Städte, Territorien und Cyberspace
Pierre Lévy
Urbanisten, Architekten und ganz allgemein alle Menschen, die sich mit der Verwaltung und dem Leben von lokalen Gemeinschaften beschäftigen, sind seit einigen Jahren mit dem neuen Problem konfrontiert, in ihrer beruflichen Tätigkeit neue interaktive Kommnikationssysteme zu berücksichtigen. Welche Folgen hat die Entwicklung des Cyberspace für das Urbane und die Organisation von Territorien? Welchen aktiven und positiven Zugang lassen sich entwickeln, um die neuen Kommunikationsinstrumente besser einzusetzen? Diese Probleme gehen nicht nur Politiker, Urbanisten und Verwalter von Territorien an, sie betreffen vor allem die Stadtbewohner.
Städte, Territorien und Cyberspace
Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Stadt und Cyberspace gibt seitens verschiedener Akteure, seien es Theoretiker oder Praktiker, mehrere Positionen. Man kann sie in vier große Kategorien unterteilen:
1. Die Deklination der Analogien zwischen den räumlichen und den virtuellen Gemeinschaften.
2. Das Denken in Begriffen der Substituierung oder Ersetzung von Funktionen der klassischen Stadt durch Angebote und technische Mittel des Cyberspace.
3. Die Assimilation des Cyberspace zu einem urbanen oder traditionellen räumlichen Mittel.
4. Die Erkundung verschiedener Typen der Artikulation zwischen der urbanen Wirklichkeit und den neuen Formen kollektiver Intelligenz, die sich im Cyberspace entwickeln.
Wir werden nacheinander die ersten drei Positionen einer Kritik unterziehen und zu zeigen versuchen, inwiefern die vierte Position, die Erkundung der Artikulationen, für die Zukunft die reichhaltigste ist.
1. Die Analogie
1.a. Der Hypertext Stadt
Der Vergleich der Stadt mit dem Begriff des Textes oder Diskurses (bedeutsam beispielsweise für eine architektonische "Grammatik") ist ganz traditionell. Das gilt auch für die Kritik aus dieser Perspektive. Der Stadttext (ein symbolischer oder funktioneller Text) unterstellt eine normale lineare Bedeutung und einen einzigen Ausdruck, nämlich den der Macht oder der Experten des Urbanen, an den sich die Bewohner halten oder anpassen sollen. Der Stadtdiskurs offenbart nicht nur eine autoritäre Politik oder eine technokratische Praxis, sondern er ist heute vor allem durch die Tatsachen zum Scheitern verurteilt.
Der nicht-lineare, multilogische Hypertext , der mehrere legitime Lesarten erlaubt, schafft teilweise die Kluft zwischen Autor und Leser ab und scheint sich daher als gutes alternatives Modell der Stadt anzubieten (dazu siehe besonders die Arbeiten von Frédéric Nantois). Viele der zeitgenössischen großen Metropolen sind offensichtlich chaotisch und daher "unlesbar", wenn man im Paradigma des linearen und monologischen Textes bleibt. Deswegen wurde vorgeschlagen, sie als Hypertexte zu entziffern, ausgehend von der Vielzahl der wichtigen Wege und Aneignungen, die sie ermöglichen. Eine typische Form des Cyberspace wird zum Modell des physischen urbanen Raums. Eine der interessantesten Umkehrungen dieser Metapher vom Hypertext ist, daß sie sofort mit dem Gesichtspunkt der "Leser", Benutzer oder Spaziergänger beginnt und nicht mit dem der Architekten, Urbanisten oder verantwortlichen Politiker.
Neue Formen von qualitativen Hyperplänen, von Karten des Umherschweifens oder von visuellen Erinnerungen an subjektive Aneignungen scheinen diesem Ansatz der Hypertextstadt zu entsprechen. Aber mit der Vorstellung von hyperräumlichen, differenzierten, subjektiven, kooperativen und dynamischen Karten in Echtzeit befinden wir uns schon nicht mehr in der einfachen Analogie, sondern in der Perspektive einer "Artikulation" zwischen beiden Räumen.
Obgleich sie für die Theorie oder den Begriff des Urbanen vielversprechend ist, umgeht die Metapher also die schwierigsten Fragen hinsichtlich der Beziehungen zwischen dem Cyberspace und der Stadt. Erstens weist die Analogie eine drakonische Beschränkung auf. Während die digitalen Zeichen, die in den Netzen kreisen, veränderbar, leicht und beweglich, also gewissermaßen, ohne Kosten zu verursachen, unabhängig von ihrer physischen Lokalisierung sind, schreiben sich die Elemente der urbanen Landschaft: Einrichtungen, Gebäude, Kommunikationsverbindungen, Fahrzeuge und anderes, mit ihrer Masse in den geographischen Raum ein. Die Trägheit des Urbanen verdankt sich verschiedenen Größenordnungen, die die des Cyberspace sowohl auf der rein materiellen als auch vor allem auf der ökonomischen Ebene überragen. Zweitens hilft die Metapher vom Hypertext den Entwerfern und Verantwortlichen (den Politikern, Urbanisten und Ingenieuren) nur in einem geringem Maß dabei, nicht bloß die "Idee" des Cyberspace oder des Hypertextes in das Denken der Stadt zu integrieren, sondern auch die "Tatsache" der Entwicklung der interaktiven und kollektiven Kommunikation gemäß ihrem "Design" oder zumindest als Begleitumstand in die Evolution der Stadt der Zukunft.
1.b. Die digitale Stadt
Das zweite Abgleiten der Analogie entsteht aus dem Begriff der virtuellen Gemeinschaften "im Modell der Stadt". Eine der besten Beispiele dafür ist die digitale Stadt <http://www.dds.nl> von Amsterdam, ein "kostenloses" Angebot auf dem Internet, aber in niederländischer Sprache. In dieser digitalen Stadt findet man eine Art Verdopplung der Einrichtungen und Institutionen der klassischen Stadt : Auskünfte der Verwaltung, Öffnungszeiten der Gemeindeverwaltung, Katalog der Bibliotheken usw. Unterschiedliche Bewohnergruppen haben das Recht, einen "Ort" in der digitalen Stadt einzunehmen. So können sie Informationen verteilen und "elektronische Konferenzen" organisieren. Auch richtige Diskussionsforen und so etwas wie elektronische Zeitungen sind in der digitalen Stadt aufgetaucht, wo die Fragen der lokalen Politik offensichtlich nicht abwesend sind. Schließlich muß darauf hingewiesen werden, daß "Digital City" von Amsterdam für alle anderen Angebote des Internet offen ist: World Wide Web, elektronische Post, internationale Diskussionsgruppen usw. Obgleich sie noch nicht lange existiert, ist die digitale Stadt seit ihrer Eröffnung ununterbrochen gewachsen und hat einen bemerkenswerten öffentlichen Erfolg erzielt, der sich ohne Zweifel dem Umstand verdankt, daß keine Gebühren erhoben werden (abgesehen von den Telefongebühren), daß man niederländisch (und nicht englisch) spricht und daß die Kommunikation "frei" ist.
Dutzende und wahrscheinlich bald Hunderte von Städten und Regionen auf der Welt werden sich Erfahrungen derselben Art ausliefern. Die "virtuelle Stadt" von Amsterdam ist daher wegen ihres beispielhaften Charakters von Bedeutung, und deswegen setzen wir uns hier auch mit ihr auseinander. Es gibt für die Motivation der Initiatoren zwei Aufträge. Erstens geht es darum, die ökonomischen und politischen Führungskräfte für die neuen, durch die digitale Kommunikation im großen Maßstab eröffneten Möglichkeiten zu "sensibilisieren". Zweitens beinhaltet das Wort Auftrag in der Realisierung des Projekts den "Zugang für alle" mit den Untertönen des Kampfes gegen den Ausschluß und der Kompensation von Ungleichgewichtigkeiten zwischen den "Info-Reichen" und den "Info-Armen". Es liegt uns fern, dieses Experiment und seine Voraussetzungen zu verurteilen! Deswegen können wir nur von einem gewissen Mangel hinsichtlich der systematischen Verdopplung des institutionellen Territoriums im Virtuellen ausgehen, die man übrigens fast überall beobachtet.
Die virtuellen Museen sind beispielsweise auf dem Internet oft nur schlechte Kataloge, obgleich es der Begriff des Museums selbst, zentriert um einen "Bestand", den man "bewahrt", ist, der von der Entwicklung eines Cyberspace oder jeden Netzwerkes in Frage gestellt wird, wo die Unterscheidungen zwischen Original und Kopie offensichtlich nicht mehr funktionieren. Anstatt traditionelle Ausstellungen auf "web sites" oder interaktiven Speichern zu verdoppeln, sollte man subjektive oder, noch besser, andauernd durch die gemeinsame Navigation überarbeitete Gänge durch die von jeder materiellen Sammlung losgelösten Räume konzipieren. Noch besser wäre die Hinwendung zu neuen Werkformen: zu virtuellen Räumen, die ihren Erforschern offenstehen und die sie aktualisieren können.
Man findet auch Magazine oder traditionelle Zeitungen in den Netzdiensten, die nur ein wenig mehr Informationen enthalten als solche auf Papier, die einen automatischen Index und Diskussionsforen anbieten, die nur eine verbesserte Form von Leserbriefen sind. Aber es sollte gerade die Struktur der medialen Kommunikation - eine Gruppe von zentralen Sendern und ein Publikum von passiven und verstreuten Empfängern - im Cyberspace in Frage gestellt werden. Wenn jeder an viele senden, an Diskussionsforen zwischen Experten teilnehmen und die Informationsflut durch seine eigenen Kriterien filtern kann, was jetzt technisch möglich wird, ist es dann noch notwendig, auf jene Spezialisten der Zurückführung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner Wert zu legen, die die traditionellen Journalisten sind?
Die Verdopplung der gewohnten institutionellen Formen im Cyberspace und der gleichzeitig geforderte "Zugang für alle" können daher keinen Ort einer allgemeinen Politik der Beziehungen zwischen dem Cyberspace und dem Territorium eröffnen. Auch wenn Erfahrungen wie die von der digitalen Stadt von Amsterdam ermöglichten unerläßlich sind, sollten sie doch nicht mehr als eine vorübergehende Etappe auf dem Weg zu einer Infragestellung der traditionellen institutionellen Formen der Gemeindeverwaltung, der örtlichen Zeitungen, der Museen, der Schulen etc. sein. In jedem einzelnen Fall ermöglichen es die Instrumente des Cyberspace, zu Formen überzugehen, die die "Kluft" zwischen Verwaltern und Verwalteten, zwischen Lehrenden und Schülern, zwischen Ausstellungsmachern und Zuschauern, zwischen Autoren und Lesern etc. zu verringern. Diese neuen Formen der kollektiven Organisation werden heute in zahlreichen lokalen und internationalen Dispositiven des Cyberspace erkundet. Sie haben die wesentliche Eigenschaft, die weit über vernetzte Gemeinschaften verstreute Intelligenz zur Geltung zu bringen, sie auf Gegenseitigkeit auszurichten und sie in Synergie mit der Echtzeit zu bringen.
2. Die Substitution
Das Thema der Ersetzung wird heute hauptsächlich von den "Verwaltern des Territoriums" vorangetrieben. Das Argument ist einfach. Die neuen kooperativen Arbeitsmittel im Netz ermöglichen es, am internationalen ökonomischen Leben von zuhause oder von lokalen Zentren aus teilzunehmen. Überdies ist es für eine große Zahl von Tätigkeiten nicht mehr notwendig, sich körperlich fortzubewegen. Es gibt zahlreiche Vorteile: Reduktion der überfüllten und verstopften Städte, eine bessere Verteilung der Bevölkerung im Raum, die Hoffnung, Gebiete, die zu verwüsten drohen und von Massenarbeitslosigkeit gezeichnet sind, wieder zu beleben, Verbesserung der Lebensqualität.
Diese Überlegungen hinsichtlich der Arbeit können in fast gleicher Begrifflichkeit für den Unterricht in höheren Schulen oder für die Weiterbildung gelten. Warum soll man Universitäten aus Beton bauen, anstatt die Entwicklung von Teleuniversitäten und von Systemen für eine interaktive und kooperative Lehre zu fördern, die vom ganzen Land aus zugänglich sind?
Wir kritisieren nicht die wohlmeinenden Intentionen, die beim Thema eines Ersatzes des Verkehrs und der körperlichen Anwesenheit durch die Telepräsenz und die interaktive Telekommunikation vorherrschen. Wir wollen einfach nur hinsichtlich dieser Intentionen einige Sachverhalte in Betracht ziehen und beginnen, über diese nachzudenken.
Zuallererst zeigt eine einfache Betrachtung der statistischen Erhebungen, daß die Entwicklung der Telekommunikationsmittel mit der des materiellen Verkehrs parallel läuft: zwischen beiden gibt es eine direkte und keine inverse Relation. Ganz offensichtlich gibt es zahlreiche Fälle von Substitutionen, doch diese wirken auf eine Dynamik der globalen Zunahme an Interaktionen und Beziehungen aller Arten ein, so daß man schließlich mehr und mehr reist und die durchschnittliche Reiseentfernung ansteigt. Der einzige (vorübergehende) Rückgang im Gebrauch von Transportmitteln, der in den letzten Jahren beobachtet wurde, hatte nichts mit dem exponentiellen Wachstum des Internet zu tun. Er war eine Folge des Golfkrieges.
Geschäftsleute, Führungskräfte, Wissenschaftler und unabhängige Intellektuelle sind heute die vorherrschenden Telearbeiter . Sie "reisen noch mehr, als ihnen gefällt" - dank den Möglichkeiten des Cyberspace und der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zur Kommunikation und zum nomadischen Leben , während sie permanent mit ihren Büros, Laboratorien, Kunden oder Auftraggebern in Verbindung stehen.
Was die Aussicht angeht, auf dem Land zu leben und zu arbeiten, so muß man bemerken, daß die zunehmende Ablösung der ökonomischen Transaktionen von einem Ort wieder einer internationalen Zunahme der Wanderungsbewegungen parallel verläuft, gleichgültig, ob diese aus ökonomischen oder politischen Gründen entstehen oder durch Kriege hervorgerufen werden. Das Anwachsen der Wanderungsbewegungen betrifft eben so sehr die Wissenschaftler wie die sogenannten unqualifizierten Arbeiter. Die Mobilität der ökonomischen Transaktionen und die der Menschen ist Teil derselben historischen Tendenz zur Deterritorialisierung: sie sind nicht wechselseitig ersetzbar.
Hinsichtlich der Hoffnungen, die in einer auf Telearbeit und Lernen auf Distanz beruhenden "Organisation des Territoriums" gesehen werden, sind die Phänomene der durch den wachsenden Gebrauch des Cyberspace bewirkten Ortlosigkeit ambivalent. Die Loslösung von Standorten kann beispielsweise zugunsten von europäischen Regionen erfolgen, die vom Niedergang der Industrie oder der Auswanderung vom Land betroffen sind, aber sie können genausogut die Phänomene der Verwüstung dieser Regionen zugunsten von neuen Ländern beschleunigen, in denen die Arbeitskosten geringer sind und die Sozialgesetzgebung weniger einengend ist. Deswegen werden zahlreiche Arbeitsleistungen der Datenerfassung und der Programmierung von Unternehmen des "Nordens" durch asiatische "Telearbeiter" ausgeführt. Übrigens sind jetzt viele der Institutionen der Fernausbildung, der Teleuniversitäten und der Weiterbildungs- und Schulungsangebote im Netz auf den internationalen Markt ausgerichtet. Oft beginnen diese Institutionen, die ursprünglich im "Norden" entstanden sind, die nationalen oder regionalen Systeme mit allen vorstellbaren ökonomischen und kulturellen Implikationen kurzzuschließen. Der zunehmende Gebrauch des Cyberspace kann also, weit entfernt davon, das Gleichgewicht zwischen geographischen Zonen herzustellen, noch die regionalen Unterschiede verstärken.
Der Cyberspace ist wirklich ein mächtiger Faktor der Dezentrierung und Delokalisierung , aber er wird keineswegs die "Zentren" zum Verschwinden bringen. Seine hauptsächliche Wirkung wird zunächst sein, die Vermittlungsstufen obsolet werden zu lassen und für die Machtstrukturen die Möglichkeiten der direkten Kontrolle und Mobilisierung der Ressourcen, Kompetenzen und Märkte, wo sie sich auch immer befinden mögen, zu steigern.
Wir gehen von der Hypothese aus, daß eine wirkliche Wiederherstellung des regionalen Gleichgewichts sich nur durch die explizite Unterstützung von regionalen Initiativen und Dynamiken erwarten läßt, die "gleichzeitig" endogen und der Welt gegenüber geöffnet sind. Wieder ist die notwendige Bedingung dafür, die lokalen Kompetenzen, Ressourcen und Projekte zu verstärken und in Synergie zueinander zu setzen, anstatt sie den Bedürfnissen und Strategien der geopolitischen Zentren und geoökonomischen Kräfte zu unterwerfen. Deswegen geht die Organisation des Territoriums über auf die der sozialen Bindungen und der kollektiven Intelligenz. Die interaktiven Kommunikationsnetze sind nur die Werkzeuge im Dienst einer derartigen Politik. Auch wenn die Instrumente des Cyberspace ganz natürlich die Macht der "Zentren" verstärken, denen sie die Möglichkeit der Allgegenwärtigkeit eröffnen, so können sie doch auch begrenzte Strategien regionaler Gruppenbildung mit sich selbst organisierenden Akteuren unterstützen. Informationsbasierte Techniken, die das wechselseitige Zuhören, die Veranschaulichung von Ressourcen, die Kooperation und die Bewertung von Entscheidungen in Echtzeit erlauben, können die demokratischen Mechanismen und die ökonomischen Initiativen in den benachteiligten Regionen in großem Umfang verstärken.
Was die gegenwärtigen Probleme des Urbanen anbelangt, so werden wahrscheinlich nicht die gutgemeinten Projekte der Stadt im Grünen oder der mehr oder weniger autoritären Bindung der Menschen an ländliche Gegenden, in denen sich regelmäßig verteilt die Einrichtungen für "Telearbeit" befinden, zu ihrer Lösung führen. Die Politik des sozialen Wohnungsbaus, der Verkehrsregulierung und der Reduktion des Autoverkehrs, die Förderung des elektrischen Autos, der Kampf gegen soziale Ungleichheiten, die Armut und die Ghettos bleiben bestehen, unabhängig von jedem Ruf nach den Instrumenten des Cyberspace. Wir sind ganz offensichtlich nicht ablehnend gegenüber einer Telearbeit eingestellt, die sich selbst ohne die Förderung seitens offizieller Stellen weiter entwickelt wird. Aber aus unserer Perspektive sollten die interaktiven Kommunikationsnetze eher zugunsten der Wiederherstellung der städtischen Gemeinschaft, der Selbstverwaltung der Stadt durch ihre Bewohner und der Steuerung der kollektiven Einrichtungen in Echtzeit eingesetzt werden, als der "Substituierung" der konzentrierten Vielfalt, der körperlichen Begegnungen und der direkten menschlichen Kommunikation zu dienen, die mehr denn je die Hauptanziehungskraft der Städte darstellt.
3. Die Assimilation
Die dritte Weise, die Beziehungen zwischen dem Cyberspace und der Stadt zu thematisieren, ist die "Assimilation" der interaktiven Kommunikationsnetze an die Form der Infrastruktur, die bereits das Land organisiert und urbanisiert: Schienenstränge, Autobahnen, Netzwerke von Schiffsverbindungen, der Gas- und Elektrizitätsversorgung, Netzwerke für Kabelfernsehen oder für das Telefon. Eine solche Assimilation, die offensichtlich bestimmten, gut verständlichen Interessen dient, ist sowohl das Handlungsziel eines Teils der politisch-administrativen Technokratie als auch der Manager und "Kommunikateure" der großen, daran beteiligten Industrieunternehmen.
Aus dieser Perspektive stellen die "Datenautobahnen" oder "Multimedia" wesentlich einen neuen Markt für Techniken, "Inhalte" und Dienstleistungen dar, die die Telefon-, Kabel-, Fernseh-, Druck- und Computerindustrien eifrig unter sich aushandeln. Die Zeitungen versuchen verzweifelt, uns für diese titanenhaften Kämpfe zu interessieren. Aber wenn es für diese Unternehmen nicht um Handlungsmöglichkeiten geht, warum sollten dann diese Kämpfe die Bürger angehen? Kabel oder Telefon? Fernsehen oder Computer? Glasfaser oder drahtlos? Es handelt sich meist nur um das Wissen, wer die Vorteile einheimsen wird, und höchst selten um eine gesellschaftliche Diskussion oder um eine kulturelle Orientierung.
Der Zugang zum Cyberspace als einer Assimilation an eine technische Infrastruktur verschleiert oft die zentrale Tatsache, daß für die digitale interaktive Kommunikation die funktionellen Netze unabhängig von den materiellen Netzen sind. Anders gesagt, ein System der interaktiven, perfekt kohärenten und verläßlichen Kommunikation kann über eine unbestimmte Menge an Hilfsmitteln (Hertzspannung, traditionelles Telefon, koaxiales Kabel etc.) und an Kodierungssystemen (digital, analog) realisiert werden, wenn man die geeigneten Schnittstellen und Wandler besitzt. Heute nimmt die digitale interaktive Kommunikation exponentiell durch den Einsatz einer ganzen Skala von "bereits existierenden" verschiedenartigen Infrastrukturen zu. Die regelmäßig erfolgende Steigerung der Übermittlungskapazität ist nur eine der Bedingungen für die Zunahme des Verkehrs. Die Kompressions- und Dekompressionsalgorithmen, die autonome Rechenkapazitäten von intelligenten Netzterminals (die Computer) benötigen, stellen die zweite, komplementäre Schiene für die Zunahme des Kommunikationsverkehrs dar.
Der wesentliche Punkt ist, daß der Cyberspace, die globale Vernetzung der Computer und das gleichzeitig kollektive und interaktive Kommunikationsmittel, sagen wir es offen, keine Infrastruktur ist: es handelt sich um eine bestimmte Art, sich der existierenden Infrastrukturen zu bedienen und deren Ressourcen auszuschöpfen, indem man an eine verteilte und unaufhörliche Erfindungskraft appelliert, die unauflöslich sozial und technisch ist.
Bestimmte Netzoperateure bilden sich ein, sie hätten das endgültige Ziel der aufgeklärten Einstellung erreicht, indem sie erklären, daß "das Wesentliche" der "Inhalt" sein werde. Aber die gewohnte Trennung zwischen den "Kabeln" und dem "Inhalt" ist offensichtlich nur eine Aufteilung des "Marktes" (Sie verkaufen Ihre Informationen, wir stellen die Dienstleistungen bereit). Das Internet, um nur dieses berühmte Beispiel zu nehmen, wird auf eine progressive und interaktive Weise ohne Trennung von Inhalt und Netz konstruiert. Ein wichtiger Anteil der im Netz zirkulierenden Suchanzeigen betrifft Software, um das System zu verbessern. Vor allem war über die Kabel und Inhalte hinaus das wichtigste Ziel des Netzes die Mega-Gemeinschaft oder die unzähligen Mikro-Gemeinschaften, die es zum Leben erwecken, und so ist es immer noch. Der Nerv des Cyberspace sind nicht der Informationskonsum oder die interaktiven Möglichkeiten, sondern er besteht aus der Partizipation an dem sozialen Prozeß einer kollektiven Intelligenz.
Wenn man den Cyberspace an eine Infrastruktur assimiliert, lagert man über eine soziale Bewegung ein industrielles Programm, denn das Wachstum der digitalen interaktiven Kommunikation wurde von keinem multinationalen Unternehmen und von keiner Regierung beschlossen. Gewiß hat der amerikanische Staat eine wichtige unterstützende Rolle gespielt, aber er war auf keinen Fall der Motor einer spontanen und internationalen Bewegung von jungen akademischen Stadtbewohnern, die am Ende der 80er Jahre geradezu explodierte. Neben Unterstützungen seitens der öffentlichen Hand und kostenpflichtigen Diensten, die von privaten Gesellschaften angeboten werden, beruht der Ausbau des Cyberspace auf der freiwilligen Arbeit Tausender von Menschen auf einer kooperativen Grundlage, die Hunderten verschiedener Institutionen angehören und aus Dutzenden von Ländern stammen.
Die Weise, wie sich der Cyberspace entwickelt hat, legt nahe, daß er, um es noch einmal zu wiederholen, keine traditionelle territoriale und industrielle Infrastruktur ist, sondern ein technosozialer, sich selbst organisierender Prozeß, dessen Ziel kurzfristig in einem kategorischen Imperativ der Verbindung besteht (die Verbindung untereinander ist ein Ziel für sich selbst), der mehr oder weniger deutlich auf das Ideal einer kollektiven Intelligenz ausgerichtet ist und schon weitgehend praktiziert wird.
Die Beziehung zwischen dem Cyberspace und der Stadt, zwischen der kollektiven Intelligenz und dem Territorium, verweist vor allem auf die politische Imagination.
4.Die Artikulation
Die von uns vorgeschlagene Perspektive ist weder eine einfache Analogie noch eine Substitution oder eine Assimilation, sondern sie besteht im Denken der "Artikulation" der beiden, qualitativ sehr verschiedenen Räumen: dem Raum des Territoriums und dem der kollektiven Intelligenz.
Das Territorium wird durch seine Grenzen und sein Zentrum definiert. Es wird durch Systeme der körperlichen oder geographischen Nähe organisiert. Hingegen ist jeder Punkt des Cyberspace im Prinzip mit jedem beliebigen anderen kopräsent und Bewegungen können sich in ihm mit Lichtgeschwindigkeit vollziehen. Aber der Unterschied zwischen diesen beiden Räumen entsteht nicht nur aus körperlichen und topologischen Eigenschaften, es sind auch die Qualitäten der sozialen Prozesse, die sich widerstreiten. Die politischen territorialen Organisationen basieren auf der Repräsentation und der Delegation, während die technischen Möglichkeiten des Cyberspace unbekannte und in großem Umfang realisierbare Formen einer direkten Demokratie etc. darstellen.
Um gleich ein falsches Verständnis der "elektronischen Demokratie" zu verhindern, sei genauer gesagt, daß es sich nicht darum handelt, voneinander "getrennte" Menschenmassen gleichzeitig über einfache Vorgaben abstimmen zu lassen, die ihnen durch einen telegenen Demagogen unterbreitet werden, sondern es geht darum, daß Probleme kollektiv und kontinuierlich ausgearbeitet und kooperativ, konkret und möglichst eng mit den betroffenen Gruppen verbunden gelöst werden.
Die beiden Räume zu artikulieren, heißt nicht, die territorialen Formen zu eliminieren und durch einen Cyberspace-Stil zu "ersetzen". Es bedeutet vielmehr, so weit dies möglich ist, die nicht aus der Welt zu schaffende Langsamkeit, Trägheit und Starrheit des Territoriums durch deren Veranschaulichung in Echtzeit im Cyberspace zu kompensieren und die Lösung, vor allem aber die Ausarbeitung der städtischen Probleme durch eine Vergemeinschaftlichung der Kompetenzen, Ressourcen und Ideen zu ermöglichen.
Die kollektive Intelligenz zu wählen, erfordert nicht nur, daß die Mechanismen der Stadt oder der Region und deren Institutionen verändert werden, sondern impliziert auch, daß man die Funktionen des Cyberspace speziell in dieser Perspektive konzipiert. Hier ungeordnet einige Beispiele, wobei die Liste natürlich nicht vollständig ist:
Jedes dieser Werkzeuge sollte von elektronischen Konferenzen begleitet werden, die das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Meinungen, begründete Vorschläge für Verbesserungen sowie den Austausch von Informationen zwischen den Bewohnern und gegenseitige Hilfeleistungen ermöglichen. Dieses Projekt des Cyberspace zugunsten der kollektiven Intelligenz ist darauf ausgerichtet, den menschlichen Gruppen so weit als möglich bewußt zu werden zu lassen, was sie gemeinsam machen, und ihnen die praktischen Mittel der Koordination in die Hand zu geben, um sich in einer Logik der Nähe und des Einbezogenseins die Probleme zu stellen und zu lösen.
Zugang für alle, ja! Aber man sollte darunter nicht einen "Zugang zum Materiellen" verstehen, nicht einen Zugang zum einfachen technischen Netz, der übrigens bald sehr billig werden wird, und auch nicht einen "Zugang zum Inhalt" (als dem Konsum von Informationen oder von Erkenntnissen, die von Spezialisten verbreitet werden). Verstanden sei darunter ein Zugang für alle zu den Prozessen der kollektiven Intelligenz, d.h. zum Cyberspace als einem offenen System der dynamischen Selbstaufzeichnung des Wirklichen, der Expression von Singularitäten, der Ausarbeitung von Problemen, der Verknüpfung eines sozialen Gewebes durch wechselseitiges Lernen und der freien Navigation durch das Wissen. Die hier beschriebene Perspektive fordert keineswegs dazu auf, das Territorium zu verlassen, um sich im "Virtuellen" zu verlieren, oder daß das eine das andere "imitiert", sondern sie regt dazu an, das Virtuelle zu benutzen, um das Territorium besser bewohnen zu können, um daran die Bürger ganz teilnehmen zu lassen.
Wir "bewohnen" alle Milieus, mit denen wir in Interaktion stehen. Wir bewohnen daher den Cyberspace (oder wir werden ihn bewohnen) im gleichen Ausmaß wie die geographische Stadt und wie einen wesentlichen Teil unserer globalen Lebensumwelt. Die Einrichtung des Cyberspace offenbart eine besondere, nicht materielle Form des Urbanismus und der Architektur, deren Bedeutung weiter zunehmen wird. Deswegen stärkt die äußerste Architektur das Politische: sie betrifft die Artikulation und die eigentümliche Rolle verschiedener Räume. Die kollektive Intelligenz an die Schalthebel der Macht zu bringen, heißt erneut, die Demokratie zu wählen, sie zu wieder zu aktualisieren, indem man die besten Potentiale der neuen Kommunikationssysteme ausschöpft.
Aus dem Französischen von Florian Rötzer