Das Interview

Claudia Fronhoff


1 Einleitung

Das Wort Interview stammt ursprünglich vom französischen "entrevue" ab und kann mit "verabredete Zusammenkunft", "einander kurz sehen" oder "sich begegnen" übersetzt werden. Nach Deutschland kam das "Interview" aus dem Anglo-Amerikanischen Sprachraum Anfang dieses Jahrhunderts und hat sich vorwiegend im Journalismus, aber auch in den Sozialwissenschaften als empirisches Verfahren der Datenerhebung durchgesetzt.

Das Interview ist im allgemeinen eine bewußt und gezielt herbeigeführte Gesprächssituation, die durch eine Asymmetrie gekennzeichnet ist. Dies bedeutet der Interviewer stellt die Fragen, der Befragte antwortet und hat keine Gelegenheit Gegenfragen zu äußern. In der qualitativen Sozialforschung wird das Interview als "ein planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung, bei dem die Versuchsperson durch eine Reihe gezielter Fragen oder mitgeteilter Stimuli zu verbalen Informationen veranlaßt werden soll" gesehen. Prinzipiell lassen sich beim Interview drei verschiedene Vorgehensweisen unterscheiden:

1.1 Das standardisierte Interview

Diese Vorgehensweise wird meist im Endstadium einer Untersuchung eingesetzt, in denen die quantitative Messung relevanter Sachverhalte angezielt ist. Charakteristisch für das standardisierte Interview ist, daß die Formulierung der Fragen, ihre Reihenfolge, sowie die Antwortmöglichkeiten und das Interviewerverhalten genau festgelegt sind. Durch die Standardisierung wird eine Bedeutungsäquivalenz der Interviews geschaffen, die es ermöglicht, die Daten miteinander zu vergleichen. Besonders deutlich tritt bei standardisierten Befragungen die asymmetrische Kommunikationsstruktur hervor, die den Interviewer dazu zwingt, z. B. auf Nachfragen des Befragten nicht einzugehen, sondern mit der gleichen vorgegebenen Frage zu antworten. Der Grund hierfür ist, den Interviewten nicht suggestiv zu beeinflussen. Diese Form des Interviews ist sehr asymmetrisch und damit in seiner äußeren Form am weitesten von einem Alltagsgespräch entfernt.

Vorteilhaft bei dieser Vorgehensweise ist, daß durch die starke Strukturierung der Gespräche viele Daten innerhalb kürzester Zeit erhoben werden können, und diese dann auch miteinander vergleichbar sind. Dem Vorteil steht gegenüber, daß durch die auch schon festgelegten Antworten eventuell wichtige Zusatzinformationen verloren gehen, und es dem Interview an Tiefe fehlt.

1.2 Das halbstandardisierte Interview

Diese Form des Interviews dient vor allem der Exploration von Sachverhalten oder der Ermittlung von Bezugssystemen des Interviewten am Anfang einer Untersuchung. Bei dieser Vorgehensweise gibt es nur mehr einen Fragenkatalog bzw. Gesprächsleitfaden, der eine Struktur in das Gespräch bringen soll. An vorher festgelegten Stellen ist es dem Interviewer erlaubt, den Wortlaut der Fragen zu verändern, Zusatzfragen zu stellen, oder Nachzuhaken wenn etwas nicht verstanden wurde.

Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist darin zu sehen, daß dem Interviewten mehr Raum für eigene Formulierungen gegeben wird. Daher geht das halbstandardisierte Interview mehr in die Tiefe als das standardisierte, und es darf auch vom vorgegebenen Gesprächsleitfaden abgewichen werden. Nachteilig ist die sich daraus ergebende eingeschränkteVergleichbarkeit der einzelnen Interviews, da sie nicht mehr standardisiert sind.

1.3 Das unstrukturierte Interview

Die unstrukturierte Befragung zielt darauf ab, sehr in die Breite und die Tiefe zu gehen, daher wird sie auch als Tiefen- oder Intensivinterview bezeichnet. Dabei steht dem Interviewer methodisch - wenn überhaupt - nur mehr ein Gesprächsleitfaden zur Verfügung, in dem das Interviewziel, einige Themengruppen und eventuell ad hoc formulierte Fragen festgehalten sind. Es ist meist ein sehr freier aber dennoch gesteuerter Gesprächsverlauf, daher ähnelt seine Form am ehesten einem Alltagsgespräch.

Vorteilhaft bei dieser Vorgehensweise ist, daß viele Informationen und Detailwissen gewonnen werden kann. Dadurch sind die hinter den Aussagen stehenden Bedeutungsstrukturierungen des Interviewten klar erkennbar. Nachteilig ist, daß die in verschiedenen Intensivinterviews gewonnenen Daten nicht standardisierbar sind, und sie sich daher auch nicht vergleichen lassen.

Für die qualitative empirische Sozialforschung wird als Erhebungsmethode vorwiegend die Vorgehensweise des halbstandardisierten bzw. unstrukturierten Interviews auf der Basis eines Gesprächsleitfadens gewählt. Das sich daraus ergebende qualitative Interview gibt es in einer solchen Fülle von Modifikationen, das sich keine einheitliche Definition finden läßt. Daher wird in dieser Arbeit, nach der Vorstellung der nötigen Prämissen für qualitative Interviews, ein Überblick über nur einige ausgewählte qualitative Befragungsarten gegeben. Für all diese Befragungen gilt, daß die dabei aufgezeichneten Informationen unverzerrt authentisch, intersubjektiv nachvollziehbar und beliebig reproduzierbar sind, was z. B. bei Informationen aus teilnehmenden Beobachtungen nicht der Fall ist. Besonders der mögliche Vergleich des aufgezeichneten Interviews mit den daraus gezogenen Interpretationen verleihen dem qualitativen Interview einen hohen methodischen und methodologischen Status. In diesem Zusammenhang ist es jedoch auch wichtig, sich die Kritik anzusehen, die an einzelnen Befragungsarten geübt wird.

2 Prämissen für das qualitative Interview

Zunächst werden einige - für alle qualitativen Interviewarten geltenden - methodisch-technische sowie methodologische Aspekte vorgestellt.

2.1 Methodisch-technische Aspekte

Um eine möglichst natürliche Sitation herzustellen und authentische Informationen zu erhalten, finden qualitative Befragungen im alltäglichen Milieu des Befragten statt. Dabei sind die Fragen nicht-standardisiert, d. h. die Fragen werden in ihrer Reihenfolgen und ihren Formulierungen nicht vorab schon festgelegt. Daraus ergibt sich für den Interviewer ein gewisser Gestaltungsspielraum während des Gesprächs. Der Befrager sollte sich auch um eine Vertrauensverhältnis zum Interviewten bemühen, das am ehesten erreicht wird, wenn ein gemeinsamer Bekannter als Vermittler eingesetzt wird. Dann ist die Basis für eine vertrauliche bzw. freundschaftlich-kollegiale Atmosphäre während des Gesprächs zwischen Interviewer und Befragtem geschaffen. Bei qualitativen Interviews ist nicht eine große Anzahl durchgeführter Gespräche entscheidend. Wichtiger ist, einige typische Fälle systematisch auszuwählen, die die theoretischen Konzepte des Forschers bestätigen (theoretical sampling). Ein weiteres methodisch-technisches Charakteristikum von qualitativen Befragungen ist, daß es keine geschlossenen Fragen gibt. Das bedeutet, keine Frage kann nur mit "ja" oder "nein" vom zu Befragenden beantwortet werden. In allen Fällen wird vom Befragten somit Verbalisierungs- und Artikulationsvermögen verlangt. Beim Interviewer wird eine höhere Kompetenz als bei standardisierten Befragungen vorausgesetzt. Nur entsprechende Ausbildung und Erfahrung geben dem Interviewer die nötige Kompetenz für die Durchführung von qualitativen Interviews. Damit die vielen, während des Interviews gewonnenen Informationen nicht verloren gehen sind Aufzeichnungsgeräte, wie z. B. Tonband oder Video ein sehr wichtiges Hilfsmittel. Im Gesprächsablauf ähnelt ein qualitatives Interview mehr einem Alltagsgespräch, und dauert daher in der Regel auch länger als eine quantitative bzw. standardisierte Befragung.

2.2 Methodologische Kriterien

Zunächst gilt das Prinzip der Reflexivität von Gegenstand und Analyse, das heißt, daß sich der Gesprächsinhalt und die anschließende Interpretation aufeinander beziehen sollen. Des weiteren wird stets versucht das Prinzip des Alltagsgesprächs zu verwirklichen. Auch gilt für den Forscher das Prinzip der Zurückhaltung. Somit kommt der Befragte zu Wort, und ist nicht nur reiner Datenlieferant, sondern bestimmt als Subjekt das Gespräch sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht. Auch sollte immer das Prinzip der Relevanzsysteme der Betroffenen beachtet werden. Das bedeutet, daß nicht die Interessen des Forschers, sondern der Befragte mit seinen Wirklichkeitsdefinitionen das Interview gestalten. Ein weiteres Prinzip ist das der Kommunikativität, das besagt, daß der Interviewer sich dem Kommunikationsstil des zu Befragenden anzupassen hat. Ebenso gilt in jedem qualitativen Interview das Prinzip der Offenheit, so daß während das Gesprächs auch auf unerwartete Aspekte eingegangen werden darf. Dem gerade genannten Prinzip der Offenheit ist das folgende der Flexibilität sehr ähnlich. Es gibt dem Forscher vor, auf individuelle Bedürfnisse des zu Befragenden einzugehen, sofern diese einen Gewinn für das Forschungsergebnis darstellen. Der Prozeßcharakters eines qualitativen Interviews macht es möglich, schrittweise zu den, hinter den Aussagen stehenden, Handlungs- und Deutungsmustern der Befragten zu gelangen. Daher ist die Prozeßhaftigkeit ein weiteres zu beachtendens Prinzip. Mit qualitativen Interviews werden eher neue Theorien aufgestellt, als bestehende geprüft. Daraus ergibt sich das Prinzip der datenbasierten Theorie. Das letzte Prinzip ist das der Explikation. Es besagt, daß die im Interview gemachten Aussagen interpretiert werden müssen, und so zur Typenbildung der Theorie beitragen. Das verleiht dem qualitativen Interview Explikationscharakter.

Wenn die genannten methodisch-technischen und methodologischen Kriterien in qualitativen Interviews nicht beachtet werden, kann der hohe Status derselben auch nicht aufrecht erhalten werden. Es ist für die Forscher bzw. Interviewer wichtig, sich dieser Aspekte immer bewußt zu sein.

3 Überblick über verschiedene qualitative Interviewarten

3.1 Fokussierte Interviews

Entstanden ist diese Form des qualitativen Interviews im Zusammenhang mit der Kommunikationsforschung und Propagandaanalyse. Solche Studien wurden erstmals in den vierziger Jahren von Robert Merton, Patricia Kendall u.a. durchgeführt. Das Charakteristische an diesen Interviews ist die Fokussierung auf einen im vorhinein bestimmten Gesprächsgegenstand oder -anreiz. Dies kann beispielsweise ein Film, den der Befragte gesehen oder ein soziale Situation, die er durchlebt hat. Im anschließenden fokussierten Interview werden dann, auf der Basis eines Gesprächsleitfadens, die Reaktionen und Interpretationen des Befragten bezüglich des zuvor festgelegten Focus in relativ offener Form festgehalten. Besonders hervorzuheben ist, daß in fokussierten Interviews den Befragten die Chance gegeben werden soll, sich frei und auch zu nicht-antizipierten Aspekten zu äußern. So werden z. B. assoziative Stellungnahmen der Befragten zum Gesprächsgegenstand berücksichtigt. Ursprünglich wurden fokussierte Interviews in Gruppendiskussionen durchgeführt. Mittlerweile werden sie aber auch auf der Basis von Einzelinterviews durchgeführt. Dabei dienen z. B. auch Aufzeichnungen zum Tagesablauf oder komplexere persönliche Dokumente als Gesprächsanreiz. Eingesetzt werden fokussierte Interviews heute auch in der Unterrichtsforschung.

3.2 Problemzentrierte Interviews

Gegenüber dem fokussierten Interview steht bei problemzentrierten Befragungen noch mehr das Erzählprinzip im Vordergrund. Methodisch wird daher mit einem sehr knappen, der thematischen Orientierung dienendem Leitfaden gearbeitet. Dabei ist der Interviewer nur bedingt an diesen gebunden, und dem Befragten werden somit sehr große Chancen zur freien Artikulation eingeräumt. Auch soll der Befragte dadurch zu freien Erzählungen angeregt werden. Die Bedeutungsstrukturierung des Problembereiches erfolgt allein durch den Befragten. Sollte sich dabei herausstellen, daß das vom Forscher in das Interview eingebrachte theoretische Konzept der sozialen Realität nicht entspricht, wird es entsprechend modifiziert und revidiert.

Das problemzentrierte Interview wird daher in drei Phasen ausgewertet. In der ersten Phase erfolgt die "methodologische Kommentierung". Dabei analysiert der Interviewer, ob der Befragte vorwiegend argumentativ, beschreibend oder erzählend geantwortet hat. Des weiteren werden die Aufzeichnungen daraufhin geprüft, ob der Interviewte z. B. für die Situation untypische Verhaltensweisen oder Ausdrücke verwendet hat. In der zweiten Phase erfolgt dann von verschiedenen Personen, individuell und unabhängig voneinander, eine "kontrollierte Interpretation". Das kann von Mitgliedern des Forschungsteams oder auch von Außenstehenden gemacht werden. Anschließend werden die Einzelinterpretationen in der Gruppe diskutiert. Da das problemzentrierte Interview meist zusammen mit anderen Erhebungsmethoden (z. B. biographische Methode, Gruppendiskussion, Inhaltsanalyse) Klarheit über das Problem bringen soll, ist es wichtig, am Ende der zweiten Phase, die Ergebnisse aus den einzelnen Methoden aufeinander abzustimmen. In der dritten und letzten Phase der Auswertung von problemzentrierten Interviews wird eine "vergleichende Systematisierung" vorgenommen. Durch einen systematischen Vergleich der Interpretationen sollen typische Varianten herausgefiltert werden, die auf kollektive Handlungsmuster schließen lassen.

3.3 Narrative Interviews

Das narrative Interview kommt dem Alltagsgespräch am nähesten, da es in seiner Ausgestaltung sehr wenig strukturelle Vorgaben hat. Diese Form des qualitativen Interviews wurde von F. Schütze in einer Studie über kommunale Machtstrukturen Ende der siebziger Jahre entwickelt. Das narrative Interview besteht vorwiegend aus einer Stegreiferzählung des Befragten, das sehr oft bei lebensgeschichtlichen Fragestellungen eingesetzt wird. Dabei wird es durch eine "erzählgenerierende Frage" seitens des Interviewers wie folgt eingeleitet: " Ich möchte Sie bitten, mir zu erzählen, wie sich die Geschichte Ihres Lebens zugetragen hat. Am besten beginnen Sie mit der Geburt, mit dem kleinen Kind, das Sie einmal waren, und erzählen dann all das, was sich so nach und nach zugetragen hat, bis zum heutigen Tag. Sie können sich dabei ruhig Zeit nehmen, auch für Einzelheiten, denn für mich ist alles interessant, was Ihnen wichtig ist."

Im Gesprächsverlauf verhält sich der Interviewer daher anregend und zurückhaltend zugleich, um den zu Befragenden einerseits zur Erzählung zu bringen, und andererseits ihn in seinem Redefluß nicht zu hemmen. Dadurch lassen sich Orientierungsmuster, an denen der Interviewte sein Handeln ausrichtet, am ehesten erkennen. Diese Muster sind zugleich retrospektive Interpretationen der Handlungen, und dadurch ergibt sich - wie beim problemzentrierten Interview - eine Bedeutungsstrukturierung durch den Interviewten. Da der Interviewer kein theoretisches Konzept in das Gespräch mit einbringt, ergibt sich dieses erst durch die Äußerungen des Befragten. Diese Form des qualitativen Interviews findet vor allem als autobiographisch-narratives Interview in der Biographie- und Lebenslaufforschung Anwendung.

3.4 Diskursive Interviews

Entwickelt hat sich das diskursive Interview in der Tradition der Aktionsforschung und der handlungstheoretisch orientierten Psychologie. Dabei werden in dieser Form des qualitativen Interviews die Befragten als Theoretiker und Experten ihrer selbst, ihrer Geschichte und ihrer Eigenheiten angesprochen. Das Ziel dieser Interviews ist es, Deutungen oder Sachverhaltsdarstellungen durch Kommunikation zwischen Interviewer und Befragten zu validieren. Dies setzt einen vorhergehenden Gesprächskontakt zwischen diesen zwei Partnern voraus, wobei die gewonnenen Sachverhalte und Deutungen auf ihre Stichhaltigkeit hin diskursiv überprüft werden sollen. Diese Vorgehensweise findet sich auch bereits in anderen Formen des qualitativen Interviews, wie z. B. in halbstandardisierten Befragungen. Immer dann, wenn dort der Interviewer nachfrägt, ob er den Sachverhalt richtig verstanden hätte, begibt er sich auch in einen diskursiven Sachverhalt.

In diesem Zusammenhang wird kritisiert, daß die Konfrontation des Befragten mit Deutungen ihn an seine psychischen und sozialen Grenzen bringt. Dies ist dann der Fall, wenn z. B. die Deutung des Befragers als tiefe Kränkung empfunden wird. Da Interviewer in der Regel keine therapeutische Hilfe anbieten können, sollten sie es unterlassen den Interviewpartner in eine Lage zu bringen, in der dieser psychotherapeutischer Hilfe bedarf.

4 Kritische Aspekte bei der Durchführung qualitativer Interviews

Nun werden einige problematische oder umstrittene Aspekte qualitativer Interviews angeführt. Dies sind zunächst theoretisch-inhaltliche Gesichtspunkte bei der Planung und Durchführung qualitativer Interviews. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die qualitativen Interviews in der Sozialforschung besonders eng mit den Ansätzen der verstehenden Soziologie verbunden sind. Den beiden Disziplinen kommt es darauf an, Situationsdeutungen in offener Form zu erfragen, oder auch Fragen nach Handlungsmotiven, Alltagstheorien oder Selbstinterpretationen zu erforschen. Besonders durch die verschiedenen Formen des qualitativen Interviews hat man die Möglichkeit handlungstheoretische Konzeptionen in empirische Untersuchungen umzusetzen. Mit Verweis auf die Prinzipien der Offenheit und Kommunikation wird gefordert den jeweiligen Konzepten die Chance zu geben "von sich aus in Erscheinung zu treten". Das Prinzip der Offenheit fordert dabei, die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückzustellen, bis sich seine Strukturierung durch die Forschungssubjekte selbst herausgebildet hat. Hier besteht natürlich die Gefahr, sich vor und auch während der Forschungssituation zu wenig Gedanken über die Strukturierung bzw. Hypothesenbildung zu machen, da diese sich ja mehr oder weniger durch den Befragten selbst ergeben soll. So entsteht vor allem für narrative oder halbstandardisierte Interviews die Kritik mit zu geringem theoretischen bzw. methodischem Aufwand zu arbeiten. Doch ist das qualitative Interview mit all seinen Modifikationen wohl am besten geeignet für die Hypothesen- und Theorieneubildung, da es wichtige Informationen liefert. Geht es um deskriptiv-explorierende Forschung oder Theorieprüfungen sollten andere qualitative Forschungsmethoden bevorzugt werden.

Problematisch ist es auch in den qualitativen Interviews eine für Interviewer und Befragten gemeinsame Sprachebene zu finden, da mit zunehmendem Wissen der Sprachforschung die Schichtgebundenheit der Sprache immer deutlicher wird. So ist in der Oberschicht der Intellektualitätsgrad der Befragten weitaus größer als in der Unterschicht, das heißt sie ist kritischer und wehrt sich eventuell gegen vorformulierte Antworten. Bei der unteren Unterschicht kann es sein, daß es Probleme der Nichtinformiertheit oder der mangelnden Ausdrucksfähigkeit gibt. Alle Formen der Befragung sind daher an einer Mittelschicht-Orientierung ausgerichtet, worunter die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse letztendlich leiden kann.

Für welche Vorgehensweise bzw. Befragungsform sich ein Forscher entscheidet, ist daher immer einzelfallabhängig und kann auch durch die oben dargestellte Kritik nicht pauschalisiert werden. 

Literaturverzeichnis

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Quelle: http://www.ku-eichstaett.de/docs/PPF/FGPaed/arbeiten/fronh2.htm (99-11-01)