Hartmann, Dirk:
Transdisziplinäre Reflexionen.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998.
ISBN 3-534-13887-27.
Auf dem Hintergrund des Methodischen Kulturalismus versucht der Autor eine philosophische Rekonstruktion der Psychologie. Diese relativ junge philosophische Denkrichtung ist aus dem methodischen Konstruktivismus entstanden und beabsichtigt "in stürmischer See durch die philosophische Meerenge hindurchzusegeln, an deren Seiten die Skylla des Naturalismus und die Charybdis des Kulturrelativismus lauern" (S. 3).
Der Standpunkt des Methodischen Kulturalismus ist dem des Radikalen Konstruktivismus (Stangl 1989) verwandt, der in seiner Rekonstruktion der Psychologie ebenfalls die Teilnehmerperspektive betont, allerdings diese weniger unter einem sozialen sondern eher unter einem individualen Aspekt betrachtet. Die Wirklichkeit des Methodischen Kulturalismus ist aber ebenfalls kommunikativ und praxisbezogen, Wahrheit entsteht im Gelingen oder Scheitern von Handlungen.
Nach einer etwas knappen Einführung in die Wissenschaftsphilosophie des Methodischen Kulturalismus entwirft Hartmann die Grundlagen einer Wissenschaftstheorie der Psychologie, wobei er konsequenterweise von den Praxisfeldern psychologischen Handelns ausgeht.
Den weitaus umfangreichsten Teil des Buches umfaßt eine detaillierte De- und Rekonstruktion von Grundbegriffen der allgemeinen Psychologie, wobei eine Dreiteilung in Grundlagen (Verhalten, biologische Grundtermini, Lernformen, Handeln), kognitive (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Vorstellung, Gedächtnis) und emotive Psychologie (Emotion, Motivation) vorgenommen wird.
Hier finden sich für den psychologisch versierten Leser "alte Bekannte" in Form von zahlreichen klassischen Theorien, wobei es dem Autor in vielen Fällen gelingt, durchaus neue und auch ExpertInnen überraschende Perspektiven auf scheinbar Vertrautes zu öffnen. Die Auswahl der zur Rekonstruktion gewählten Ansätze ist aber an manchen Stellen etwas willkürlich, wobei größere theoretische Konzepte wie die Psychoanalyse oder Lerntheorie beinahe gleichwertig neben eher schwachbrüstige sozialpsychologische "Hypotheschen" (z.B. das Cocktailparty-Problem) gestellt werden.
Den Abschluß der Arbeit bildet eine "Neuauflage" der Diskussion des Leib-Seele-Problems, die nach einer Zusammenfassung bisheriger Klärungsversuche durch analytischen Behaviorismus, Identitätstheorie, eliminativen Materialismus, Funktionalismus und neuerdings durch Supervenienz- und Emergenztheorien in dem vom Autor vertretenen Kulturalismus weitergeführt werden, wobei ein zweiter und ein dritter naturalistischer Fehlschluß für die bisherigen "Fehlversuche" verantwortlich gemacht werden: es werde in bisherigen Ansätzen nach einer unzulässigen ontologische Gleichsetzung von lebensweltlichen und theoretischen Gegenständen (2. Fehlschluß) letztlich ein Primat der theoretischen Gegenstände postuliert (3. Fehlschluß).
Die Forderung des Autors: Es ist jeder wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung eine kulturalistische Theorie vorwissenschaftlicher Erkenntnis voranzustellen (mündend in einer kulturalistischen Phänomenologie) und auch eine genaue Analyse der Laborpraxen innerhalb der Wissenschaften vorzunehmen (Protopsychologie). Insgesamt ist die vorliegende Arbeit daher ein Plädoyer für eine wohl auch in der psychologischen Ausbildung zu verankernde grundlegende philosophische Auseinandersetzung mit scheinbar Problem-losen Grundbegriffen und selbst-verständlichen Tatbeständen.
Kritisch hervorzuheben sind die an manchen Stellen etwas komplexen Sprachkonstruktionen, wobei das in vielen Fällen an der diskutierten Materie liegen mag. Erhellt werden die Ausführungen durch den subtilen Humor des Autors, der sich manchmal auch selbstironisch in persönlich gefärbten Gleichnissen entfaltet. Manche Ausführungen verlangen geradezu ihrerseits nach einer Rekonstruktion des Autors aus dem Text, die den LeserInnen durchaus Kurzweil bieten könnte.
Vermißt habe ich eine Auseinandersetzung mit der doch äußerst unterschiedlichen Verwendung einzelner Begriffe in den verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie, letztlich stört auch eine etwas zu sehr individualistische Perspektive auf die Psychologie (obwohl der kulturalistische Ansatz doch wohl eher eine Analyse der sozial vermittelten Begrifflichkeit nahelegt). Vermutlich war die Konzentration auf die Begriffe der allgemeine Psychologie für diese durchaus persönliche Anmutung verantwortlich.
Auch Querverbindungen zur Begriffsverwendung in anderen sozialwissenschaftlichen Richtungen (Soziologie, Pädagogik) fehlen, an manchen Stellen der Analyse findet nach meinem Empfinden eine "typisch wissenschaftliche" Verkomplizierung des doch eher Trivialen statt. Für diese Einschätzung kann allerdings die "Betriebskenntnis" des Rezensenten ausschlaggebend sein.
Die Strukturierung der Arbeit im Sinne einer leichten Unterscheidbarkeit von Darstellung psychologischer Forschung und philosophischer Diskussion könnte leserfreundlicher sein, das Stichwortverzeichnis ist - wie in den meisten psychologischen Publikationen - eher wenig brauchbar, da es sich weitgehend in einer Aneinanderreihung von Fachausdrücken mit einmaligem Bezug erschöpft.
Das Buch ist angesichts der aktuell sicherlich noch zu konstatierenden mangelhaften wissenschaftstheoretischen und grundlagenorientierten Durchdringung der Psychologie für alle FachkollegInnen zu empfehlen, wobei manche Erhellung durchaus das Selbstverständnis und die Naivität erschüttern könnte, mit der mancherorts wissenschaftliche Psychologie veranstaltet wird.
[Oliver Gassner -- http://www.carpe.com/buch/
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p@psych Linz 1999.
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