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Zeitschrift für erziehungswissenschaftliche Forschung 1987, 21, 27-34.
1. FragestellungenZur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten bei Jugendlichen werden in den meisten Fällen Interviews oder Befragungen von Eltern durchgeführt, seltener werden Lehrerurteile oder andere Fremdbeobachtungen herangezogen.
Noch seltener kommen Beobachtungen in natürlicher oder strukturierter Umgebung zum Einsatz (vgl. BUTOLLO, MEYERPLATH & WINKLER, 1978, S. 3080 ff. ).
Der Versuch von Validierungen der Urteile an Urteilen anderer Auskunftspersonen wurde nur in wenigen Fällen unternommen, wobei die Übereinstimmung der Urteile recht gering war (BUTOLLO et al. 1978, S. 3083 f. ). Auch schwanken die Angaben hinsichtlich der Auftretenshäufigkeit von bestimmten Auffälligkeiten zwischen den verschiedenen Beurteilergruppen stark (vgl. z. B. JÄGER/KUHN 1980, die einen Vergleich von Lehrer- und Psychologenangaben durchführten).
In einer eigenen Untersuchung (BERGMANN, EDER, KAINZ & STANGL, 1980) ließ sich belegen, wie gering oft die Übereinstimmung zwischen Beobachtern desselben sozialen Sachverhaltes sein kann, wenn sie unterschiedliche Standpunkte zum Untersuchungsgegenstand haben.
In der hier vorgestellten Untersuchung soll geprüft werden, wie hoch die Übereinstimmung bei der Wahrnehmung von Verhaltensauffälligkeiten ist. Dabei geht es um den Sonderfall der Übereinstimmung von Selbst- und Fremdwahrnehmung. In keiner mir bekannten Untersuchung über Verhaltensauffälligkeiten wurde der "Symptomträger" als Auskunftsperson direkt herangezogen.
Wegen des explorativen Charakters der Untersuchung und da keine systematischen Arbeiten zu diesem Themenkreis vorliegen, unterbleibt die Formulierung expliziter Hypothesen. Folgende Fragestellungen sollen überprüft werden:
II. MethodeDie hier referierten Ergebnisse wurden aus einer Stichprobe von Linzer Hauptschülern der 3. und 4. Klasse (7. und 8. Schulstufe) gewonnen, wobei 98 Fragebögen zu 49 Untersuchungseinheiten (Schüler und Eltern) in die Auswertung aufgenommen wurden.
Die schriftliche Befragung wurde während einer Unterrichtsstunde durchgeführt. An diese Schüler wurde ein Elternfragebogen mit einem Begleitschreiben der Schule ausgeteilt, wobei ein Elternteil (oder beide Elternteile) gebeten wurden, den ausgefüllten Fragebogen in einem Kuvert innerhalb von drei Tagen zurückzusenden. Die Rücklaufquote betrug 92% - diese deckt sich mit der in einer ähnlichen Untersuchung, bei der dasselbe Verfahren angewendet worden war (BERGMANN et al., 1980).
Das Durchschnittsalter der Schüler betrug 14,1 Jahre, das der Eltern 40,3 Jahre. Die Geschlechter der Schülerstichprobe waren verteilt: 27 männliche und 22 weibliche Befragte. Durch einen Zahlencode war die Zuordnung der Elternfragebögen zu den Schüerfragebögen bei Wahrung der Anonymität möglich.
Da bei der vorliegenden Untersuchung nur ein Teilbereich des komplexen Gebietes Verhaltensauffälligkeiten überprüft werden konnte, wurden aus der Symptomliste von GRAEFE (1956) 50 Verhaltensweisen, die als Indikatoren für Störungen angesehen wurden, operationalisiert.
Den Eltern wurde eine Auswahl von 28 komplementär formulierten Items vorgelegt. So entsprach z. B. dem Item "Ich habe oft Kopfweh" im die Formulierung "Mein Kind hat oft Kopfweh" im Elternfragebogen. Bei jedem Item standen drei Abstufungen des Ausmaßes zur Verfügung: trifft zu - trifft manchmal zu - trifft nicht zu. Dabei wurde betont, daß nur Beobachtungen während des laufenden Schuljahres angegeben werden dürfen.
III. ErgebnisseIn Tabelle 1 sind die Auffälligkeiten zusammengestellt, die zumindest von 10% der Jugendlichen als zutreffend angekreuzt worden sind. Im Durchschnitt sind die zustimmenden Angaben der Eltern geringer als die Selbstbeurteilungen. Das Ausmaß der Störungen verteilt sich auf alle von GRAEFE benannten Hauptbereiche (Funktionsstörungen innerhalb der Körpersphäre, Störungen der Ich-Gefühle und Grundstimmung, soziale Störungen, Störungen im Tätigkeits- und Leistungsbereich) gleichmäßig. Die "sanfte" Formulierung der Items hat sicherlich die Zustimmung begünstigt, daher wurden nur die Extremzustimmungen ("trifft zu") berücksichtigt.
Tabelle 1: Zustimmende Antworten von Schülern und Eltern bei Verhaltensauffälligkeiten, die nach der Schülerangabe zu mindestens 10% auftreten (Prozentangaben der Häufigkeit der Antwortalternative "trifft zu"); -- bedeutet, daß das Item den Eltern nicht vorgelegt worden war.
Verhaltensauffälligkeit (Formulierung im Schülerfragebogen)
Schüler
Eltern
Mir gefällt es, wenn die anderen über meine Späße lachen.
61
--
In der Freizeit träume ich oft vor mich hin.
47
22
In bestimmten Situationen ist Lügen am besten.
47
-
Wenn ich die Aufgaben mache, denke ich oft an andere Sachen.
46
32
Mir rutschen oft Schimpfwörter heraus.
45
22
Wenn auf mich Druck ausgeübt wird, dann fällt mir alles noch schwerer.
43
--
Beim Zubettgehen gehen mir so viele Gedanken durch den Kopf, daß ich nicht einschlafen kann.
41
--
Schwindeln gehört zur Schule.
39
22
Ich weiß in meiner Freizeit oft nicht, was ich anfangen soll.
39
22
Ich mache manchmal Sachen, die mir nachher leid tun.
35
4
Es kommt vor, daß ich beim Erzählen ein bißchen übertreibe.
33
11
Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich etwas schlampig mache.
33
__
Ich bin fröhlich und weiß nicht warum.
33
11
Am Abend liege ich im Bett und kann nicht einschlafen.
31
18
Wenn mir jemand einen Boxer gibt, haue ich doppelt zurück.
31
--
Es gibt manchmal Situationen, in denen meine Hände feucht werden.
30
--
Es kommt vor, daß ich nichts essen mag.
29
16
Auch in meiner Freizeit fällt es mir schwer, mich auf eine Sache zu konzentrieren.
29
--
Ich brauche einen gewissen Druck, damit ich etwas tue.
27
31
Ich schiebe Aufgaben auf, weil ich fürchte, es nicht zu schaffen.
27
18
Manchmal fühle ich mich einsam, auch wenn ich mit anderen beisammen bin.
25
--
Ich habe Angst, daß ich ausgelacht werde, wenn ich in der Schule etwas sage.
25
--
Ich habe oft Kopfweh.
22
11
Ich mache mir zuviel Sorgen.
22
13
Mir fällt es schwer in der Klasse vor allen Kindern zu reden.
20
--
Ich bin wütend, daß ich mich manchmal nicht beherrschen kann.
19
11
Ich habe sehr oft Angst, daß ich nicht das Richtige tue.
19
7
Manchmal habe ich starkes Herzklopfen.
16
2
Zuweilen ist mir zumute, daß ich weinen möchte.
16
--
Während der Nacht wache ich auf.
16
11
Ich habe oft Bauchweh.
16
7
Ich bemerke oft ein unwillkürliches Zucken des Kopfes oder des Gesichts oder der Augen.
15
--
Ich bin traurig und weiß nicht warum.
14
2
Es kommt vor, daß ich immer etwas essen will.
14
9
Ich rede nicht gern mit Leuten, die ich nicht kenne.
13
16
Oft fühle ich mich ganz allein, wenn ich mit Kameraden zusammen bin.
12
--
Ich fühle mich ohne Grund oft schlecht.
12
4
Ich fühle mich stark.
10
0
Ich habe Verstopfung.
10
2
In Tabelle 2 sind nur jene Auffälligkeiten aufgenommen, die beiden Stichproben vorgelegt worden waren. Die Übereinstimmung im Urteil liegt zwischen 52% und 77%. Da keine vergleichbaren Untersuchungen zu dieser Fragestellung vorliegen, kann nur schwer beurteilt werden, ob diese Prozentsätze als hoch oder niedrig bezeichnet werden können. Eigene Untersuchungen über die Wahrnehmungskonkordanz zwischen Eltern und Kindergartentanten (STANGL 1983) erbrachten eine durchschnittliche Übereinstimmung von 79%, so daß der hier gefundene Prozentsatz von 64% niedriger liegt. Allerdings fiel in dieser Untersuchung die Betroffenheit des einen Beurteilers weg. Auffälligkeiten im Bereich des Ichgefühls und der Grundstimmung weisen eher geringe Konkordanzprozentsätze auf. Bis auf eine Ausnahme sind die Selbsteinschätzungen der Jugendlichen für die Wahrnehmungsdiskrepanz verantwortlich. Besonders deutlich ist dieser Unterschied im Bereich von Schlaf- und Eßgewohnheiten und im Bereich der Störungen des Ichgefühls und der Grundstimmung (Ängstlichkeit, Angst vor Versagen).
Tabelle 2: Reihung der Verhaltensauffälligkeiten nach dem Grad der Nichtübereinstimmung (Zusammenfassung der ganzen und teilweisen Zustimmungen!) - Angaben in Prozent
Verhaltensauffälligkeit Eltern, Eltern, Kind Eltern
(gekürzt)
Kind & Eltern
JA
Kind & Eltern NEIN
Kind JA & Eltern NEIN
Kind NEIN & Eltern JA
Angst, nicht das Richtige zu tun
27
25
41
7
traurig ohne Grund
14
39
36
11
fühle mich krank
9
46
32
14
fröhlich ohne Grund
43
14
39
5
starkes Herzklopfen
11
46
41
2
nicht beherrschen können
32
25
32
11
schlecht fühlen ohne Grund
23
36
27
14
übertreiben, angeben
56
5
30
9
Tagträumen
52
9
30
9
Sachen tun, die nachher leid tun
52
9
36
2
ungewollte Grimassen
11
52
23
14
nicht einschlafen können
57
7
34
2
nächtliches Aufwachen
36
Z7
25
11
nichts essen wollen
58
7
35
0
nicht mit Fremden reden
33
33
19
16
brauche gewissen Druck
54
12
12
23
das Gegenteil tun
11
55
18
16
mit Freizeit nichts anfangen können
59
7
27
7
Aufgaben aufschieben
34
32
32
2
Durchfall
16
51
19
14
Bauchweh
36
32
23
9
viele Sorgen sich machen
30
39
25
7
Angst vor Fremden
14
57
16
14
Angst ohne Grund
9
64
16
11
immer essen wollen
30
43
18
9
Schimpfwörter gebrauchen
71
2
27
0
Verstopfung
5
72
21
2
Kopfweh
47
26
23
5
DiskussionDie vorliegende Untersuchung gibt einen Hinweis darauf, daß bei der Einschätzung von Verhaltensstörungen Jugendlicher die Position des Beurteilers für die Qualität und Quantität des Untersuchungsergebnisses von großer Bedeutung ist.
Die bei der Quantifizierung von Verhaltensauffälligkeiten vorausgesetzte Prämisse, daß auf dem Wege einer Befragung valide und reliable Aussagen Über Art und Ausmaß von Störungen möglich sind, müßte systematisch überprüft werden. Einige Ursachen für die hier belegten Wahrnehmungediskrepanzen seinen kurz benannt:
1. Sichtbarkeit bzw. Wahrnehmbarkeit der Störung durch den Beurteiler (Kontakthäufigkeit);2. unterschiedliche Normensysteme der Beurteiler (soziale Position, Erfahrung, Beteiligung);
3. Schwierigkeit der Kommunikation über Auffälligkeiten.
Wenn man davon ausgeht, daß mit der Diagnose der Verhaltensauffälligkeit oft Maßnahmen (z. B. Therapien, Zuweisungen zu bestimmten Schultypen) eingeleitet werden, die für den Beurteilten weitreichende Konsequenzen haben, so ist von einer Diagnostik zu fordern, die Bedingungen und Fehlerquellen des Diagnoseprozesses kritisch zu überprüfen. Bei jeder Form der Diagnose muß dem Diagnostiker bewußt sein, daß sein Urteil nicht nur Aussagen über den Beurteilten, sondern auch Aussagen über ihn selber (Kompetenz, subjektive Normen) und über eine oft hypothetische Vergleichsgruppe enthält. Bei der Entwicklung eines Modells des Diagnoseprozesses müßten diese Gesichtspunkte berücksichtigt werden.
LiteraturangabenBERGMANN, C., EDER, F., KAINZ, R. & STANGL, W., Schüler-Eltern-Lehrer: Die Schule aus der Sicht der Betroffenen. Jahresbericht des BG3 Linz. Linz 1980, 9-35.
BITTNER, G. & THALMANN, H. C.: Über die Verbreitung psychischer Störungen bei Kindern im Grundschulalter. Z. f. Päd., 16. Jg., 1970, Nr. 1, 83-98.
BUTOLLO, W.H.L., MEYER-PLATH, S. & WINKLER, B.: Bedingungen der Entwicklung von Verhaltensstörungen. In L. J. PONGRATZ (Hg. ): Klinische Psychologie. Handbuch der Psychologie Bd. 8,Z. Göttingen 1978, 3074-3101.
GRAEFE, O.: Zur Klassifikation kindlicher Verhaltensstörungen, Psychologische Rundschau, 7, 1956, 1-9.
JÄGER, R.S. & KUHN, R.: Ergebnisse aus einer Voruntersuchung zum Projekt "Lern- und Verhaltensstörungen (LVS)". In: Mitteilungen und Nachrichten des Deutschen Institutes für Internationale Pädagogische Forschung Nr. 98/99. Frankfurt am Main: Juni 1980, 73-81.
KLUGE, K. J.: Verhaltensauffälligkeiten in Grundschulen. Heilpädagogische Forschung, 1974/1975, Bd. 5, 1-36.
SCHULTHEIS, J. R.: Entwicklung und Vorkommenshäufigkeit von Leitbegriffen in der Verhaltensgestörtenpädagogik. Heilpädagogische Forschung, 1974/1975, Bd. 5., 69-94.
STANGL, W.: Urteilskonkordanz hinsichtlich Verhaltensstörungen bei 3- bis 6-Jährigen. Unveröffentlichtes Manuskript. Linz 1983.
THALMANN, H. C.: Verhaltensstörungen bei Kindern im Grundschulalter, Stuttgart 1971.
Auch als pdf-Datei:
Selbst- und Fremdwahrnehmung von Verhaltensauffälligkeiten bei 13- und 14jährigen. (pdf, 16kb)
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