Es gibt vor allem bei Anfängern - aber auch bei Fortgeschrittenen - immer wieder Fehler beim wissenschaftlichen Arbeiten mit Literatur, die vermieden werden sollten.
*) Diese Zusammenstellung ist die
Adaptation eines Textes von Sönke Hundt:
http://didaktik.cs.uni-potsdam.de/Lehre/WissArbeitenHinweise/Hundt.htm
(01-01-22)
Betrachte den Text eher wie einen Tatort im Krimi; hier hat jemand etwas angerichtet, das er gegenüber seiner Umwelt nicht ohne weiteres zugestehen kann. Reicht es in jedem Fall, nach Motiven und Sinngebungen zu forschen? Sind überall Zwecke und Absichten verborgen? Nichts ist selbstverständlich, Mißverständnis und Täuschung sind normal und oft gewollt, alles kann auch ganz anders gedeutet werden, als es auf den ersten Blick erscheint. Mißtraue jeder Vermutung. Suche überall. Das sicherste Versteck ist die Oberfläche... (Jürgen Frese in: Wie lese ich einen theoretischen Text?)
Es gibt sie wirklich: Texte, die man einfach nicht versteht, und
zwar nicht weil man zu müde ist, oder vom beschriebenen
Sachverhalt keine Ahnung hat. Nein, der Text selbst verschließt
sich dem Verstehen. Der Sinn bleibt vage, Vorstellungen vom
verhandelten Gegenstand wollen sich nicht einstellen. Und wenn die
Konzentration nachläßt (manchmal mitten in einem Satz)
muß man bei einem erneuten Anlauf meist ganz von vorn beginnen.
Das ganze Unternehmen ist mühselig und anstrengend. Leider kann
man während einer solchen Erfahrung nicht beurteilen, ob der
Text, mit dem man sich gerade abquält, die Mühe lohnt. Denn
einerseits gibt es natürlich auch gedruckten Bluff, andererseits
finden gerade die interessantesten Debatten der eigenen Wissenschaft
in theoretischen, und das heißt oft schwer verstehbaren Texten
statt. Um unterscheiden zu können, womit man es gerade zu tun
hat, müßte man den Text bereits verstanden haben. Was also
tun? Das wichtigste ist, dem Text gegenüber die Oberhand zu
behalten:
Nicht der Text schafft dich. Sondern du willst den Text schaffen. Wie
es manchmal auch bei handwerklichen Tätigkeiten vorkommt,
steckst du fest, kommst mit dem vorhandenen Werkzeug und der
eingeplanten Zeit nicht weiter. D. h. du mußt entscheiden, ob
du aufgibst, weil der Aufwand zu hoch ist ( " so wichtig ist dieser
Aufsatz nun auch wieder nicht " ). Oder ob du die Sache hinbekommen
willst. Wenn du den Text knacken willst, mußt du neu planen
(mehr Zeit investieren) und dir das notwendige Handwerkszeug
besorgen:
Lektüre-Vorbereitung
Trage zusammen, was du vom Autor und vom Text weißt (gelesen bzw. gehört hast oder aus dem Tonfall, mit dem man in der Uni darüber spricht. Notiere es! Kläre, zu welcher Fachdisziplin, akademischen Schule, historischen Zeit der Text gehört. Daraus kannst du ableiten, mit welchem Fachvokabular du rechnen mußt, welche Sorte von Anspielungen vorkommt und aus welchem Lebensbereich Beispiele stammen bzw. hilfreich sind. Besorge dir gegebenenfalls ein entsprechendes Fachwörterbuch, sieh im Lexikon nach, ob du etwas über Autor oder Thema findest, und überlege, ob du jemanden kennst, der/die sich besser auskennt als du und im Zweifelsfall gefragt werden kann. Notiere am besten in Form von Fragen, was du bei der Lektüre des Textes herausbekommen möchtest: Was willst du klären? Was willst du mit dem Text machen? Welche Fragen soll der Text beantworten?
Erste Lektüre
Lege einen Textabschnitt fest, an dem du deine Möglichkeiten erproben willst. Lies nie ohne vorherige Zeit-Begrenzung. Für die meisten Theorie-Text-Leser sind 90 Minuten Lektüre eine leistbare Spanne. Markiere größere Sinn-Abschnitte, deren Bearbeitung in 1/2 Stunden abgeschlossen sein soll. Je nach Geübtheit und Schwierigkeitsgrad des Textes kann der Umfang dieser Abschnitte zwischen 1/2 und 10 Seiten schwanken. Ermittle deine eigene Norm. Nimm dir nach 90 Minuten Lektüre irgend etwas anderes vor. Setze mit einem neuen Anlauf erst nach einer größeren Pause oder am nächsten Tag ein.
Lies einen Teilabschnitt einmal ganz durch, möglichst ohne
länger zu unterbrechen; laß ruhig einzelne Punkte im
dunkeln und versuche nur, herauszubekommen, worum es "im ganzen" grob
hier geht.
Hebe dabei wichtig Erscheinendes durch Unterstreichungen hervor.
Benutze eventuell für verschiedene Gesichtspunkte verschiedene
Farben (nicht mehr als drei). Unterstreiche sparsamst!
Leg dir ein "Vokabelheft" an (evtl. in Karteikarten-Format)! Schreibe heraus (jeweils ein Stichwort auf eine Seite/Blatt):
Sieh den Text nach Definitionen durch, die die Bedeutung eines
Ausdrucks zu erläutern versuchen (Hilfe: Gliederung,
Sachregister). Schlag in Wörterbüchern, Fachlexika,
historischen Darstellungen nach!
Frag, wenn gerade verfügbar, andere Leute (Kommilitonen,
Lehrende), ob sie dir mit ihrem Wissen bei der Klärung helfen
können.
Trage die gefundenen Ergebnisse in dein "Vokabelheft" ein. Überprüfe die Erläuterungen, indem du sie anstelle des Stichworts in den Text einsetzt. Falls nötig, grenze die Bedeutung ein oder erweitere sie (notiere dies im "Vokabelheft" ). Manchmal muß man ganze Sätze in die eigene Sprache übersetzen, um hinter den Sinn zu kommen.
Versuche, den Text in kleinere, überschaubare Sinneinheiten
aufzugliedern unter der Fragestellung: wann fängt ein neuer
Gedanke an?, wann wird ein neuer Aspekt des Themas behandelt?
(Hilfen: Absätze, formale Gegenüberstellungen, numerierte
Aufzählungen). Notiere die Grenzen solcher Sinneinheiten im Text
selbst!
Suche nach kurzen und treffenden Überschriften für diese
Sinneinheiten.
Schreib die so ermittelte innere Gliederung heraus. Versuche dabei die Überschriften so auszuformulieren, daß ein Bild vom Gedankengang und seinen Schwerpunkten entsteht.
Untersuche nun in den einzelnen Sinneinheiten:
Ein sehr wichtiger Punkt: Formuliere die These mit eigenen Worten und notiere diese "Übersetzung".
Suche selbst passende Erläuterungen und Begründungen, wenn im Text keine oder nur unzureichende gegeben sind.
Nun die Systematisierung: Nach der Untersuchung der einzelnen Sinneinheiten vergleiche die notierten Thesen:
Siehst du eine Möglichkeit, die Thesen, Argumente und Begriffe in ein ordnendes Modell (Schema, System) zu bringen? Zeichne es auf. Experimentiere mit verschiedenen Schemata.
Zweite Lektüre
Wenn du dir den Text auf diese Weise zugänglich gemacht hast, ist - nach einer Pause - oft eine zweite Lektüre erforderlich, die es ermöglicht, das Aufgenommene zu verarbeiten und kritische Distanz zu gewinnen. Ziel dieser Phase ist die kritische Prüfung des Textes auf in ihm formulierte (oder implizit vorausgesetzte) Antworten zu der eigenen Problemfrage.
Aus der ersten Lektüre besitzt du eine ausführliche
Gliederung mit stichpunktartigen Übersetzungen der
Hauptabschnitte. Wiederhole das Erarbeitete anhand dieser Gliederung
(Rekapitulation).
Nimm die zu Beginn an den Text formulierten Fragen hinzu. Mit ihnen
läßt sich nun klar unterscheiden, welche Textpassagen
für die weitere Beschäftigung wichtig und welche weniger
bedeutend sind.
Lies die für deine Zwecke herausgehobenen Abschnitte jetzt noch
einmal sehr gründlich und stelle ein Exzerpt her.
Bilanz
Der Text ist nun unter einem ersten Aneignungsinteresse (Problemfrage) "erschlossen" . Jetzt ist fällig, zu fragen, was der Text effektiv gebracht hat.
Zuerst die Minusbilanz
Jetzt zu den positiven "Erträgen"
Setze Prioritäten.
Diese letzte Teilprüfung wird umso wichtiger und folgenreicher je mehr du schon gelesen hast. Im Falle vernünftigen und glücklichen Umgangs mit dem Text steht am Schluß eine komplizierte Vernetzung zwischen diesem Text, anderen Texten und den eigenen Orientierungsinteressen.
Dein Bild von der Welt und von den Beziehungen zwischen anderen Bildern von der Welt ist komplizierter (reicher) und kritischer (unterscheidungsfähiger) geworden.
Quelle:
http://www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Einrichtungen/ZSB/studientechniken11.html
(02-03-04)
©opyright Werner
Stangl, Linz 2001.
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