Was wird von
wissenschaftlichen Zeitschriften im Zeitalter vernetzter
elektronischer Kommunikation bleiben, wenn sie ihre Funktion
für die Wissenschaft weiterhin erfüllen wollen?
Gehen wir von einer Vision aus: Nichts als Gutachtergremien
zur Zertifizierung wissenschaftlicher
Qualität.
Zum Zweck der Verleihung von
Qualitätsausweisen wählen die Fachleute unter den
neuen Publikationen aus und halten dadurch Qualität
knapp.
- Funktion der Selektion
bzw. Komplexitätsreduktion
An diese dergestalt
markierten Beiträge wird die weitere wissenschaftliche
Arbeit im Regelfall &endash; im Normalbetrieb der
Wissenschaft &endash; anschließen.
- Herstellung von
Anschlußfähigkeit in der wissenschaftlichen
Kommunikation
Mit diesen beiden Funktionen
würden solche Gremien die entscheidenden, auch im
Zeitalter vernetzter elektronischer Kommunikation
verbleibenden Aufgaben wissenschaftlicher Zeitschriften
erfüllen:
- Eine
fachwissenschaftlich wertende Auswahl unter den neuen
Publikationen und damit Komplexitätsreduktion
angesichts der Überfülle von
Veröffentlichungen.
- Herstellung von
Anschlußfähigkeit im wissenschaftlichen
Diskurs durch Markierung ausgesuchter
Beiträge.
Das Zertifikat, das
wissenschaftliche Qualität beglaubigt, steuert die
Richtung der wissenschaftlichen Diskussion und Forschung. Es
gibt vor, welche Publikationen den Diskussions- oder
Forschungsstand repräsentieren. An sie hat die weitere
Arbeit anzuknüpfen, an ihnen hat sich der Fortschritt
zu bemessen.
Eine Reihe anderer
Eigenschaften wissenschaftlicher Zeitschriften wird
hinfällig. Und das sind genau diejenigen Eigenschaften,
worin die Zeitschrift als Publikationsform dem Druck
verpflichter war.
2.
Aktualität und Periodizität
Wissenschaftliche
Erkenntnisse haben einen Neuigkeitswert für die
"scientific community" und erfordern darum eine schnelle
Veröffentlichung.
Damit tut sich die
Druckkultur schwer. Denn die drucktechnische Herstellung
erfordert Zeit und erzeugt abgeschlossene Einheiten; das
Manuskript wird zu einem Druckwerk umgewandelt, das
nachträglich nicht mehr verändert werden kann. Zum
Zweck aktueller Information bildete sich unter diesen
Gegebenheiten das Prinzip der Periodizität aus. Die
Druckkultur macht Aktualität über
Periodizität operabel: Die mit gleichbleibender
Adresse (Titelei) versehenen gedruckten Einheiten &endash;
Zeitschrift, Zeitung &endash; folgen aufeinander in vorab
festgesetzten Zeitabständen.
Auf diese Weise entsteht
eine zeitlich strukturierte Erwartungserwartung: Man
weiß, was für eine Art Publikation (Rubriken,
Seiten, Tenor) wann neu herauskommt, aber eben nicht, was
für Texte darin stehen werden. Diese Problemlage wird
im Begriff des Programms zusammengefaßt. Als
Elemente eines Programms können gelten:
- die Trennung von
Publikationsform (Rubriken und inhaltliche Ausrichtung
des periodischen Erzeugnisses) und Einzeltext sowie die
daraus folgende
- Trennung von stabilem
Rahmen und je neuer Füllung.
Das Programm ist das
Dauerhafte, für Aktualität sorgen die jeweils
neuen Texte. Als Ordnungsraster ist das Programm den
Einzeltexten hierarchisch übergeordnet, wie aus den
gleichbleibenden Überschriften der Rubriken oder Seiten
hervorgeht. Für die Zeitstruktur ist charakteristisch,
daß der Information, dem kommunikativen Ereignis,
jeweils ein informationsloser, also in diesem Sinne
ereignisloser Zustand folgt. Periodizität regelt das
Schema dieses Intervalls.
Programme werden heute von
vielen Medien genutzt &endash; Theater, Presse, Rundfunk,
Fernsehen usw. operieren mit jeweils unterschiedlichen
Programmen. Als Schematisierung von Erwartungserwartung
haben sich Programme kulturell tief eingewurzelt; sowohl
Produzenten wie Rezipienten gehen selbstverständlich
damit um.
Neben der
wird dabei oft
die
- Möglichkeit der
Bezugnahme,
d.h. der Bildung eines
Metatextes über einen Primärtext genutzt.
Prototypisch liegt dieses Muster in der >Nachricht<
und dem auf diese Nachricht bezogenen >Kommentar<
vor.
3.
Verstetigung von Aktualität und
Aufsplitterung der Periodizität in disperse
Eigenzeiten
Die Veränderungen in
der E-Kommunikation gehen auf ein grundlegend anderes
Verhältnis von Maschine und Produkt zurück. In der
Druckkultur wird das Produkt von der Maschine (Satz, Druck,
Bindung) fertiggestellt und ausgegeben; die Nutzung des
Produkts erfolgt unabhängig von der Maschine. In der
E-Kommunikation sind Maschine und Produkt nicht trennbar:
Jede Nutzung setzt die laufende Maschine voraus, die je
aktuell generiert, was auf dem Bildschirm erscheint. Auf
diese Tatsache gehen Interaktivität und
Prozeßcharakter allen elektronischen Publizierens
zurück (vgl. Termini wie "dynamische", "lebende",
"offene" Texte).
Auf Grund der gewandelten
technischen Grundlage der Kommunikation löst sich
Aktualität aus der Bindung an Periodizität;
Aktualität wird verstetigt. Dieser Vorgang hat
mehrere Aspekte:
- Technisch ist jederzeit
eine Aktualisierung des Textes oder ein Austausch des
einen Textes gegen einen anderen möglich. Darum
läßt sich eine Information (fast) zeitgleich
mit ihrem Erhalt oder ihrer Formulierung ins Netz
stellen. Realisiert wird dies z.B. dort, wo
Agenturmeldungen maschinell in die eigene Website
übernommen werden &endash; wie es in Portalen von
Suchmaschinen üblich ist.
- Im Unterschied zum
Printprodukt können in einem Ordnungsrahmen
elektronischer Produkte &endash; wie ihn ein Portal oder
ein Verzeichnis im Internet darstellen &endash;
unterschiedliche Eigenzeiten koexistieren. Wenn
Sportergebnisse anfallen, wird im Sportteil die Zeit
schneller fließen; wenn Wahlen anstehen, wird sich
die Eigenzeit der politischen Berichterstattung
beschleunigen ...
Stabil ist in einer Welt
elektronischer Kommunikation nur der Wandel; Zeiten des
Stillstandes &endash; eine ereignislose, weil
informationsleere Zeit &endash; gibt es nicht mehr. Aus der
Druckkultur und den audiovisuellen Massenmedien wird zwar
das Ordnungsschema des Programms ins Internet
übernommen, aber es löst sich von seiner Bindung
an Periodizität, d.h. an ein den Programmteilen
übergeordnetes zeitliches Schema.
Damit radikalisiert sich im
Internet eine Zeitstruktur, der die audiovisuellen Medien
mit ihrer schnellen Abfolge von Programmteilen &endash;
besonders von Nachrichten und Kommentaren &endash;
vorgearbeitet haben. Da aber Radio und Fernsehen an den
ganzheitlichen Zeitablauf der Sendung gebunden sind,
können sie die Einheit der Zeit nicht sprengen. Trotz
aller Beschleunigung bleibt ihr Programm somit der
Periodizität verhaftet.
Zu einer Aufsplitterung
der Periodizität in disperse Eigenzeiten kommt es
erst in der elektronischen Kommunikation.
4. Die
Auflösung der Publikationseinheiten
In der "Aufsplitterung der
Periodizität in disperse Eigenzeiten" zeigen sich zwei
Tendenzen, die der elektronischen Kommunikation aus Sicht
der Druckkultur inhärent sind:
- die Tendenz zur
Fragmentierung und
- die Tendenz zur
(Re)Kombination.
E-Kommunikation ist von Haus
aus auf Montage angelegt &endash; nicht nur in diesem Sinn
weisen die künstlerischen Avantgarden und moderne
Texttheorien (Vielstimmigkeit, Dezentrierung) auf die
elektronische Kommunikation voraus (das große Thema
von George P. Landow: Hypertext 2.0, erstmals
1992).
In positiver Sicht lassen
sich beide Tendenzen im Bild des Netzes zusammenfassen. Die
jeweiligen Einzelteile sind die Knoten oder Module, die
unterschiedlich miteinander verbunden werden können.
Die aktuellen Verbindungen werden durch Links oder
Indizierungen vorgegeben oder durch Suchmaschinen
hergestellt.
Als neue Textformen
entstehen auf dem Netz miteinander verlinkte Seiten, die
gemeinsam ein Problem bzw. einen Sachverhalt vorstellen
&endash; nach dem klassischen Muster des Victorian
Web &endash; oder
ein Konzept entwickeln &endash; wie in Tim Guays
WEB
Publishing Paradigms.
Auf jeder Seite wird ein Begriff unter Bezug auf verlinkte
Nachbarbegriffe auf anderen Seiten definiert. Auf diese
Weise entsteht ein polykontexturales Gebilde von aufeinander
verweisenden Begriffen; ein Set von Karten, die jeder Nutzer
neu mischt. Wo Hierarchien unter den Begriffen bestehen,
sind sie flach; die Unterscheidung nach Definition und
Kommentar verschleift sich.
5.
Konsequenzen
für die Publikationseinheit
>Zeitschrift<
Nehmen wir das Beispiel
einer wissenschaftlichen Print-Zeitschrift, die
vierteljährlich erscheint und die Rubriken Artikel und
Rezensionen hat. Gehen wir davon aus, daß sie auch in
einer elektronischen Volltextversion vertrieben und in einer
umfassenden Datenbank zusammen mit anderen fachlich
einschlägigen Zeitschriften angeboten wird. Diese
Datenbank soll über eine Suchmaschine verfügen.
Diese Situation ist in vielen (vor allem
naturwissenschaftlichen) Bereichen bereits gegeben. Gehen
wir von der Kommunikation auf dem Netz aus und sehen wir zu,
was geschehen wird.
Die Publikationseinheit
>Zeitschrift< wird sich zuerst auf Seiten des
Rezipienten, später auch auf Seiten des Produzenten
auflösen:
- Der Nutzer wird seine
ihn interessierenden Suchworte in die Suchmaschine
eingeben und eine Anzahl von Beiträgen aus
verschiedenen Organen angezeigt erhalten. Die
Suchmaschine negiert ebenso wie die ihr zugrunde liegende
Datenbank die nominelle Einheit einer Zeitschrift wie
auch die materielle Publikationseinheit. Aufbereitet,
gesucht und gefunden wird quer durch die Zeitschriften
und die Publikationseinheiten (Bände, Hefte,
Jahrgänge usw.).
Die bibliographische
Erschließung der Zeitschrifteninhalte ist der
Publikationseinheit >Zeitschrift< nicht mehr
zeitlich nachgeordnet. Vielmehr sind mit der
elektronischen Publikation auch die
Suchmöglichkeiten (Schlüsselworte in den
Metadaten; Volltextrecherche) gegeben.
- Wenn die Herstellung
(Redaktion, Verlag) die Möglichkeit der
Netzpublikation nutzt, wird sie die angenommenen und
redigierten Texte sofort ins Netz stellen und nicht
warten, bis eine Publikationseinheit &endash; der
nächste Band, das folgende Heft &endash;
fertiggestellt ist. Der Imperativ "online first"
trägt der Devise "time to market" Rechnung
(Börsenblatt 58 / 23. Juli 1999, S.10). Von
entscheidender Bedeutung ist das Publikationsdatum, d.h.
das Datum der Einstellung ins Netz, das jedem Artikel
individuell beigegeben wird. Die an Periodizität
gebundene Publikationseinheit >Zeitschrift<
löst sich also auch produktionsseitig auf.
Rein elektronische
Zeitschriften, die dieser neuen Situation Rechnung
tragen, verzichten auf die drucktechnisch bedingten
Publikationseinheiten. Doch kann eine zeitliche
Schematisierung &endash; z.B. jeden Monat ein neues Heft
&endash; der Herstellung von Aufmerksamkeit bzw. der
Ausbildung einer Erwartungshaltung auch im Netz dienlich
sein.
- Auch bibliographisch
löst sich die Publikationseinheit
>Zeitschrift< in ihre Beiträge auf. Durch den
1968 eingeführten "Digital Object Identifier (DOI)"
werden digitale Objekte identifizierbar &endash; und zwar
zeitlich überdauernd, unabhängig davon, auf
welchem Server die Datei liegt, und auch
medienübergreifend (bei einer zusätzlichen
Publikation im Druck oder auf CD-ROM). Beispielhaft geht
diesen Weg der wissenschaftliche Springer-Verlag mit
Link,
einer Datenbank mit etwa 500 Zeitschriften. An einer
ergänzenden Kennung (Uniform Resource Name, URN)
für nicht kommerziell vertriebene Produkte arbeiten
die Bibliotheken.
- Noch weiter gehen
verschiedene Arten der Verlinkung. Die Artikel in ein und
derselben Datenbank, die aufeinander Bezug nehmen, zu
verlinken, bietet sich an. Dies kann nach
rückwärts (Links zurück zu den
Beiträgen, auf die sich der betreffenden Artikel
bezieht) wie nach vorwärts (Links vorwärts zu
den Beiträgen, die sich auf den betreffenden Artikel
beziehen) geschehen. In beiden Fällen kommt es
darauf an, daß die Adresse (URL) stabil bleibt und
der Text nicht verändert wird. Meist ist dies bei
Adressen außerhalb der eigenen Datenbank nicht zu
gewährleisten.
Wohl aber durch
"reference-linking": "Zwölf wissenschaftliche
Verlage und Gesellschaften haben im November
[1999] eine Kooperation unterzeichnet, die eine
Vernetzung ihrer Online-Journale vorsieht. Damit wird
eine Verknüpfung von Literaturverweisen mit
entsprechenden Beiträgen in elektronischen
Publikationen ermöglicht." (Börsenblatt 98 /
10. Dezember 1999, S.10) Den Anfang machen etwa 3
Millionen Artikel, pro Jahr sollen mehr als eine halbe
Million weiterer Artikel folgen. Die Verlinkung
stützt sich auf den DOI-Standard, der sicherstellen
soll, daß Texte unverändert und langfristig
verfügbar bleiben.
6.
Zeitschrift und Datenbank
Werden somit Zeitschriften
von Datenbanken als Publikationsort neuer
Forschungsergebnisse abgelöst? Das große Vorbild
fachspezifischer Datenbanken ist das Los
Alamos Eprint Archive
&endash; eine Datenbank für Hochenergiephysik und
angrenzende Disziplinen, die über 25.000 Papers pro
Jahr erhält. An diesem Vorbild orientiert sich
beispielsweise CogPrints.
Cognitive Sciences Eprint
Archive für
Psychologie, Neurowissenschaft, Linguistik und andere
einschlägige Disziplinen. Neben solchen Datenbanken
verlieren Zeitschriften aber nicht notwendig ihre Funktion.
Vielmehr kommt es bislang meist zu einer
Funktionsteilung:
Archive dienen in erster
Linie der Kommunikation von fachlich noch nicht bewerteten
Preprints, mithin der schnellen und umstandslosen
Kommunikation von Forschungsergebnissen. Das "Los Alamos
Eprint Archive" ist aus einem Verteiler grauer Literatur
hervorgegangen, denn in der Physik konnte und wollte man
nicht auf den Druck der Forschungsergebnisse warten. Erst
die Zeitschrift aber ist das Sieb, das die Spreu vom Weizen
trennt. Die Aufnahme (häufig erst nach Umarbeitungen)
in ein renommiertes Organ sorgt für >Kredit< im
Fach, verleiht Reputation und befördert die Karriere.
Auch wünschen sich viele Wissenschaftler eine gedruckte
Version zum Vorzeigen und Verschenken (das Syndrom des
Sonderdrucks).
Möglicherweise ist
diese funktionale Allianz von Datenbank und Zeitschrift aber
nicht von Dauer. Wenn es gelingt, die Metadaten so
auszugestalten, daß Suchmaschinen die Beiträge zu
einem Fachgebiet erkennen und zusammenführen,
würden zentrale Datenbanken ihrer >raison
d'être< verlustig gehen. Fachlich
zusammengehörige Dateien könnten dezentral auf den
Rechnern lokaler Rechenzentren &endash; an der Hochschule
oder der Institution, an der der Wissenschaftler tätig
ist &endash; liegen. Die Zertifizierung durch ein
Gutachtergremium wäre nicht notwendiger Weise mit der
Aufnahme in eine bestimmte Datenbank und der Bereitstellung
auf einem bestimmten Server verbunden.
Von der Zeitschrift bliebe
nichts übrig &endash; als ihre zentrale Funktion
für die Wissenschaft: die Zertifizierung von
Qualität. Personell würde sich die Organisation
einer Zeitschrift auf ein Gutachtergremium reduzieren, das
aus dem Herausgebergremium (Herausgeber, Beirat) einer
traditionellen Zeitschrift hervorgehen, von einer
Fachgesellschaft ernannt oder von den Wissenschaftlern
(ähnlich wie die Fachgutachter der Deutschen
Forschungsgemeinschaft) gewählt werden
könnte.
Denn Wissenschaft ist
demokratisch darin &endash; und nur darin &endash;,
daß sie die wissenschaftliche Bewertung ihrer
Forschungsergebnisse selbst vollzieht. Systemtheoretisch
gesprochen: Das Forschungsresultat ist das konstituierende
Element des Systems Wissenschaft und über dessen Kritik
vollzieht es seine Autopoiesis.
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Roberto
Simanowski
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Prof.
Dr. Georg Jäger
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München
Dr.
Roberto Simanowski
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Jacob-Grimm-Haus
Käte-Hamburger-Weg 3
D-37073 Göttingen
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10.03.2000.
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