperliche Entwicklung in der Vorpubertät

Seminar aus Erziehungswissenschaft:
Entwicklung im Jugendalter

 LV-Leiter: Dr. Stangl Werner
Sommersemester 1996

 Referenten:
Gstettner Manuela 170/9355341
Gottenhuber Maria 170/9356066

25. April 1996

 INHALTSVERZEICHNIS

 1.Einleitung

 2. Phasen der Entwicklung
2.1Die Vorpubertät
2.2Die Pubertät
2.3Die Adoleszenz

 3.Die körperliche Entwicklung
3.1Der puberale Wachstumsschub
3.2 Veränderung der Körpergestalt
3.3Körperkraft und Leistungsfähigkeit
3.4Entwicklung der psychomotorischen Leistung (Motorik)

 4. Die geschlechtliche Reifung
4.1Biologische Grundlagen
4.2Funktion der Hormone
4.3Primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale
4.4Reihenfolge der pubertären Veränderungen

 5.Einfluß der Umweltbedingungen
5.1Ernährungsbedingte Faktoren
5.2Soziokulturelle Faktoren
5.3Klimatische Faktoren

 6. Die Gehirnreifung

 7.Das Phänomen der Akzeleration
7.1Begriffsklärung
7.2Säkulare Akzeleration
7.3Individuelle Akzeleration und Retardierung
7.4Ursachen der Akzeleration
7.5Setzt sich der säkulare Trend fort?

 Glossar

 Literaturverzeichnis

 Übersicht

1. Einleitung

 Das Jugendalter wird von Entwicklungspsychologen sehr häufig als Übergangsphase bezeichnet. Die meisten Autoren verstehen darunter die Zeitspanne zwischen dem 12. und 21. Lebensjahr, in der der Heranwachsende allmählich die Kindheit verläßt und auch noch nicht vollständig zu den Erwachsenen zählt.

 In dieser Zeit gibt es oft Krisen, durch die das Kind hindurch muß, um wie schon erwähnt, zum Erwachsenen zu werden. In manchen Kulturen wird dem Jugendlichen, dem es dann an Anerkennung mangelt, die Integration in die Gesellschaft erschwert. Soziale Ungleichheiten und Mißstände führen zu Ablehnung, Auflehnung, Verbote und oft auch zu Haß, welches wiederum den Generationskonflikt verhärtet.
(vgl. BIERMANN 1978, S. 54)

2. Phasen der Entwicklung

 Der Begriff Pubertät ist vom lateinischen pubes abgeleitet, das Körper- oder Schamhaare bedeutet und somit als Zeichen für die Mannbarkeit gesehen wird.
(vgl. ROCHEBLAVE-SPENLE 1972, S. 26)

 Jungen und Mädchen treten ungefähr zu selben Zeit in die Pubertät ein, aber die Kriterien sind bei Jungen schwerer zu erkennen als bei Mädchen. Üblicherweise wird die Pubertät in 3 Phasen gegliedert:

 - Vorpubertät
- Pubertät
- Nachpubertät (Adoleszenz)

 In diesen drei Zeitspannen ist nicht nur eine beschleunigte körperliche und sexuelle Reifung zu erkennen sondern auch eine sehr starke Prägung der Persönlichkeit.

 2.1 Die Vorpubertät

 Die erste Periode ist durch einen Wachstumsschub und auch durch das Auftreten einiger sekundärer Geschlechts-merkmale gekennzeichnet (zB Scham- und Achselhaare).
Bei beiden Geschlechtern verstärkt sich die Schweißabsonderung und schon zu Beginn dieser Phase wachsen bei den Jungen Testikel und Penis rascher und bei Mädchen entwickeln sich die Brüste.

 2.2 Die Pubertät

 Dies ist die Phase der Pubertät im eigentlichen Sinn. Die Geschlechtsmerkmale prägen sich aus - beim Mädchen kommt es zu ersten Regel (Menarche) und beim Jungen zur ersten Ejakulation. Bei den Jungen stellt sich auch zu dieser Zeit meist der Stimmbruch ein.

 2.3 Adoleszenz (Nachpubertät)

 In der Literatur wird damit der Zeitraum zwischen 17 und 20/21 Jahren verstanden. Es werden die Geschlechtsdrüsen und -organe voll entwickelt und funktionsfähig.

3. Körperliche Entwicklung

 3.1 Der puberale Wachstumsschub

 Nach der Kindheit, in der ein sehr gleichmäßiges Wachstum zu erkennen ist, setzt nun etwa im 11. bis zum 13. Lebensjahr ein sehr intensives Längenwachstum ein, wobei dies individuell bzw. zwischen Mädchen und Jungen sehr verschieden ist.
Bei Mädchen beginnt es frühestens mit 7,5 Jahren und spätestens mit 12, bei Jungen frühestens mit 10 und spätestens mit 13,5 Jahren (vgl. SCHENK-DANZINGER 1988, S. 324).
Jungen durchlaufen allerdings nach Einsetzen der Geschlechtsreife eine längere Wachstumsperiode, während sie bei Mädchen wesentlich früher endet. Bei Mädchen endet diese durchschnittlich im Alter von 18 Jahren im Gegensatz zu Jungen, die bis ins dritte Lebensjahrzehnt wachsen, allerdings nur mit einem geringfügigen Zuwachs (vgl. NICKEL 1975, S. 269).

 Diese unterschiedliche Entwicklung zeigt folgendes Diagramm:

 Abb. 1 (SCHENK-DANZINGER 1988, S. 324)

 Sehr auffällig ist die Tatsache, daß das Wachstum sehr unharmonisch verläuft, und dadurch der Jugendliche oft sehr unproportional wirkt und einen schlaksigen Eindruck macht, da zuerst Kopf, Hände, Füße wachsen und anschließend Arme, Beine, und zuletzt der Rumpf. Parallel zum Wachstumsschub entwickelt sich die geschlechtliche Reife (vgl. SCHENK-DANZINGER 1988, S. 322), auf die im Punkt 4 näher eingegangen wird.

 3.2. Veränderungen der Körpergestalt

 Während der Reifeentwicklung treten beachtliche Unter-schiede in der Körpergestalt von Jungen und Mädchen hervor.
In der Reifezeit kommt es bei Mädchen zu einem starken Wachstum des Beckengürtels und somit zur Ausbildung der breiteren und rundlichen Hüften, die zum Gebären und Austragen von Kindern notwendig sind.

 Bei Jungen kommt es zu einem Breitenwachstum der Schultern. Muskulöse Schulterpartien beim Mann besaßen früher eine wichtige Bedeutung für die Funktion der Lebenssicherung. Diese Ausbildung der Muskeln setzt sich bei Jungen in weiteren Jahren fort, genauso wie die Neigung zur vermehrten Anlage von Fettdepots bei Mädchen, die ursprünglich eine wichtige Reserve zur Ernährung der Kinder im Mutterleib und an der Brust darstellten. (vgl. NICKEL 1975, S. 271)

 Abb. 2 (NICKEL 1975, S. 270)

 Sehr charakteristisch für die Vorpubertät ist eine sehr schnelle Zunahme des Körpergewichts, die sich während der Pubertät verlangsamt, und sich nach der Pubertät wieder beschleunigt. (vgl. ROCHELBLAVE-SPENLE 1972, S. 30)

 3.3 Körperkraft und Leistungsfähigkeit

 Während Mädchen im Alter von 11 etwa noch gleiche Muskelkraft wie Jungen besitzen, fallen sie später sehr stark zurück, da es bei Knaben infolge der stärkeren Muskelentwicklung zu einer physischen Kraftsteigerung kommt.(vgl. OERTER & MONTADA 1982, S. 252)

Abb. 3 (OERTER & MONTADA, S. 253)

 Diese Kraftsteigerung bei Jungen hat viele Auswirkungen (vgl. SCHENK-DANZINGER 1988, S. 276):

 1. In der Zeit der Vorpubertät besteht ein erhöhtes Bewegungsbedürfnis gepaart mit großer körperlicher Leistungsfähigkeit, wobei dieses Bedürfnis sehr oft bei Wettbewerben bzw. durch Sport ausgelebt wird.

 2. Sehr oft ist eine gesteigerte Aggressivität als Folge vielfach frustrierter Kräfte bei Pubertierenden zu beobachten. Tiere und Außenseiter in der Schulklasse werden oft zu begehrten Objekten der Aggressionsabfuhr.
Es ist aber auch wichtig zu erwähnen, daß Knaben oft eine sehr innige Beziehung zu Tieren pflegen, wo sie ihr Zärtlichkeitsbedürfnis befriedigen können, das in der Familie oft unterdrückt werden muß, da man ja sonst kein ÑMannì ist.

 3. Sehr charakteristisch ist die Freude an Sinnes-eindrücken. Pubertierende haben Lust an Geräuschen, empfinden Hautgefühle intensiver, und lieben Gerüche, die Erwachsene oft vermeiden (z.B.: Auspuffabgase oder Benzingeruch)

 4. Gesteigerte Abenteuerlust und Unfugbereitschaft ist ein weitere Auswirkung. Erklettern von Bäumen und Dächern stellt für Jungen oft einen besonderen Nervenkitzel dar.

 3.4. Entwicklung der psychomotorischen Leistung

 Wie bereits im Punkt 3.1 erwähnt, zeigt sich das ungleiche Körperwachstum in schlaksigen Bewegungen, die oft einen unbeholfenen Eindruck machen.
Vor allem schnell wachsende Jungen brauchen Zeit ihre Bewegungskoordination den veränderten Verhältnissen anzupassen.
Unterschiedlich sind die Auswirkungen des Wachstumsschubs bezüglich der Motorik zwischen den Geschlechtern. Mädchen sind den Jungen in der Feinmotorik überlegen und bleiben dies auch - manche Handgriffe mit sehr kleinen Teilen werden nur von Frauen ausgeführt, denke man an Handsticken. Die Burschen bleiben den Mädchen in der Grobmotorik überlegen (SCHENK-DANZINGER 1988, S. 323).

 Es stellt sich die Frage, inwieweit die unterschiedliche Erziehung von Jungen und Mädchen in der Ausführung der verschiedenen Tätigkeiten eine Rolle spielt.

4. Die geschlechtliche Reifung

 4.1 Biologische Grundlagen

 Eine Vielzahl von Hormonen sind verantwortlich für den puberalen Wachstumsschub und die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale. (Im wesentlichen sind Hormone der Nebennierenrinde, der Hypophyse, der Schilddrüse und Geschlechtshormone dafür verantwortlich.) Es sind auch Hormone, die im Verlauf der Pubertät den Geschlechtscharakter formen und die endgültige Gestaltbildung des männlichen und weiblichen Körpers übernehmen. (vgl. SCHENK-DANZINGER 1988, S. 355f)

 4.2 Funktion der Hormone

 Von großer Bedeutung für die gesamte Entwicklung in der Kindheit und Jugend ist das komplizierte Wechselspiel der endokrinen Drüsen, welches nun kurz und sehr vereinfacht dargestellt werden soll.

 Zentrale Stellung dieser innersekretorischen (endokrinen) Vorgänge nimmt die Hypophyse ein. Sie sondert neben einem Wachstumshormon (Somatotropin) vor allem solche Hormone ab, die eine anregende Wirkung auf andere endokrine Drüsen ausüben. Sie besitzen damit eine Signalfunktion und steuern damit indirekt den Wachstums- und Ent-wicklungsprozeß.

 Angeregt werden die Schilddrüse, die Nebennieren und während der Reifezeit vor allem die Keimdrüsen. Damit setzt die eigentliche puberale Entwicklung ein - es werden nämlich vermehrt Geschlechtshormone produziert (männliche Androgene und weibliche /Östrogene).
Diese Hormone sind auch Verursacher der Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale.

"Das Schilddrüsenhormon wirkt durch die Regelung von Stoffwechselvorgängen indirekt auf das Wachstum ein. Durch schwere Funktionsstörungen kann es zu Zwergwuchs (Unterfunktion) oder zu einer starken Erhöhung des Grundumsatzes (Überfunktion) kommen. Meist sind dann in beiden Fällen auch psychische Veränderungen zu beobachten"
(NICKEL 1975, S 279f)

 4.3 Primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale

 Durch die hormonelle Veränderung im Körper der Jugendlichen kommt es zur Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale.

 Als primäre Geschlechtsmerkmale bezeichnet man die inneren und äußeren Organe, die zur Fortpflanzung notwendig sind.
Mädchen: Vagina, Gebärmutter, Eierstock
Jungen: Penis, Hoden, Hodensack

 Sekundäre Geschlechtsmerkmale bilden sich in der Reife-zeit heraus und kennzeichnen die Fraulichkeit und Männ-lichkeit jeder Person. Bei den Mädchen zählt dazu das breitere Becken, die Hüftenformung, das Wachstum der Brüste und die Schamhaare. Kennzeichen zu Beginn der Reifung sind bei Jungen ebenso die Schamhaare, die Körperbehaarung an Armen, Beinen und Brust sowie der Stimmbruch und der Bartwuchs.

 4.4 Reihenfolge der pubertären Veränderung

 Es scheint eine bestimmte Ordnung für die Abfolge der Veränderungen zu bestehen, die für alle Individuen gleich ist, wobei jedoch der Zeitpunkt des Einsetzens individuell sehr verschieden ist und auch von vielen anderen Faktoren beeinflußt wird.

 Für das Mädchen heißt das:
- Entwicklung der Brüste
- Auftreten der pigmentierten, glatten Schamhaare
- Alter des größten Wachstums
- Auftreten der gekräuselten Schamhaare
- erste Menstruation (Menarche)
- Wachstum der Achselhaare

 Normaler Ablauf bei Jungen:
- Wachstumsbeginn der Hoden
- Auftreten der Schamhaare
- erste Veränderung der Stimme
- erste Ejakulationen
- gekräuselte Schamhaare
- Alter des größten Wachstums
- Achselhaare
- deutliche Stimmveränderung
- Bartwuchs

 (vgl. ROCHEBLAVE-SPENLE 1972, S. 31)

 Beim Eintritt der Geschlechtsreifung befinden sich alle Geschlechtsorgane noch im Anfangszustand ihrer Reife-entwicklung. Das Stadium der geschlechtlichen Vollreife erreichen die Mädchen erst 4 bis 6 Jahre nach Beginn der Monatsblutungen.
Dank der Enttabuisierung der Sexualität wissen heute die meisten Mädchen, was es zu bedeuten hat, wenn sie nun monatlich ihre Menstruation bekommen. Trotz allerlei Hilfsmittel, die heute schon in der Werbung suggeriert werden, fühlen sich viele Frauen in ihrer Bewegungsfreiheit und Aktivität eingeschränkt.

5. Der Einfluß von Umweltbedingungen

 Die biologische Reifung und der puberale Wachstumsschub ist nicht ausschließlich von Hormonen beherrscht. Es wirken auch Umwelteinflüsse von außen ein, die das Wachstum und die Entwicklung beeinflussen.

 5.1 Ernährungsbedingte Faktoren

 Hungerperioden können zu einer deutlichen Verlangsamung des Wachstums und der körperlichen Reifung im Jugendalter führen. Dies zeigten Untersuchungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Ein Entwicklungsrückstand, der durch Unterernährung zustande kommt, kann durchaus wieder aufgeholt werden, wenn dieser Zustand nicht all zu lange andauert.
Die Kinder waren in Wachstum und körperlicher Reife 10-20 Monate hinter dem allgemeinen Durchschnitt zu-rückgeblieben, doch eine auf den Normalbedarf verbesserte Nahrung führte innerhalb eines Jahres bereits zu einem bedeutsamen Wachstumsspurt und einem Aufholen des Rückstandes. (NICKEL 1975, S. 275)
Die Untersuchungen zeigten aber, daß die Mädchen weniger beeinträchtigt wurden als die Burschen und der Rückstand sehr schnell wieder aufgeholt werden konnte.

 Bei Mädchen treten diese Mangelerscheinungen häufiger auf als bei Knaben. Hier wird als Begründung die Vermutung angegeben, daß Mädchen um ihrer Figur willen wenig bzw. einseitig essen.
Heute zählen die Magersucht und die Fettsucht zu den bekanntesten Entwicklungsstörungen.

 5.2 Soziokulturelle Faktoren

 Untersuchungen aus verschiedenen Ländern zeigen, daß die körperlichen Entwicklung mit dem sozialen Statur und der Größe der Familie korreliert. (vgl. NICKEL 1975, S. 276)
Die Größe und das Gewicht der Kinder nimmt mit sinkendem Status und steigender Größe der Familie ab. Hier ist nicht nur der Faktor der Ernährung zu berücksichtigen, auch die Fürsorge, die Zuwendung und Hygiene spielen eine Rolle. Ebenso wirkt sich die frühzeitige und übermäßige körperliche Beanspruchung in den sozial unteren Schichten auf die körperliche Entwicklung aus.

 Abb. 4 (Nickel 1975, S. 277)

 5.3 Klimatische Faktoren

 Durch den Einfluß des Klimas setzt die körperliche Entwicklung sowie die Geschlechtsreife in manchen Ländern früher bzw. später ein. In den skandinavischen Ländern setzt die puberale Entwicklung wesentlich später ein und verläuft langsamer als in Mittel- und Südeuropa.
(vgl. NICKEL 1975, S. 278)

6. Die Gehirnreifung

 Während der Pubertät treten auch im Bereich des Großhirns reifungsbedingte Veränderungen auf. Messungen visualisieren in einem Elektroencephalogramm (EEG) eine zeitweilige Frequenzveränderung bestimmter hirn-elektrischer Potentiale. Im Schulkindalter bestimmen die Alphawellen mit einer Frequenz von 8 bis 13 pro Sekunde den Grundrhythmus.

Mit der puberalen Entwicklung tauchen wieder langsamere Wellen des Theta- bzw. Subthetabereichs mit einer Frequenz bis zu 5 Schwingungen pro Sekunde auf, die schon im Klein- und Vorschulalter zu messen waren. Manche Autoren bezeichnen dies als puberale Regression.

 Mit 16 Jahren ist im Normalfall wieder das alte Hirnstrombild mit dem Übergewicht der Alphawellen erreicht, welches bis ins Erwachsenenalter erhalten bleibt. Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen des Hirnstrombildes vermutet man psychische und kognitive Veränderungen während der Reifezeit.

 Mit Beginn der puberalen Entwicklung ist die Ausreifung des Großhirns noch nicht abgeschlossen. Es entstehen noch Verbindungen der Hirnwellen im Bereich des Frontalhirns, das im Wechselspiel mit dem Zwischenhirn für die Persönlichkeits- bzw. Charakterentwicklung des Menschen große Bedeutung besitzt. (vgl. NICKEL 1975, S. 284ff)

7. Das Phänomen der Akzeleration

 7.1 Begriffserklärung

 Wie bereits erwähnt, tritt die körperliche Reife normalerweise in ganz bestimmten Altersabschnitten auf.
Verschiebt sich jedoch die körperliche Reifung ständig nach vorne, so spricht man von Akzeleration. Verschiebt sich die körperliche Reifung nach hinten, wird von Retardierung gesprochen.
Allgemein versteht man darunter eine gegenüber dem Durchschnittswert verzögerte bzw. beschleunigte Ent-wicklung.
Unter säkularer Akzeleration versteht man die be-schleunigte Entwicklung einer jüngeren Generation gegen-über früheren Generationen (vgl. NICKEL 1975, S. 503f).
Von individueller Akzeleration (Entwicklungsbeschleunig-ung) spricht man, wenn die körperliche Entwicklung eines Jugendlichen einen Vorsprung gegenüber Gleichaltrigen erkennen läßt.

 7.2 Säkulare Akzeleration

 In vielen Untersuchungen wurde festgestellt (jede ältere Generation wird eine Größenzunahme bestätigen), daß innerhalb von 100 Jahren die Durchschnittsgröße um bis zu 22 cm anwuchs. (Abb. 5, NICKEL 1975, S. 288)

Da diese Erscheinung auch im Kleinkindalter zu erkennen ist, ist es jedoch nicht möglich dies auf die puberale Entwicklung zurückzuführen (vgl. NICKEL 1975, S. 288).
Ebenso konnte bei der geschlechtlichen Reifeentwicklung eine deutliche säkulare Akzeleration beobachtet werden. In Westeuropa ist eine Vorverlegung des Menarchealters um bis zu fünf Monate pro Jahrzehnt erkennbar (Abb. 6 NICKEL 1975, S. 290). Eine Untersuchung, die in /sterreich durchgeführt wurde ergab sogar eine Vorverlegung von acht Monaten innerhalb von acht Jahren.
(vgl. SCHENK-DANZINGER 1988, S. 325)

Abb. 6 (OERTER & MONTADA, S. 290)

 Weiters ist ein Hinausschieben der Menopause als Anzeichen für das Ende der Zeugungsfähigkeit zu erkennen.

7.3 Individuelle Akzeleration und Retardierung

 In keinem Zeitabschnitt des Lebens früher oder später unterscheiden sich Gleichaltrige so markant voneinander wie im Jugendalter.
Abb. 7 zeigt das unterschiedliche körperliche Reifungsniveau bei Gleichaltrigen.

Abb. 7 (OERTER & MONTADA 1982, S. 258)

 Psychologische Auswirkungen

 Es existieren zwei konträre Theorien zu Klärung der Auswirkungen:

 * Das Stör-Reiz-Modell: Diese Theorie vertritt die Auffassung, daß die körperliche Akzeleration auf Kosten der psychischen Entwicklung geht.
* Das Aktivationsmodell: Diese Theorie besagt, daß bei körperlich Akzeleration zwangsläufig auch eine be-schleunigte psychische Entwicklung eintritt.

 Die von SCHENK-DANZINGER (1988, S. 327) beschriebenen Auswirkungen sind eher auf das Aktivationsmodell zurückzuführen. Es wird behauptet, daß die Akzeleration eine verfrühte hormonale Umstellung bewirkt und sich dies auf den psychischen Bereich auswirkt (vgl. SCHENK-DANZINGER, S. 327):

 1. Selbstbehauptungstendenzen (mehr bei Knaben)
2. Hingabetendenzen und Zärtlichkeitsbedüfnis (mehr bei Mädchen)
3. ein frühes Ansprechen auf sexuelle Reize, eine Erotisierung der Umwelt
4. eine Verlagerung der Interessen aus der Familie hinaus und eine frühere Beziehungsaufnahme zum anderen Geschlecht.

 Andere Autoren, wie z. B. OERTER & MONTADA (vgl. 1982, S. 259f) weisen darauf hin, daß sich kein bzw. nur ein sehr geringer Zusammenhang zwischen körperlicher und psychischer Entwicklung nachweisen läßt.

 7.4. Ursachen der Akzeleration

 Es wurden viele Versuche unternommen das Akzelerations-phänomen seit dem Beginn der Industrialisierung zu klären. Es gibt sehr viele konträre Ansätze :
( die stärkere Bestrahlung durch Licht
Die heliogene Theorie von Koch(1935,1953) führt die Entwicklungsbeschleunigung auf eine verstärkte Sonneneinstrahlung und die dadurch hervorgerufene erhöhte Zufuhr von Vitamin D zurück (vgl. Nickel, s. 293).
* die Reizüberflutung in den Großstädten
* vermehrte sportliche Aktivitäten
* weniger körperliche Arbeit
* durch die Auslese der vom Land in die Stadt zuwan-dernden Bevölkerungsschichten
(vgl. SCHENK-DANZINGER, S. 326)
* gemäßigte Streßeinwirkung
Diese Theorie führt ein beschleunigtes Wachstum auf eine Veränderung der endokrinen Balance zurück, die durch physiologischen Streß in der frühen Kindheit ausgelöst wurden. Eine Untersuchung zeigte, daß Jungen, die während der ersten Lebensjahre einem gemäßigten physiologischen Streß (z.B.: Durchbohren der Nase, Ohren und Lippen, Einkerbungen und Einbrennungen in die Haut) ausgesetzt waren, im Jugendalter größeres Wachstum zeigten, als Jungen einer Vergleichsgruppe (vgl. Nickel 1975, S. 294)

 Jedoch ist keine dieser Theorien empirisch abzusichern (vgl. SCHENK-DANZINGER, S. 326). Die meisten Autoren finden eine Erklärung in der besseren Ernährung, da einerseits bekannt ist, daß bestimmte Nahrungsmittel wie Fett und Fleisch die Funktion wachstumsfördender Drüsen steigern und andererseits weiß man, daß Kinder, die in Hungerjahren aufwachsen, kleiner sind als Kinder, die unter besseren Umständen aufwachsen.

7.5 Setzt sich der säkulare Trend fort?

 Darüber, ob der Trend anhält gibt es verschiedenste Meinungen. Einerseits gibt es Autoren, die behaupten, die Menarche wird bereits während der Grundschulzeit eintreten, andererseits vertreten Autoren die Ansicht, daß in Zukunft nur mehr geringe Verschiebungen eintreten werden (vgl. DE WIT 1982, S. 48)

Glossar

 Adoleszenz: Zeitraum zwischen 17 und 20/21 Jahren;
Geschlechtsdrüsen und -organe werden voll ent wickelt; auch Nachpubertät genannt;

 Akzeleration: verzögerte oder beschleunigte Entwicklung
gegenüber dem Durchschnitt;
säkulare: beschleunigte Entwicklung einer jüngeren
Generation gegenüber einer früheren Generation;
individuelle: körperliche Entwicklung eines Jugendlichen läßt einen Vorsprung gegenüber Gleichaltrigen erkennen;

 Dezeleration: verzögerte Entwicklung gegenüber dem Durch-
schnitt und den Normwerten;

 Entwicklung, psychomotorisch: Entwicklung der Bewegungs koordination

 Entwicklung, somatisch: körperliche Entwicklung

 Entwicklungsstörung: Umwelteinflüsse stören Wachstum und
Entwicklung; klimatisch, sozioökonomisch und er nährungsbedingte Faktoren;

 Gehirnreifung: reifungsbedingte Veränderungen im Bereich
des Großhirns am Beginn der puberalen Entwicklung;

 Geschlechtsmerkmale, primär: innere und äußere Organe, die zur Fortpflanzung notwendig sind;
Mädchen: Vagina, Gebärmutter, Eierstock
Jungen: Penis, Hoden, Hodensack

 Geschlechtsmerkmale, sekundär: kennzeichnen die Fraulich-
keit und Männlichkeit jeder Person; nicht direkt zur
Fortpflanzung notwendig;
Mädchen: breiteres Becken, Hüftenformung, Wachstum
der Brüste und Schamhaare;
Jungen: Schamhaare, Körperbehaarung an Armen, Beinen und Brust, Stimmbruch und Bartwuchs;

 Menarche: erste Menstruation der Mädchen

 Pubertät: vom lateinischen pubes abgeleitet und
bedeutet soviel wie Körper- oder Schamhaare;
Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsen sein; Geschlechtsmerkmale prägen sich aus;
Mädchen bekommen erste Regelblutung (Menarche);
Knaben haben erste Ejakulation;

 Retardierung: Abweichung des Beginns der Entwicklung von
einer Norm in Sinne einer Verspätung bzw. Verlangsamung der Geschwindigkeit eines Entwicklungsverlaufs gegenüber einer Norm;

 Vorpubertät: Auftreten einiger sekundärer Geschlechts-
merkmale; Schweißabsonderung verstärkt sich;
bei Jungen wachsen Testikel und Penis rascher;
bei Mädchen entwicklen sich die Brüste;

Literaturverzeichnis

 NICKEL, H. (1975). Entwicklungspsychologie des Kindes- und
Jugendalters. Schulkind und Jugendlicher. Stuttgart/
Wien/Bern: Huber.

 SCHENK-DANZINGER, L. (1988). Entwicklungspsychologie. Wien:
Österreichischer Bundesverlag.

 OERTER, R. & MONTADA, L. (1982). Entwicklungspsychologie. Ein
Lehrbuch. München/Wien/Baltimore: Urban & Schwarzenberg.

 DE WIT, J. & VAN DER VEER, G. (1982). Psychologie des Jugendalters. Donauwörth: Auer.

 ROCHEBLAVE-SPENL>>, A.-M. (1972). Der Jugendliche und seine
Welt. Freiburg: Lambertus Verlag.

 BIERMANN, G. (1978). Kinder und Jugendliche. Entwicklung -
Entwicklungsstörungen. Psychohygienische Konsequenzen.
Stuttgart: Hippokrates-Verlag.

 KLEBER, W. (1974). Abriß der Entwicklungspsychologie. Weinheim/
Basel: Beltz Verlag.

Übersicht

 1. Einleitung
2. Phasen der Entwicklung
3. Die körperliche Entwicklung
4. Die geschlechtliche Reifung
5. Einfluß der Umweltbedingungen
6. Die Gehirnreifung
7. Das Phänomen der Akzeleration

 Phasen der Entwicklung
Pubertät vom lateinischen pubes = Körper- oder Schamhaare
3 Phasen:- Vorpubertät
- Pubertät
- Nachpubertät (Adoleszenz)

 Auswirkungen der Kraftsteigerung:
- erhöhtes Bewegungsbedürfnis
- gesteigerte Aggressivität
- Freude an Sinneseindrücken
- Abenteuerlust und Unfugbereitschaft

 Wechselspiel der Hormone
endokrin = innere
endokrine Drüsen: - Hypophyse
- Schilddrüse
- Nebennieren
- Bauchspeicheldrüse
- Keimdrüsen

Reihenfolge der pubertären Veränderung
Für das Mädchen:
- Entwicklung der Brüste
- Auftreten der pigmentierten, glatten Schamhaare
- Alter des größten Wachstums
- Auftreten der gekräuselten Schamhaare
- erste Menstruation (Menarche)
- Wachstum der Achselhaare
Für den Jungen:
- Wachstumsbeginn der Hoden
- Auftreten der Schamhaare
- erste Veränderung der Stimme
- erste Ejakulation
- gekräuselte Schamhaare
- Alter des größten Wachstums
- Achselhaare
- deutliche Stimmveränderung
- Bartwuchs

 Einfluß von
Umweltbedingungen
- ernährungsbedingte Faktoren
- soziokulturelle Faktoren
- klimatische Faktoren


© Gstettner Manuela & Gottenhuber Maria 1996