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Christiane Heibach

Weitere Thesen und (teilweise) Gegenthesen
zur Netzkunst und -literatur

  1. Der Computer ist ein Medium der Oberfläche – dieses Diktum von Vilém Flusser liefert eine ontologische Beschreibung, die gleichzeitig etwas über die epistemologischen Bedingungen der Wahrnehmung von Netzkunst und -literatur aussagt. Der Bildschirm ist in erster Linie ein "Bild", d.h. daß auch Text oberflächlicher wahrgenommen wird.
  2. Das Lesen erhält daher eine andere, flüchtigere Qualität, als sie der Buchdruck herausgebildet hat – sehr wahrscheinlich wird es über kurz oder lang durch das Schauen, das Wahrnehmen des gesamten Bildschirms ersetzt werden.
  3. Daraus folgt, daß Netzliteratur, die intensives Lesen verlangt (wie dies in den "traditionellen" Hyperfictions der Fall ist), vermutlich die weitere Entwicklung nicht überdauern wird. Sie ist eine Erscheinung der Abhängigkeit vom Leitmedium Buch und wird den genuinen Qualitäten des Computers (Prozeß, Transformation, Bewegung sowie - damit verbunden - Räumlichkeit) nicht gerecht.
  4. Wie These 3 schon impliziert und These 1 andeutete, muß, um medienspezifische Formen der Darstellung zu entwickeln, eine Ontologie des Mediums zugrunde gelegt werden – erst die Beantwortung der Frage, was den Computer als Medium ausmacht, kann dazu führen, sich von den bisherigen Leitmedien zu lösen und das Medium autonom werden zu lassen (vgl. Michael Gieseckes Modell in seinem Vortragsmanuskript Abhängigkeiten und Gegenabhängigkeiten der Informationsgesellschaft von der Buchkultur vom 27.11.1998).
  5. Geht man davon aus, daß der Computer ein prozedurales Medium ist (der stetige Wechsel der Impulse, die Rekursivität der Software-Programme, die es ermöglicht, die traditionellen Zeichensysteme in Bewegung und Interaktion miteinander zu setzen), dann sind genuine Formen der digitalen Literatur eng an Transformation und Bewegung, aber – durch die Möglichkeiten der Medienintegration – auch an die "Kommunikation" mit anderen Zeichensystemen geknüpft, die durch die Programm-Potentiale erstmals buchstäblich und nicht nur im Kopf des Rezipienten miteinander interagieren.
  6. Das Spezifikum vernetzter Computer ist darum die Kommunikation – und zwar sowohl auf der Ebene der Protokolle, durch die die verschiedenen Schichten des Computers miteinander kommunizieren, als auch auf der sozialen Ebene des Gesprächs zwischen Menschen durch die Maschine.
  7. Transformation, Bewegung, Räumlichkeit sowie Kommunikation wären dann die Charakteristika von Netzkunst und -literatur. Einige Projekte setzen diese Potentiale um und lassen die Konsequenzen für die Veränderungen des Wahrnehmungsverhaltens schon ahnen:

    The Great Wall of China besteht aus einer Datenbank, in die die Wörter aus Kafkas Erzählung "Beim Bau der chinesischen Mauer" eingegeben wurden. Eine komplexe Programmierung führt dazu, daß aus diesen Wörtern ständig neue Texte generiert werden. Fährt der Leser mit der Maus über den Text, ersetzen sich die Wörter, erst wenn er die Maus aus dem Text herausbewegt, wird die Transformation beendet. Sowohl diese Instabilität des Textes als auch das Bewußtsein über die automatische Generierung unterlaufen dabei das traditionelle Leseverhalten.

    BEAST von Jacques Servin arbeitet darüber hinaus noch mit der Interaktion von Text, Bild und Ton. Zuerst sieht man sich mit einem Bildschirm konfrontiert, auf dem nach und nach Textsegmente (Zitate aus fiktionalen, philosophischen und essayistischen Texten) erscheinen und sich so schnell fortschreiben, daß ein Lesen unmöglich wird. Der Text wird durch ein navigierbares Fenster mit vorbeifließenden Symbolen ergänzt, denen jeweils charakteristische Tonelemente zugeordnet sind. Klickt man ein Symbol an, generiert sich ein neues, thematisch korreliertes Textsegment; ebenso wird ein dem Symbol als charakteristisch zugeordnetes Geräusch eingeblendet. Der Benutzer ist mit einer Vielzahl an simultanen visuellen und akustischen Reizen konfrontiert, die ihn zunächst überfordern. Zudem wird er durch Systemmeldungen ständig unter Druck gesetzt, in Aktion zu treten – sonst droht (angeblich und häufig genug tatsächlich) der Absturz.

    Solche Projekte demonstrieren zweierlei: Einerseits die Herausforderung, Transformationen verschiedener Zeichensysteme durch umfassende Wahrnehmung zu bewältigen; andererseits die Parallelität von Wahrnehmung und Aktion – selbst wenn es nur das Agieren mit der Maus ist. Gerade letzteres – die Notwendigkeit, selber mit der Maschine zu interagieren – ist ein wesentliches Spezifikum des Computers, der ohne Befehle nicht zum Medium werden kann.

  8. Die Parallelität von Wahrnehmung und Aktion ist auch die Konsequenz aus dem computervermittelten Gespräch. Verliert der Text durch Hypermedialität seine traditionelle poetische Funktion der textgebundenen Bedeutungsvermittlung (und gibt einen Teil der Verantwortung an andere Zeichensysteme ab), so wird er als Kommunikationsmedium wesentlich verstärkt.

    E-Mail und Chats laufen über Text – besonders in letzteren ist ein komplexes Wahrnehmungsverhalten gekoppelt mit der Aktion des gleichzeitigen Schreibens (statt Sprechens). Da Chats auf linearen Textanordnungen beruhen, das Gespräch v.a. mehrerer Teilnehmer sich aber ständig kreuzt, verursacht die Linearität ein verwirrendes Bezugsspiel, das zur Konsequenz hat, daß die Gesprächsbeiträge eben gerade nicht-linear erscheinen – während man schreibt, hat schon jemand anders auf etwas ganz anderes Bezug genommen.

    Chats können zum Zentrum literarischer Projekte werden; oder zumindest einen Teil ausmachen. Conversation with Angels z.B. ist eine komplett fiktionale virtuelle Welt, die durch ihre Bevölkerung mit Bots dazu einlädt, sich diesen mit Fragen zu nähern, um ihre Geschichte zu erfahren. Gleichzeitig kann man sich selber im Gespräch mit anderen eine fiktionale Identität geben oder Narrationsstränge entwickeln. Auch der Assoziations-Blaster ist ein solches unmittelbares Gespräch – einerseits mit den Texten anderer Autoren, andererseits aber auch mit den Beteiligten selber, wie das rege Forum, das durchaus als Teil des Projekts angesehen werden muß, zeigt.

  9. Daraus folgt, daß das Verhalten des Benutzers solchen Projekten gegenüber sehr viel besser als Spiel charakterisiert werden kann; das Lesen ist nur noch ein – vielleicht sogar peripherer – Teil unter dem komplexen Wahrnehmungs- und Aktionsverhalten, das der Computer erfordert. Spiel also sowohl mit den Möglichkeiten der Hypermedialität und (Text-)Transformation als auch mit den Möglichkeiten der vernetzten Kommunikation – um den Preis des ephemeren, rein auf die momentane Aktivität konzentrierten Entstehens und Erlebens. Netzliteratur ist damit nicht lesbar im traditionellen Sinne (wie die schon erwähnte soziale Skulptur des "Toywar" beeindruckend zeigte).
  10. Es verändern sich damit die institutionalisierten Rollen von Leser und Autor: Der Autor wird – wie Reinhard Döhl in seinem Statement es ausdrückt – zum "Materiallieferant, Programmierer und Manipulateur" – er stellt den Rahmen zur Verfügung und legt die Handlungsspielräume fest (häufig auch in Kooperation mit Gestaltern etc.; vgl. These 2 von Johannes Auer). Der Leser dagegen wird tatsächlich zum Mitgestalter oder - besser - zum Mitspieler (vgl. nochmals Reinhard Döhl), der die Regeln nutzt, um etwas zu schaffen.
  11. Wenn der Autor (unter anderem) zum Programmierer wird, dann stellt sich die Frage, inwieweit Software zum ästhetischen Objekt werden kann. Programmiersprachen sind Symbolsprachen, die durchaus ästhetischen Charakter haben und damit zum Objekt der Literaturwissenschaft werden müssen. Das Bewußtsein dafür wird immer stärker – Perl-Gedichte, die sowohl als Sprache als auch als Programm funktionieren, sind nur ein Ausdruck für solche Tendenzen.
  12. Durch den Computer gewinnt der Text letztendlich an Komplexität und an Funktionsvielfalt: Er mag vielleicht seine poetischen Qualitäten der wortgewaltigen Weltenkonstruktion verlieren, aber er gewinnt durch das schriftvermittelte Gespräch, durch die Ästhetisierung (im wörtlichen Sinne als "Aisthesis" verstanden) seiner Oberfläche in Transformation, Bewegung und Räumlichkeit und durch die – noch zu erschließende – poetische Funktionalität der Programmiersprachen.
  13. Diese Veränderungen machen gleichzeitig deutlich, daß der Buchdruck nicht in Gefahr ist – wenn Text und Literatur im Computer derart andere Gestalt annehmen, dann erfüllen sie auch andere Funktionen und stellen andere Anforderungen an die Wahrnehmung.

    Umso wichtiger ist es für die Literaturwissenschaft, sich beiden Entwicklungen gleichermaßen zu widmen – um eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Epistemologien zu schlagen und die Kommunikation zwischen Buchdruckkultur und Computerkultur einerseits zu gewährleisten (vgl. These II von Michael Böhler), andererseits auch um Einfluß auf die Gestaltung letzterer zu nehmen, die noch im Werden begriffen ist (und es wahrscheinlich auch immer sein wird, wie es sich für ein prozeßbasiertes Phänomen gehört).

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Dr. des. Christiane Heibach
Universität Erfurt
Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/Medien
Nordhäuser Str. 63
D-99089 Erfurt

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Ins Netz gestellt am 06.07.2000.

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