Schönheit und Gewalt, Verlust und Schmerz – pointierte Erzählungen zu großen Themen. Jeder Text ein Schicksal.
Lesen heißt hier Nach- und Mitempfinden im wahrsten Wortsinne. Verblüfft, entsetzt, mitgenommen und/oder gefangen zu sein auch von dem, was uns allen zumindest hätte passiert sein können, und vielen, viel zu vielen, passiert ist und weiterhin passiert.
Besprechung
Die titelgebende Erzählung „Ich habe gesehen“ beschäftigt sich
thematisch eher mit „Ich habe gehört“, denn es geht in dieser um eine
Bratschistin, die nach einem Auftritt in der Londoner Albert Hall in
eine Gliederstarre verfällt, die eine Fortsetzung ihrer Karriere nicht
mehr möglich erscheinen lässt. Die Autorin bedient sich dabei einer
spannungsgeladenen Erzählform, die die LeserInnen lange im Unklaren
darüber lässt, worum es sich bei diesem Text überhaupt handelt.
Allmählich enthüllt sich die Tragik der Protagonistin, die in ihrem
Leben mit aller Gewalt - auch sich selbst gegenüber - etwas erreichen
wollte, was eigentlich jenseits ihrer Möglichkeiten lag. Doch in einem
Augenblick, eben bei jenem Konzert in der Albert Hall, hatte sie ihr
Lebensziel, dem sie alles untergeordnet hatte, erreicht. Und dieses Ziel
markiert zugleich ein Ende, das nicht tragischer sein könnte.
Die zweite Erzählung „Such mich nicht – ich bin in deinem Kopf“ ist eher
ein Kammerspiel, in dem die beiden Protagonisten eine Art virtuellen
Kleinkrieg betreiben. Tamara, eine gelernte Masseuse, die danach Jus
studiert hat, und Frederic, ein Designer, arbeiten sich an ihrer lange
zurückliegenden Beziehung ab, aus der sich ein verspäteter Rosenkrieg
entwickelt, den keiner der beiden gewinnen kann. Vielmehr verzetteln sie
sich in Nebensächlichkeiten, die die Ursachen ihres Konfliktes immer
mehr in den Hintergrund treten lassen. Beiden wird dabei klar, dass sie
für jede weitere Beschäftigung mit der Causa den Preis selber bezahlen
müssen, sodass das ursprüngliche angestrebte Ziel, sich am anderen zu
rächen, in einem resignierenden weil unbeantwortbaren „Wozu?“ mündet.
„So habe ich es nicht gewollt“ ist der Titel des dritten Textes. Dieser
erzählt stringent aus der Perspektive einer Frau die von ihr angestrebte
Ehe, der ein Sohn entspringt, schließlich aber an einem Geheimnis des
Mannes zerbricht, wobei dieses Geheimnis weitgehend unaufgeklärt bleibt
bzw. sich als mögliche Kopfgeburt der Beteiligten erweist.
„Warum hast du es nicht gleich gesagt“ ist der Versuch, die
Sprachlosigkeit eines in ihrer Kindheit missbrauchten vierzehnjährigen
Mädchens im Dialog mit einer helfen wollenden aber letztlich hilflosen
Umwelt darzustellen. Das gelingt in einigen Passagen mit beklemmender
Intensität, auch wenn manches für ein Mädchen dieses Alters ein wenig zu
reflektiert klingt.
Die drei letzten Texte sind formal keine Erzählungen, wohl auch keine
Kurzgeschichten, sondern eher scherenschnittartige Episoden. „Scham“
thematisiert abermals einen Missbrauch, in diesem Fall einer jungen
Tänzerin durch ihre Trainerin, wobei die titelgebende Emotion ein wenig
Hoffnung auf eine erfolgreiche Bewältigung gibt. „Heuer kommt der Sommer
nicht“ ist der Versuch, der Sprach- und Hilflosigkeit angesichts einer
Totgeburt in einer daran zerbrechenden Beziehung aus der Sicht der
Ehepartner Ausdruck zu verleihen. Entlang der unterschiedlichen und
letztlich untauglichen Bewältigungsversuche der beiden wird die
Unvorstellbarkeit eines solchen Ereignisses sichtbar.„Sag nicht, wohin
du gehst“ schließlich ist die aus der Sicht des Sohnes geschilderte
Freitodbegleitung einer 88-jährigen Frau in die Schweiz, die nach der
anfänglichen hochemotionalen Betroffenheit in eine äußerst nüchterne
Beschreibung der Abläufe mündet. Auch nach diesem kurzen Text bleibt man
als Leserin bzw. Leser angesichts einer konkreten Unvorstellbarkeit
einer solchen Episode ratlos zurück.
Den vier echten Erzählungen gemeinsam ist das Scheitern an großen
Träumen, die retrospektiv betrachtet von Beginn an dazu verurteilt
waren, Illusionen zu bleiben. Es geht dabei immer auch um Beziehungen,
wobei manche Protagonisten solche mit der mehr oder minder
eingestandenen Hoffnung eingehen, dass diese die mit den Träumen
verbundenen und verdrängten Probleme lösen könnten. Oft spielen
generationelle Verstrickungen aus der Herkunftsfamilie eine Rolle, aber
auch eine Art von Kontrollzwang, das Leben, sich und die anderen in den
Griff zu bekommen.
Viele Protagonisten zeichnet dabei eine Sprachlosigkeit aus, die
sinnbildlich für deren Unfähigkeit zur „wahren“ Liebe steht. Der Autorin
gelingt es dabei, dieser Sprachlosigkeit Worte zu geben, die bei der
Lektüre berühren und betroffen machen.
Irritierend ist dabei, dass die Erzählungen so wenig Hoffnung zulassen,
die man sich für manche handelnden Personen so sehr wünschen würde. Man
möchte der Autorin am Ende der Erzählungen zurufen, dass das Leben für
die ProtagonistInnen wenn schon kein Happy End so doch wenigstens eine
Versöhnung bereithalten möge.
W.S.
[Ein Video des Österreichischen Schriftsteller/innenverbandes]