Ludwig-Maximilian-Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Prof. Dr. Bernd Scheffer
Hauptseminar: Kultur und Medien
WS 1995/96
Wolfgang Miedl
Universalmedium Internet-
das Ende der Buchdruckkultur?

Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung
1 Das Buch als Medium
2 Buchdruck gegen Bildschirm
3 Die heilige Druck-Schrift
4 Das Alphabet und die Schrift
5 Flusser: Von Gutenberg nach Auschwitz und Hiroshima
6 Elektro-Text
7 Vom Druckgewerbe zur Heimdruckerei
8 Schreibmaschinen für das Internet
9 Internet - das Medium
10 Interaktivität
11 Inhalte
12 Schluß
Literatur, Links

»Ein sich änderndes Bewußtsein ruft nach veränderter Technik, und eine veränderte Technik verändert das Bewußtsein.«

Vilèm Flusser


0 Einleitung

Kaum eine Erfindung hat unsere neuzeitlich-abendländische Kultur mehr geprägt als Gutenbergs Buchdruck mit beweglichen Lettern. Die Entdeckung des Buchdrucks war die Initialzündung für eine Medienrevolution, und damit Voraussetzung für Massenkommunikation, Bildung und Demokratisierung. Die neue Medientechnik veränderte das Denken und Bewußtsein der Menschen und leitete damit einen einschneidenden und bis heute nachwirkenden Wandel der abendländischen Kultur ein. Der Buchdruck ermöglichte die dezentrale Verb reitung von Information und sabotierte so das staatliche Informationsmonopol, die Ablösung der mittelalterlichen Handschrift- und Bildkultur und des darauf gründenden totalitären kirchlich-staatlichen Machtapparates war mit einem neuen Medium besiegelt. Aufschreibesysteme waren als Informationstechnik immer in erster Linie Machtinstrumente und der mittelalterliche Staat organisierte und sicherte seine Herrschaft und Macht wie jede Hochkultur durch die Kontrolle über seine Informationskanäle und die darin ve rbreitete Information. Der Buchdruck als neues Medium erwies sich schnell als subversive Technik, er war in jeder Hinsicht das der Handschrift überlegene Aufschreibesystem, vor allem durch die Geschwindigkeit der Herstellung und der raschen Verbreitung von Drucksachen. Mit dem Buchdruck eröffnete sich ein neues Kapitel der Schrift- und damit Informationstechnik.

Luther war der erste, der dieses neue Medium in seiner gesamten Tragweite und seinem Machtpotential verstand, seine Erfolge im politisch-theologischen Kampf gegen die etablierten Mächte waren nur mit der Hilfe des neuen Mediums vorstellbar. Der Reformator war demnach vor allem ein Medientheoretiker, der das Medium nicht nur als Kanal für seine Botschaften nutze, sondern seine Lehre untrennbar mit dem Buch in Verbindung brachte: »Mit der Neufassung der kanonischen Sakramentenlehre hat Luther in einem Akt die wuchernden heiligen Semiotiken beschnitten und zugleich eine Theorie des neuen Mediums entworfen. Die reformatorische Semiotik und Medientheorie war die feierliche Eröffnung der durch bewegliche Lettern technisch möglich gewordenen Epoche der Buchlektüre. « 1

Die wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der folgenden Jahrhunderte wären ohne das Massenmedium Buch nicht möglich gewesen, das Buch etablierte sich zum unangefochtenen Ort für Information und Diskurse. Dabei darf jedoch ein weiterer Aspekt nicht vergessen werden: Der Erfolg des Buchdruckdenkens beruht nicht nur auf den verbesserten Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten für breite Schichten der Bevölkerung, sondern er resultiert zu einem nicht geringen Teil aus der ne uen Art des Schreibens mit Typen, dem »typischen« Schreiben. Beim Drucken werden nicht mehr charakteristische Hand-Schriftzeichen auf das Papier gebracht, sondern stets identische Typen. Das charakteristische Denken des Handschreibenden wurde abgelöst durc h das typische Denken des Druckenden. Kritiker der Buchdruckkultur machen dieses typische Denken verantwortlich für die großen Krisen der Neuzeit wie Atombombe und Holocaust, die aus dem typisieren und isolieren beispielsweise von Atomen, Genen und Völkert ypen resultieren.

In den letzten gut hundert Jahren sind einige neue Medien mit dem Buch in Konkurrenz getreten, vor allem die technischen Medien Telefon, Radio und Fernsehen haben es in kurzer Zeit zu einem riesigen Erfolg gebracht. Es hat sich aber gezeigt, daß sie das Bu ch nicht ernsthaft auf seinem Platz als Leitmedium gefährden konnten, die Schriftmedien dominieren, zumindest qualitativ, nach wie vor die oralen oder visuellen Kommunikationsformen.

Mit der Entwicklung der digitalen Computertechnik wurden in den letzten Jahrzehnten neuartige Maschinen entwickelt, die einerseits neue Formen der schriftlichen Kommunikation ermöglichen und andererseits Schrift, Bild und Ton in einem Multi-Medium vereinen können. Computer ermöglichen als Einzelgeräte zunächst neue Formen der Textbearbeitung und -handhabung, durch deren weltweite Vernetzung können sie sogar Texte ohne den Umweg über das Papier übertragen und stellen so als Netzcomputer ein neues Medium dar: das Internet. Derzeit ist das Internet gerade dabei, sich als Massenmedium zu etablieren, und es steht als technisches Schriftmedium in direkter Konkurrenz zum Buchdruck. Für viele Publizierende stellt sich angesichts des neuen Mediums und seiner vielvers prechenden Möglichkeiten die Frage, ob sie Publikationen nicht über ein digitales Medium verbreiten sollten. Viele Internet-Befürworter sehen schon das Ende der Buchdruckkultur gekommen, längst ist ein Streit entbrannt zwischen den Befürwortern und den Geg nern der neuen Kommunikationstechnik um die Chancen und möglichen Risiken der neuen Informationskanäle. Es geht dabei um nichts geringeres als die Frage, ob der Erfolg des Internet vergleichbar ist mit Gutenbergs und Luthers Revolution, ob es es sich also ein um einen weiteren, notwendigen Schritt der Demokratisierung von Kommunikation und Information handelt, oder ob das neue Medium lediglich ein Spielzeug für Technofreaks darstellt, das außer oberflächlichem Geschwätz keinen relevanten Beitrag für unsere Kultur bringen kann.

Die vorliegende Arbeit will der Diskussion Buchdruck versus Internet auf den Grund gehen, das Internet soll dabei vor allem als Schiftmedium vorgestellt werden. Anhand der Geschichte der Schrift soll gezeigt werden, daß daß die großen Leistungen der Schrif tkultur nicht allein auf dem Buchdruck gründen und eine viel ältere Geschichte haben. Die Schrift scheint für uns so untrennbar mit dem Buch in Verbindung zu stehen, so daß wir andere Schriftformen bisher kaum als wichtig angesehen haben. Das Beispiel Inte rnet soll zeigen, daß die Schrift durchaus in einem anderem Trägermedium denkbar ist und daß sie darin völlig neue Möglichkeiten der Kommunikation bieten kann.

1 Das Buch als Medium

Das Buch ist ein Medium. Diese Feststellung scheint banal zu sein, doch die Erkenntnis ist überraschenderweise relativ neu. So stellt Werner Faustich fest, »daß es bis heute eine explizite Theorie des Buches als Medientheorie noch nicht gibt, obwohl das Bu ch über Jahrhunderte als wichtigstes Kulturmedium weltweit seine Bedeutung hatte.« 2 Bis heute scheinen solche Fragen von relativ geringem Interesse zu sein, traditionell konzentriert sich der Wissenschafts- und Kulturbetrieb auf die Inhalte, die übermittel t werden und weniger auf die möglichen Effekte, die beispielsweise der Kanal Buch auf seinen Inhalt hat, oder wie dieses Medium, wie übrigens alle anderen Medien auch, aufgrund seiner Funktionsweise die Wahrnehmung konditionieren könnte. Statt dessen schei nt eine allgemein verbreitete Ansicht zu sein, daß Bücher, etwa gemäß einer Definition von 1958, ihren »Zweck« in der Vermittlung eines geistig-immateriellen Inhalts« und im »Wert für die Allgemeinheit« 3 haben. Erst seit das Buch unter dem Gesichtspunkt Me dium betrachtet wird, werden erstmals seine vielfältigen Begleiterscheinungen jenseits von Inhaltlichen Aussagen beleuchtet. Faulstich bezeichnet es als »Machtinstrument einer früheren Hochkultur« 4 , Grünewald stellt dazu fest: »Bislang war es so gewesen, d aß Spezialwissen von denen, die wußten, die eingeweiht waren, natürlich von andern ferngehalten werden oder nur tröpfchenweise weitergegeben werden konnte, und das ist natürlich eine Form von Herrschaft.« 5 Als Herrschaftsinstrument hat das Buch nach Ansich t von Faulstich aber längst ausgedient, spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts sind neue, technische Massenmedien in Konkurrenz getreten und haben dem Buch den ersten Platz streitig gemacht.

Das Buch hat auch als Unterhaltungsmedium seinen früheren Stellenwert eingebüßt, unter den elektronischen Medien hat vor allem das Fernsehen diese Rolle übernommen. Auf der anderen Seite hat das Buch »seine Funktion als Wissens- und Informationsspeicher we iter ausgebaut« 6 , wobei es nach Ansicht von Faulstich durch niedrigere Auflagen und höhere Preise wieder zum Elitemedium tendiert. 7 Für die Kulturelite, so könnte man es rückblickend sehen, hat sich durch die elektronischen Massenmedien soviel nicht verän dert, denn das Buch ist offenbar der unantastbare Ort der Diskurse geblieben, auch noch so viele Kulturschocks konnten den Masterdiskurs nie gefährden.

2 Buchdruck gegen Bildschirm

Mit dem neuen Massenmedium eines weltumspannenden Computernetzes scheint zum ersten Mal ein Medium in ernsthafte Konkurrenz zum Buchdruck zu treten. Erstmals ermöglicht ein Medium jedem einzelnen Benutzer, je nach Bedürfnis mit anderen Einzelpersonen zu ko mmunizieren (z.B. E-Mail) oder vor der ganzen Teilnehmergemeinde zu publizieren (z.B. WWW), ohne irgendwelchen Beschränkungen zu unterliegen. Doch diese neuartigen Kommunikationsverhältnisse wecken nicht überall Euphorie, es sind vor allem Verfechter der B uchdruckkultur, die heftigste Bedenken äußern. Verwunderlich dabei ist die Schärfe der teils polemisch vorgebrachten Kritik, mit der gegen Computer und Internet als Schriftmedium gewettert wird. So war in einer Technik-Beilage der Süddeutschen Zeitung kürz lich zu lesen: »Computerisierte Information lullt Kritikfähigkeit ein.« 8 Theo Sommer befürchtet in einem nicht mehr ganz aktuellen Essay sogar, daß den Menschen »das Gedruckte genommen und dafür ein Bildschirm gegeben wird, an den sie sich dann mit Stielau gen heften.« 9 Seinen Befürchtungen stellt er eine heile Welt des Buchdrucks gegenüber, in der »die Kinder (...) ihren Karl May mit roten Backen unter der Bettdecke lesen, der U-Bahnfahrer auf dem Weg zur Arbeit kann sich in aller Ruhe die Morgenpresse zu G emüte führen.«

Stereotyp romantisierend zählt er die Vorzüge von gedruckten Büchern auf: »Der Bergwanderer kann seine Hölderlin-Ausgabe neben die Butterstulle in den Rucksack stecken und sie am Gipfelkreuz hervorholen(...). Wer vermöchte sich vorzustellen, daß der Bildsc hirm einmal überall dorthin vordringen könnte, wo das Gedruckte unbestritten ist und unbeschränkt herrscht?« 10 »Wer könnte sich vorstellen, daß es keine ledergebundenen Shakespeare-Ausgaben mehr gäbe? (...) Was die Ästhetik des Gedruckten ausmacht, wird der Bildschirm nie erreichen.« Außerdem geht er davon aus »daß dem Zeitraum, den wir täglich vor dem Schirm verbringen, natürliche Grenzen gezogen sind.« Empört weist er eine Prognose zurück, wonach es in fünfzig Jahren nur noch wenige Printmedien geben wird und die meisten Informationen über Computerterminals abgefragt werden. In der Unfehlbarkeit und Unantastbarkeit der Printmedien ist sich Sommer sehr sicher: »Meinungsvielfalt, Meinungsnuancen, Meinungskollisionen ermöglichen erst jenen politischen Disput, von dem die Demokratie lebt. In dieser Funktion wird der Bildschirm die Zeitung nie ersetzen können(...). 11

Die Chancen für eine neuen Kommunikationstechnik, die mit den Printmedien konkurrieren könnte, scheinen für viele Kritiker völlig aussichtslos, schon der Anspruch scheint geradezu anmaßend: »Doch hinkt die vielzitierte Behauptung, die Telekommunikation sei mit der Revolution des Buchdrucks vergleichbar.(...) Zerbrechlich wirkende assyrische Tontäfelchen beispielsweise fallen durch eine größere Haltbarkeit auf als die Video- und CD-ROM-Archivierungssysteme aus unserer Zeit.« 12

Die Kritik liefert ein aufschlußreiches Bild über das Verhältnis der Buchdruckkultur zu anderen Medien:

-Seriöse Information gibt es nur in gedruckter Form, jedes andere Medium ist potentiell unseriös.

-Möglichen prinzipbedingten Vorteilen des Mediums Computer werden übergangen, statt dessen weicht man gerne aus auf Diskussionen um die technischen Unzulänglichkeiten.


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