SIEB.10/Prosa

:4711

Werner Stangl

SONNENSTREIFEN AM BAHNSTEIG 9

Hommage für Marcel P.

VIERZIG Minuten zu früh woher die Angst kommt, den Zug zu versäumen?
eine Runde um den Bahnhof

DREISSIG MinutenBahnsteig 9 -
noch leer die Wintersonne wirft einen schmalen Streifen auf die Bahnsteigkante
Du folgst dem Streifen und gehst von einem Ende zum andernden Bahnsteig in seiner vollen Länge auskosten, in der Länge für internationale Züge
Hauptbahnhof- Hauptbahnhof?
auf einem andern Bahnsteig fährt ein Zug ein, Türen schlagen, Stimmen, Schritte
Dir fallt die Stille auf die Stille zwischen den Zügen die Stille zwischen den Zügen fällt wieder zwischen die Bahnsteige
Stille im Kontrast der lärmenden Züge, zwischen Ankunft und Abfahrt oder Abfahrt und Ankunft
Hauptbahnhof?
das Fragezeichen fällt Dir wieder ein
Bahnhöfe entwickeln Persönlichkeit, Nuancen, Eigenleben
Du bist am Ende des Sonnenstreifens angelangt, am Ende des Bahnsteigs und Du gehst den Weg zurück im Sonnenstreifen
die Stille fällt Dir wieder ein aus einem der Züge auf einem der Nebengleise bist Du am Hauptgleis? fallt der Mittelpunkt der Welt in Deinen Standpunkt?
sonst hast Du doch nie Zeit für solche Gedanken es waren die Stimmen der Züge auf einem Nebengleis
akzeptieren wir den Egoismus des Standpunkts
Stimmen von Gastarbeitern, eine Tür wird aufgestoßen und ein Besen kehrt den internationalen Staub oder auch den nationalen Staub eines Lokalzugs in den Zwischenraum der Gleise
plötzlich der Geruch von WCs und Abteilen auf einmal siehst Du den Staub und den öligen Schmutz zwischen den Schwellen und den rostbraunen Schienen, die nur an der Oberfläche glänzen, poliert von den täglichen Rädern die Zigarettenstummel von Wartenden und Erwartenden
Du ordnest Dich einer Kategorie zu dieses Mal
und Du zündest Dir eine Zigarette an Du erreichst das andere Ende des Bahnsteigs 9

noch FÜNFZEHN Minuten
und jetzt bist Du einer von fünf oder sieben, die mit Dir warten hinter Dir ein Summen und Rollen, Du drehst Dich erschrocken um ein Paketwagen
Du willst ausweichen, aber wie immer gehst Du auf die verkehrte Seite
Du wirfst dem Bahnbediensteten ein entschuldigendes Lächeln zu keine Angst, sagt er und dreht an der Stelle um, an der Du eben noch gestanden bist

ZEHN Minuten noch
Du siehst und hörst die Bewegung des Zeigers der Bahnsteigsuhr
Du erlebst die Zeit bewußterin Minutensprüngen läuft die Zeit auf den Bahnsteigen nicht kontinuierlich, in sechzig Rucken die Stunde vierundzwanzig mal sechzig mal am Tag zwischen Ankunft und Abfahrt genauso schnell wie zwischen Abfahrt und Ankunft
geht sich noch eine Tour zwischen Ende und Ende des Bahnsteigs 9 aus?
Zugsführer müssen die Enden wohl als Anfange erleben
sie haben eine andere Perspektive ein Mann mit einem gelben Helm überquert die betreten-verbotenen Gleisanlagen
warum ein Helm? glaubt er, daß Züge von oben kommen?
daß der Helm die Gleise zu betreten-erlaubten macht?
Dir fallt das Defizit der Bundesbahnen ein, die Privilegien, die Einsparungsmaßnahmen
Deine Schritte werden langsamerjetzt nimmst Du die Wartenden wahr -
ein Mädchen mit einer großen Reisetasche erst jetzt fällt Dir auf, daß Du ihr bei Deiner Sonnenstreifenpromenade ausgewichen bist eine Frau stürmt die Stiege zum Bahnsteig herauf
sie stellt einen roten Koffer selbstbewußt ab und hält ihr schiurlaubsrotes Gesicht in die Sonnen
- die Augen sind für die Tageszeit und das Alter zu stark geschminkt-
sie ist ein Hindernis für Dich,
Du mußt den Sonnenstreifen verlassen -
und stolperst über den Mann im Kamelhaarmantel
mit dem blauen Ordner und der Zeitschrift
in der Hand-
irgendwie fehlt ihm der Aktenkoffer -
und da ist das nächste Klischee:
der junge Mann im Hubertusmantel und grauem Filzhut -
dann hast Du endlich wieder Deinen Sonnenstreifen
am Bahnsteigrand für Dich allein-
der dreifache Gong der Durchsage Deines Zuges
inzwischen hast Du Dich an den Besitzanspruch
an der Welt gewöhnt -
keine Verspätung- fahrt Gleis neun ein-
bitte zurücktreten-
Du suchst eine Ausgangsposition und Deinen Partner
unter den Wartenden aus -
wirst Du wieder stumm im Abteil sitzen und
Deine vorsorglich kontaktvermeidende Zeitung hervorholen?
Bücher sind doch nur zum Renommieren -
das Mädchen, das Du für Dich und Dein Abteil
aussuchst, ist bestimmt Nichtraucherin -
und die schwatzhafte alte Dame und der nach Schweiß riechende Arbeiter -
um diese Zeit fahren keine alten Damen
und keine nach Schweiß riechenden Arbeiter -
eben - und Du gibst Deine Hoffnungen und Ängste auf -
der Zufall in Deiner Zugswelt
wird Dein Partner sein
und Du trittst zurück -
der Zug rollt langsamer werdend herein -
während Du die Stufen hinaufkletterst
und Dich fragst,
warum in Zugsabteilen immer eine solche
Zugsabteilkontaktvermeidung herrscht -
wahrscheinlich stimmt die Kontaktnähe nicht, die Distanz-

Du entdeckst das Raucherzeichen auf dem Abteilfenster es ist leer,
Dein Abteil aber hinter Dir drängt sich ein jüngerer, dicker Herr herein
er wird Dich bitten, mit ihm Platz zu tauschen,
damit er besser sein Nickerchen halten kann und während Du das Gedicht schreibst,
mußt Du immer wieder auf den zwischen den Hemdknöpfen hervorquellenden Bauch Deines Gegenübers starren
Gedankenstriche -
Gedankenblicke zwei Stunden schweigen

HUNDERTZWANZIG MINUTEN.


Siehe dazu Ingo Mack: Schattenzone im Nirgendwo


Veröffentlicht in:
facetten ’83. Literarisches Jahrbuch. Wien, Jugend & Volk.

 

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