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Christiane
Heibach
Weitere Thesen und (teilweise)
Gegenthesen
zur Netzkunst und -literatur
- Der Computer ist ein
Medium der Oberfläche dieses Diktum von
Vilém Flusser liefert eine ontologische
Beschreibung, die gleichzeitig etwas über die
epistemologischen Bedingungen der Wahrnehmung von
Netzkunst und -literatur aussagt. Der Bildschirm ist in
erster Linie ein "Bild", d.h. daß auch Text
oberflächlicher wahrgenommen wird.
- Das Lesen erhält
daher eine andere, flüchtigere Qualität, als
sie der Buchdruck herausgebildet hat sehr
wahrscheinlich wird es über kurz oder lang durch das
Schauen, das Wahrnehmen des gesamten Bildschirms ersetzt
werden.
- Daraus folgt, daß
Netzliteratur, die intensives Lesen verlangt (wie dies in
den "traditionellen" Hyperfictions der Fall ist),
vermutlich die weitere Entwicklung nicht überdauern
wird. Sie ist eine Erscheinung der Abhängigkeit vom
Leitmedium Buch und wird den genuinen Qualitäten des
Computers (Prozeß, Transformation, Bewegung sowie -
damit verbunden - Räumlichkeit) nicht
gerecht.
- Wie These 3 schon
impliziert und These 1 andeutete, muß, um
medienspezifische Formen der Darstellung zu entwickeln,
eine Ontologie des Mediums zugrunde gelegt werden
erst die Beantwortung der Frage, was den Computer als
Medium ausmacht, kann dazu führen, sich von den
bisherigen Leitmedien zu lösen und das Medium
autonom werden zu lassen (vgl. Michael Gieseckes Modell
in seinem Vortragsmanuskript Abhängigkeiten
und Gegenabhängigkeiten der Informationsgesellschaft
von der Buchkultur
vom 27.11.1998).
- Geht man davon aus,
daß der Computer ein prozedurales Medium ist (der
stetige Wechsel der Impulse, die Rekursivität der
Software-Programme, die es ermöglicht, die
traditionellen Zeichensysteme in Bewegung und Interaktion
miteinander zu setzen), dann sind genuine Formen der
digitalen Literatur eng an Transformation und Bewegung,
aber durch die Möglichkeiten der
Medienintegration auch an die "Kommunikation" mit
anderen Zeichensystemen geknüpft, die durch die
Programm-Potentiale erstmals buchstäblich und nicht
nur im Kopf des Rezipienten miteinander
interagieren.
- Das Spezifikum
vernetzter Computer ist darum die Kommunikation
und zwar sowohl auf der Ebene der Protokolle, durch die
die verschiedenen Schichten des Computers miteinander
kommunizieren, als auch auf der sozialen Ebene des
Gesprächs zwischen Menschen durch die
Maschine.
- Transformation,
Bewegung, Räumlichkeit sowie Kommunikation
wären dann die Charakteristika von Netzkunst und
-literatur. Einige Projekte setzen diese Potentiale um
und lassen die Konsequenzen für die
Veränderungen des Wahrnehmungsverhaltens schon
ahnen:
The
Great Wall of China
besteht aus einer Datenbank, in die die Wörter aus
Kafkas Erzählung "Beim Bau der chinesischen Mauer"
eingegeben wurden. Eine komplexe Programmierung
führt dazu, daß aus diesen Wörtern
ständig neue Texte generiert werden. Fährt der
Leser mit der Maus über den Text, ersetzen sich die
Wörter, erst wenn er die Maus aus dem Text
herausbewegt, wird die Transformation beendet. Sowohl
diese Instabilität des Textes als auch das
Bewußtsein über die automatische Generierung
unterlaufen dabei das traditionelle
Leseverhalten.
BEAST
von Jacques Servin arbeitet darüber hinaus noch mit
der Interaktion von Text, Bild und Ton. Zuerst sieht man
sich mit einem Bildschirm konfrontiert, auf dem nach und
nach Textsegmente (Zitate aus fiktionalen,
philosophischen und essayistischen Texten) erscheinen und
sich so schnell fortschreiben, daß ein Lesen
unmöglich wird. Der Text wird durch ein
navigierbares Fenster mit vorbeifließenden Symbolen
ergänzt, denen jeweils charakteristische Tonelemente
zugeordnet sind. Klickt man ein Symbol an, generiert sich
ein neues, thematisch korreliertes Textsegment; ebenso
wird ein dem Symbol als charakteristisch zugeordnetes
Geräusch eingeblendet. Der Benutzer ist mit einer
Vielzahl an simultanen visuellen und akustischen Reizen
konfrontiert, die ihn zunächst überfordern.
Zudem wird er durch Systemmeldungen ständig unter
Druck gesetzt, in Aktion zu treten sonst droht
(angeblich und häufig genug tatsächlich) der
Absturz.
Solche Projekte
demonstrieren zweierlei: Einerseits die Herausforderung,
Transformationen verschiedener Zeichensysteme durch
umfassende Wahrnehmung zu bewältigen; andererseits
die Parallelität von Wahrnehmung und Aktion
selbst wenn es nur das Agieren mit der Maus ist. Gerade
letzteres die Notwendigkeit, selber mit der
Maschine zu interagieren ist ein wesentliches
Spezifikum des Computers, der ohne Befehle nicht zum
Medium werden kann.
- Die Parallelität
von Wahrnehmung und Aktion ist auch die Konsequenz aus
dem computervermittelten Gespräch. Verliert der Text
durch Hypermedialität seine traditionelle poetische
Funktion der textgebundenen Bedeutungsvermittlung (und
gibt einen Teil der Verantwortung an andere
Zeichensysteme ab), so wird er als Kommunikationsmedium
wesentlich verstärkt.
E-Mail und Chats laufen
über Text besonders in letzteren ist ein
komplexes Wahrnehmungsverhalten gekoppelt mit der Aktion
des gleichzeitigen Schreibens (statt Sprechens). Da Chats
auf linearen Textanordnungen beruhen, das Gespräch
v.a. mehrerer Teilnehmer sich aber ständig kreuzt,
verursacht die Linearität ein verwirrendes
Bezugsspiel, das zur Konsequenz hat, daß die
Gesprächsbeiträge eben gerade nicht-linear
erscheinen während man schreibt, hat schon
jemand anders auf etwas ganz anderes Bezug
genommen.
Chats können zum
Zentrum literarischer Projekte werden; oder zumindest
einen Teil ausmachen. Conversation
with Angels z.B.
ist eine komplett fiktionale virtuelle Welt, die durch
ihre Bevölkerung mit Bots dazu einlädt, sich
diesen mit Fragen zu nähern, um ihre Geschichte zu
erfahren. Gleichzeitig kann man sich selber im
Gespräch mit anderen eine fiktionale Identität
geben oder Narrationsstränge entwickeln. Auch der
Assoziations-Blaster
ist ein solches unmittelbares Gespräch
einerseits mit den Texten anderer Autoren, andererseits
aber auch mit den Beteiligten selber, wie das rege Forum,
das durchaus als Teil des Projekts angesehen werden
muß, zeigt.
- Daraus folgt, daß
das Verhalten des Benutzers solchen Projekten
gegenüber sehr viel besser als Spiel charakterisiert
werden kann; das Lesen ist nur noch ein vielleicht
sogar peripherer Teil unter dem komplexen
Wahrnehmungs- und Aktionsverhalten, das der Computer
erfordert. Spiel also sowohl mit den Möglichkeiten
der Hypermedialität und (Text-)Transformation als
auch mit den Möglichkeiten der vernetzten
Kommunikation um den Preis des ephemeren, rein auf
die momentane Aktivität konzentrierten Entstehens
und Erlebens. Netzliteratur ist damit nicht lesbar
im traditionellen Sinne (wie die schon erwähnte
soziale Skulptur des "Toywar" beeindruckend
zeigte).
- Es verändern sich
damit die institutionalisierten Rollen von Leser und
Autor: Der Autor wird wie Reinhard Döhl in
seinem Statement
es ausdrückt zum "Materiallieferant,
Programmierer und Manipulateur" er stellt den
Rahmen zur Verfügung und legt die
Handlungsspielräume fest (häufig auch in
Kooperation mit Gestaltern etc.; vgl. These
2 von Johannes
Auer). Der Leser dagegen wird tatsächlich zum
Mitgestalter oder - besser - zum Mitspieler (vgl.
nochmals Reinhard Döhl), der die Regeln nutzt, um
etwas zu schaffen.
- Wenn der Autor (unter
anderem) zum Programmierer wird, dann stellt sich die
Frage, inwieweit Software zum ästhetischen Objekt
werden kann. Programmiersprachen sind Symbolsprachen, die
durchaus ästhetischen Charakter haben und damit zum
Objekt der Literaturwissenschaft werden müssen. Das
Bewußtsein dafür wird immer stärker
Perl-Gedichte, die sowohl als Sprache als auch als
Programm funktionieren, sind nur ein Ausdruck für
solche Tendenzen.
- Durch den Computer
gewinnt der Text letztendlich an Komplexität und an
Funktionsvielfalt: Er mag vielleicht seine poetischen
Qualitäten der wortgewaltigen Weltenkonstruktion
verlieren, aber er gewinnt durch das schriftvermittelte
Gespräch, durch die Ästhetisierung (im
wörtlichen Sinne als "Aisthesis" verstanden) seiner
Oberfläche in Transformation, Bewegung und
Räumlichkeit und durch die noch zu
erschließende poetische Funktionalität
der Programmiersprachen.
- Diese Veränderungen
machen gleichzeitig deutlich, daß der Buchdruck
nicht in Gefahr ist wenn Text und Literatur im
Computer derart andere Gestalt annehmen, dann
erfüllen sie auch andere Funktionen und stellen
andere Anforderungen an die Wahrnehmung.
Umso wichtiger ist es
für die Literaturwissenschaft, sich beiden
Entwicklungen gleichermaßen zu widmen um
eine Brücke zwischen den unterschiedlichen
Epistemologien zu schlagen und die Kommunikation zwischen
Buchdruckkultur und Computerkultur einerseits zu
gewährleisten (vgl. These
II von Michael
Böhler), andererseits auch um Einfluß auf die
Gestaltung letzterer zu nehmen, die noch im Werden
begriffen ist (und es wahrscheinlich auch immer sein
wird, wie es sich für ein prozeßbasiertes
Phänomen gehört).
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Dr.
des. Christiane Heibach
Universität Erfurt
Lehrstuhl für Vergleichende
Literaturwissenschaft/Medien
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06.07.2000.
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