Das Internet verwischt nicht nur unsere Vorstellungen von Entfernung sondern ermöglicht auch den friktionsfreien Zugang zu interaktiven Medien ausserhalb spezialisierter Computerräume. Durch den Einsatz von Modem und Netzwerk können die Lernenden auf das Internet und seine Ressourcen sowohl in der Schule, der Universität oder dem Bildungszentrum als auch am Arbeitsplatz oder von zuhause aus zugreifen. Die Ubiquität des Internets wird sich in der nächsten Zeit noch dramatisch verstärken (siehe z.B Schulen ans Netz, Network Computers, freier Internetzugang durch Telefongesellschaft etc.). Trotz der sich nur langssam abbauenden ergonomischen Probleme des Medienträgers Computer (Mobilität, Robustheit, Darstellungsqualität etc.) ermöglicht der zunehmende Trend zu einem allgegenwärtigen Netzzugang den Lernenden die Möglichkeit computerunterstützt zu lernen, wann immer sie dafür Zeit haben oder einfach just-in-time aus einer Problemstellung am Arbeitsplatz heraus [ Wolf 96a].
Die Gestaltung von WWW basierten Lernumgebungen (WBLU) unterstützt und vereinfacht kommunikative, kooperative und kollaborative Lernerfahrungen. Dieser Bereich wurde bisher im traditionellen computerunterstützen Unterricht weitgehend ignoriert [ Webb 95]. Weiterhin können spezielle WBLU konstruktivistische Lernangebote erschaffen, indem Lernende eigene Inhalte erstellen und eine subjektiv-bedeutungsvolle Struktur ihrer eigenener und anderer Informationen konstruieren. Für die Lehrenden besteht die Möglichkeit-befreit von der content provider"-Rolle-ihre Aufgaben neu zu definieren und die Lernenden als Lerncoach oder Lernberater, Mitlernender oder Scout in deren Lernprozessen zu unterstützen [ Kafai & Harel 91, Sembill & Pasch & Wolf & Wuttke 96a].
Für die Entwickler und Nutzer solcher Systeme ergeben sich eine Reihe von Vorteilen:
- Vernetzung und Mehr-Benutzer-Funktionalität sind integraler Bestandteil des Systems;
- Plattform-übergreifende Technologien und Standardisierung (Web-Browser, HTML, Java, Medien wie Quicktime oder Shockwave) ermöglichen ein develop once - deliver many";
- Permanente globale Zugriffsmöglichkeit;
- Zugriff auf extrem grossen Ressourcenpool durch die hohe Forschungs- und Entwicklungsintensität im Internet.
In der sogenannten "Kognitiven Wende" haben elaborierte Input-Throughput-Output-Modelle die vorherrschenden Input-Output-Modelle des Behaviorismus abgelöst. Die internen kognitiven Prozesse werden dabei in Form einer Computer-Analogie beschrieben. Denken wird somit als "körperloser" (disembodied) Symbolverarbeitungsprozess verstanden.
Im Lichte der jüngeren Systemforschung- insbesondere der dynamischen Systemtheorie-beginnt sich ein dynamischer Kognitionsansatz zu formen. Kognition wird als ein dynamischer Prozess verstanden [ Gelder & Port 1995],
- der sowohl kontinuierliche als auch diskrete Zustandsänderungen umfasst,
- in dem simultan multiple Interaktionen in verschiedenen Zeitskalen stattfinden,
- der sich selbstorganisiert und Strukturen emergiert,
- der im Körper und seiner Umgebung eingebettet ist.
Dies ermöglicht die geforderte Einbindung [ Sembill 1992, Omodei & Wearing 1995] auch nicht-symbolischer Prozesse bzw. Zustände wie Emotionen, körperliches Befinden und Motivation in Modellen zu realisieren.
Das Konzept der Selbstorganisation scheint dabei ein möglicher Erklärungsansatz für die Emergenz von Strukturen von der Ebene der Neuronen bis zur Ebene des Bewusstseins 1 darzustellen [ Haken 1988, Thelen & Smith 1994, Kelso 1995].
Als Konsequenz aus diesem Forschungsprogramm, aber auch aus einer reichen pädagogischen Tradition von Rousseau über die Reformpädagogik bis hin zur heutigen Konstruktivismusdebatte, heisst es Abschied zu nehmen vom vorherrschenden Bild des Lernenden (siehe Abbildung 1).
In der Erwartung einer effektiven Passung auf untere Ebenen ist nun vielmehr zu überlegen, wie auch auf der von uns gestaltbaren Ebene des Lehr-Lern-Arrangements Selbstorganisationsprozesse unterstützt werden können-bei gleichzeitiger Sicherung von Verhaltensnormen. Sembill entwickelte dazu in einer Synopse einen Gestaltungsrahmen zur Implementierung selbstorganisationsoffener Lehr-Lern-Arrangements, welcher Gegenstand eines umfangreichen Forschungsprojektes ist [ Sembill 1992, Sembill 1995, Sembill & Pasch & Wolf & Wuttke 1996b]. Die 9-Merkmalsbereich-Matrix (9MB) umfasst dabei die prozessuale Dimension (Zielbildung, Problemlösung, Systemkontrolle) und die Dimension der Agenzien des Lernprozesses (Inhalt, Lernende, Lernumgebung inkl. Lehrer)(siehe Abbildung 2).
Abb. 2: Die 9 Merkmalsberiche selbstorganisationsoffenen Lernens [ Sembill 1992, Sembill 1995]
Interaktive Medien können in sechs Kategorien unterteilt werden [ Wolf 1996b]:
(1) Übungsprogramme (Computer Based Training ) (CBT)
(2) Tutorielle Systeme und Intelligente Tutorielle Systeme (TS/ITS)
(3) Simulationen (inkl. Microworlds und Virtual Reality) (SIM)
(5) Programmier- und Autorenumgebungen sowie Anwendungsprogramme (PROG) im Sinne von cognitive tools.
(6) Computergestützte Kommunikations und Kollaborationswerkzeuge (Computer mediated communication and collaboration tools) (CMCC)
In einer Synopse wurden dabei die Unterstützung der neun Merkmalsbereiche durch die verschiedenen Interaktiven Medien analysiert [ Wolf 1996b]. Daraus ergab sich die Notwendigkeit einer Kombination der verschiedenen Interaktiven Medien für ein selbstorganisationsoffenes Medienangebot.
Basierend auf einer hypermedialen Grundstruktur werden andere Interaktive Medien als Knoten integriert (siehe Abbildung 3, siehe auch 4. Ausblick)
Weiterhin wurden fünf Grundanforderungen an den Handlungsraum innerhalb eines Medienangebots formuliert, welches den Lernenden eine in einen sozialen Kontext ein ge bunde Auseinandersetzung mit persönlich relevanten Fragestellungen ermöglichen soll (5K)[ Wolf 1996b]:
- Kommunikation: Miteinander in Kontakt treten können.
- Kooperation: Sich gegenseitig helfen können, Arbeitsergebnisse sichten und einen peer-review durchführen können.
- Kreation: Eigene Inhalte im System erstellen können.
- Kollaboration: Zusammen an einem Produkt arbeiten und das Ergebnis gemeinsam verantworten.
- Konstruktion: Eigene Strukturen (Verknüpfungen, Netzwerke) der vorhandenen, durch die Lernenden selbst oder durch Mitlernende eingebrachte Information konstruieren.
Für den Einsatz in einem selbstorganisationsoffenen Lehr-Lern-Arrangement in einer Berufsschule im Lehrgang Materialwirtschaft wurde eine Web Basierte Lernumgebung SoLe/W3 in Form eines virtuellen Campus geschaffen, die vier Gebäude umfasste (Wolf 1995, siehe Abbildung 4):
Abb. 4: Der virtuelle Campus unter SoLe/W3
(1) Ein Medien-Zentrum in dem die Lernenden hypermediale Dokumente anschauen, suchen und erstellen sowie eigenen Verbindungen (Links) einfügen konnten.
(2) Ein Kommunikationszentrum mit einem schwarzen Brett, einer Post und einer Diskussionshalle.
(3) Ein Ausstellungs-Zentrum in dem die Arbeitsergebnisse der einzelnen Lernenden oder der Lerngruppen einzusehen waren.
(4) Eine Modellfirma, deren Datenraum von den Lehrern der beteiligten Schule in verschiedenen Word- und Excel-Dateien (z.B. Lagerinventar, Kalkulationsschemata) abgebildet waren.
Somit wurden in dieser Implementation drei Kategorien Interaktiver Medien eingebunden (Hypermedia, Computergestützte Kommunikationswerkzeuge und Anwendungsprogramme) sowie 4 Ks (Kreation, Konstruktion, Kommunikation sowie Kooperation) unterstützt.
Die WBLU SoLe/W3 wurde in einem 40 stündigen Lehrgang Materialwirtschaft an einer Berufsschule im 2. Lehrjahr Industriekaufleute als Medienpool eingesetzt 2 . Der Web-Server und die entsprechenden CGI-Skripte 3 liefen auf einem 486/66-Rechner unter Windows 3.11 mit 16MB RAM. Die notwendigen CGI-Skripte wurden in VisualBasic 3.0 realisiert. Auf den Client-Rechnern (386/16 unter Windows 3.11) lief Netscape 1.0, Microsoft Word und Microsoft Excel.
In der Prozessevaluation bestätigten sich gängige GUI-Regeln [Shneiderman 1992, Eberts 1994]. So wird Scrollen möglichst vermieden, Bilder erregen mehr Aufmerksamkeit als Text und Mehr-Fenster-Technik verwirrt.
Die Wahl des WWW als Plattform für eine Lernumgebung hat sich bewährt. Neben den in der Einleitung genannten Vorteilen kamen die Schüler mit der Technologie gut zurecht und waren insbesondere an der Möglichkeit interessiert zu kommunizieren und eigene Inhalte einzubringen. Allerdings waren die 40 Stunden für die intensive Nutzung aller Bereiche der Lernwelt zuwenig, vor allem da SoLe/W3 nur ein optionales Angebot an die Lernenden darstellte.
Für die weiterführende Analyse der Nutzung der Lernumgebung lauten die Fragestellungen (Wolf 1996a):
- Wie unterscheiden sich Lernende in ihrer Nutzung der WBLU?
- Wie assimilieren (lernen) die Lernenden die von anderen bereitgestellten Informationen?
- Wie wächst der Informationsraum und seine Struktur?
- Wie beeinflussen die unterschiedlichen Nutzungsstile den Lernerfolg?
Für die Analyse ist ein Werkzeug in Mathematica zur Datenerfassung, -visualisation und -analyse in der Entwicklung. Neben einer graphentheoretischen Analyse interessiert hier vor allem die Frage, ob und wie man die Nutzung solcher Systeme mit Hilfe komplexer dynamischer Modelle abbilden und analysieren kann (http://www.erziehung.uni-giessen.de/wise/lyza.html).
Im Vergleich zu traditionellen computergestützten Lernumgebungen werden durch die möglichen kommunikativen und kooperativen/kollaborativen Eigenschaften von WBLU Co-Lernende und Lehrende (in einer veränderten Rolle) besonders wichtig. Die Technik schafft hier sogar teilweise erst die Voraussetzung für die effiziente Durchführung von verteilten Gruppenarbeitsprozessen. Der kreative und konstruktive Einsatz ermöglicht den Lernenden eigene subjektiv handlungsrelevante Informationen bzw. auch Artefakte ihrer Handlungen in der realen Umwelt (z.B. Fotografien von Exkursionen, Filme von Experimenten etc.) explizit und für andere verfügbar zu machen.
Weiterhin zeigt sich hier, dass die Medieneinbindung des Internet in einem selbstorganisationsoffenen Ansatz die wirklich neue Qualität des Internet zur Entfaltung kommen lässt. Denn auch das World Wide Web kann als blosses Nachschlagewerk missbraucht werden. Den im Internet erweiterten Handlungsräumen darf (und kann wohl auch) nicht mit verstärkten Reglementierungen begegnet werden.
Mittlerweile ist eine neue WBLU Webber in der Entwicklung (http://www.erziehung.uni-giessen.de/wise/webber.html). Ziel der Bemühungen sind sogenannte flexibilitätsoffene Interaktive Medien (flexIM). Die Lernenden können dabei jeweils bestimmen, in welcher Weise sie einen Inhalt betrachten wollen. So können sie z.B. von einer hypermedialen Darstellung auf eine Kommunikationssichtweise wechseln und Fragen zu dem speziellen Inhalt stellen, um danach in einer Simulationssichtweise zu experimentieren. Programmiert wird Webber als offenes System in Java (siehe Abb. 5) und ermöglicht das "Einhängen" neuer Sichtweisen (Modelle) wie z.B. semantische Netzwerke. Auch die Darstellung (Presenter) der Lernumgebung ist austauschbar. Die Medienelemente werden separat für den allgemeinen Zugriff durch die Modelle in einer objektorientieren Datenbank (Medienpool) gespeichert.
Abb. 5: Implementionschemata flexibilitätsoffener Interaktiver Medien unter Webber
Eberts, R.E. (1994). User Interface Design. Prentice-Hall.
Haken, H. (1988). Information and self-organization: a macroscopic approach to complex systems. Springer.
Kafai, Y. & Harel, I. (1991). Children Learning Through Consulting. In: Harel, I. & Papert, S. (Hrsg.). Constructionism. Iblex, 111-140.
Kelso, J.A.S. (1995) Dynamic Patterns. The Self-Organization of Brain and Behavior. Bradford.
Omodei, M.M. & Wearing, A.J. (1995). Decision Making in Complex Dynamic Settings: A Theoretical Model Incorporating Motivation, Intention, Affect, and Cognitive Performance. In: Sprache & Kognition, 14, Heft 2, 75-90.
Salomon, G. (1993) (Hrsg.). Distributed Cognitions. Cambridge Univ. Press.
Sembill, D. (1992). Problemlösefähigkeit, Handlungskompetenz und Emotionale Befindlichkeit. Hogrefe.
Sembill, D. (1995). Der Wille zum Nicht-Müssen: Gestaltungskraft im Spannungsfeld zwischen Innovation und Organisation. In: Bunk, G.P. & Lassahn, R. (Hrsg.). Pädagogische Varia. Ehgart & Albohn, 125-146.
Sembill, D. & Pasch, H.-J. & Wolf, K.D. & Wuttke, E. (1996a). Selbstorganisierte Lernprozesse. In: Sembill, D. & Wuttke, E. (Hrsg.). Innovationsfähige Lernwege. In Vorbereitung.
Sembill, D. & Pasch, H.-J. & Wolf, K.D. & Wuttke, E. (1996b). Mess- und Auswertungsprobleme bei der Umsetzung Selbstorganisierten Lernens. In: Treumann, K.-P. & Neubauer, G. & Möller, R. & Abel, J. (Hrsg.). Methoden und Anwendungen empirischer pädagogischer Forschung, Waxmann, im Druck.
Shneiderman, B. (1992). Designing the User Interface. Addison-Wesley.
Thelen, E. & Smith, L.B. (1994). A dynamic systems approach to the development of cognition and action. MIT Press.
Van Gelder, T. & Port, R.F. (1995). It's About Time: An Overview of the Dynamical Approach to Cognition. In: Port, R.F. & Van Gelder, T. (Hrsg.). Mind as Flow. Explorations in the Dynamics of Cognition. Bradford, 1995.
Webb, B.R. (1995). Opinion: Educational Research and Computer Supported Co-operative Learning. In: Innovations in Education & Training International, 32 (2), 139-146.
Wolf, K.D. (1995). The implementation of an open learning environment under World Wide Web. In: Maurer, H. (ed). Educational Multimedia and Hypermedia, 1995, Association for the Advancement of Computing in Educational Multimedia and Hypermedia, 689-694.
Wolf, K.D. (1996a). Analyzing the Process of Learning in a Web Based Community of Learners. In: Carlson, P. & Makedon, F., Educational Telecommunications, 1996. Association for the Advancement of Computing in Education, 337-342.
Wolf, K.D. (1996b). Der Einsatz und die Gestaltung Interaktiver Medien in selbstorganisationsoffenen Lehr-Lern-Arrangements. In: Sembill, D. & Wuttke, E. (Hrsg.). Innovationsfähige Lernwege. Im Erscheinen.
Und darüber hinaus in Gruppen im Sinne einer distributed cognition (Salomon 1993).
Weiterhin wurde SoLe/W3 und Prototypen des Nachfolgers Webber (siehe Abschnitt 5) im universitären Umfeld eingesetzt.
CGI-Skripte ermöglichen die Funktionserweiterung eines Web-Servers. So konnten z.B. die Lernenden Informationen eingeben, die dann vom CGI-Skript in WWW-Seiten umformatiert wurden.