Döring, Nicola (1999).
Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des
Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale
Beziehungen und Gruppen
(Internet und Psychologie - Neue Medien in der Psychologie, Band
2)
Göttingen: Hogrefe.
ISBN 3-8017-1255-9
516 Seiten.
Daher tritt die Kontroverse zwischen Befürwortern und Kritikern besonders deutlich zutage im Hinblick auf psychologische und soziale Folgen für die NutzerInnen. Im einführenden Kapitel schreibt dazu die Autorin: "Es ist weder sinnvoll, das Internet und andere Computernetze vorschnell hochzujubeln, noch sie aus vermeintlich "kritischer Distanz" als Unglückstechnologien zu entlarven. Wie so häufig wird auch beim Thema Vernetzung ein tieferes Verständnis nicht ohne sorgfältige Beobachtung, ohne Geduld für Details und Nuancen und ohne eine differenzierte, theoriegeleitete Auseinandersetzung zu haben sein. Dabei können die Sozialwissenschaften, v.a. die Sozialpsychologie, eine Schlüsselrolle einnehmen. Denn wenn wir das Internet nutzen, beschäftigen wir uns nicht primär mit "Computern" oder mit "Informationen", sondern widmen uns in erster Linie der zwischenmenschlichen Kommunikation und Interaktion. Wie diese Kommunikationsprozesse im Internet ablaufen und welche psychosozialen Konsequenzen sie nach sich ziehen, wird oft sehr vage, ausschnitthaft und einseitig behandelt".
Vier zentrale Fragestellungen werden im Hinblick auf die Kommunikation im Internet behandelt:
- Wie verlaufen interpersonale Kommunikationsprozesse, welche Besonderheiten weisen sie gegenüber persönlicher, telefonischer oder brieflicher Kommunikation auf?
- Wie verändern sich bestehende Identitäten und wie entwickeln sich neue Identitäten?
- Wie verändern sich bestehende soziale Beziehungen und wie entwickeln sich neue soziale Beziehungen?
- Wie verändern sich bestehende soziale Gruppen und wie entwickeln sich neue soziale Gruppen?
Die Autorin des Buches, die offensichtlich über eine profunde Kenntnis des Internets auch aus eigener Erfahrung verfügt, gibt neben einem kurzen Rückblick in seine Geschichte eine Beschreibung der unterschiedlichen Varianten zeitversetzter und zeitgleicher zwischenmenschlicher Kommunikation, wobei die sozialen Gebrauchsweisen im Vordergrund stehen und nicht so sehr die dafür notwendige Technik. Ausführlich wird auf die Methoden der Forschung computervermittelter Kommunikation eingegangen, die anhand eigener und fremder Forschung demonstriert werden.
Kernpunkt der Analyse der Kommunikation im net sind zehn theoretische Modelle, die Determinanten, Merkmale und Konsequenzen der Internet-Kommunikation behandeln. Diese CvK(Computervermittelte Kommunikation)-Modelle werden in ein medienökologisches Rahmenmodell integriert, das die unterschiedliche Formen der Netzkommunikation nicht isoliert betrachtet, sondern in ihren Wechselwirkungen mit anderen medialen und nicht-medialen Kommunikationsprozessen abbildet. Kurzfristige und langfristige Effekte in der Kommunikation werden im Hinblick auf soziale Folgen analysiert:
- Wie lassen sich bestehende Identitäten im Netz darstellen und unter welchen Bedingungen entstehen im Zuge der Netznutzung neue Identitäten?
- Welchen Einfluss haben Netznutzung oder Netzabstinenz auf herkömmliche soziale Beziehungen und wie lernen sich Menschen im Netz erstmals kennen?
- Wie greift computervermittelte Kommunikation in die Strukturen und Prozesse etablierter Gruppen ein und wie können sich räumlich verstreute Personen im Internet zu neuen Gruppen und Gemeinschaften zusammenfinden?
Diese Fragen werden mittels der gängigen sozialpsychologischen Identitäts-, Beziehungs- und Gruppentheorien strukturiert und auf der Basis publizierter Befunde sowie eigener Interview-Studien und Fragebogen-Untersuchungen mit ersten Antworten versehen. Umfangreiche teilnehmende und nicht-teilnehmende Feldbeobachtungen deutsch- und englischsprachiger Mailinglisten, Newsgroups, WWW-Sites, Chat-Channels und MUDs sowie diverser netzbezogener "Real-Life"-Szenarien, sowie Feldgespräche und Materialsammlungen bilden die Basis für eine kritische Würdigung und Gliederung der Einzelbefunde.
Hervorzuheben sind neben der Zusammenfassung und Analyse bisheriger Forschungen zum Internet auch die in diesem Werk eröffneten Zukunftsperspektiven zu diesem Forschungsfeld. Unter diesem Gesichtspunkt wird mit dem vorliegenden Buch ein Standardwerk vorgelegt, das für den deutschsprachigen Raum richtungsweisend sein wird. Es ist aufgrund des sorgfältigen Glossars auch als Nachschlagwerk zu nutzen.
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit können gängige Hypothesen des öffentlichen Internet-Diskurses (z.B. "Netznutzer flüchten sich in Schein-Identitäten", "Netz-Beziehungen sind oberflächliche Pseudo-Beziehungen", "Virtuelle Gemeinschaften fördern den Zerfall realer Gemeinschaften") theoretisch und empirisch präzisieren und kontextspezifisch teilweise bestätigen, oft aber auch widerlegen. Obwohl die berichteten Forschungsergebnisse in der Regel neueren und neuesten Datums sind, kann man bereits die Richtigkeit mancher Prognosen an der Realität überprüfen. Der Einfluß des Internet auf alle übrigen sozialen Lebensbereiche ist in den letzten Jahren so massiv gewachsen, daß deren Erforschung zu den vordringlichen Arbeitsfeldern der Psychologie des nächsten Jahrzehnts zu zählen ist. (W.S.)