Rainer RillingAuf dem Weg zur Cyberdemokratie?
1 Einleitung "Im Internet ist man frei. Es gibt keine Zensur, keine Diktatur und keine Filter. Jeder kann tun und lassen was er will. Keine Kontrolle mehr, keine Hierarchie, kein Gesetz. Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Demokratie, der Hyperdemocracy, einem neuen athenischen Zeitalter der Demokratie." Solche oder ähnliche Sätze haben wir alle schon gehört.
Diesen speziellen Satz allerdings mit Sicherheit nicht. Er
ist frei erfunden - komponiert aus Wörtern von Al Gore, Newt
Gingrich, der Time, Hilmar Kopper und dem Sommerprospekt
1995 der Telekomwerbeagentur 1 &
1.1
Kein Problem, Wörter von Bill Gates oder Mark Andreessen
oder John Barlow oder Bruce Sterling oder von Wired oder von
.Net oder pl@anet dar¸berzulegen. Die 50 oder 100 oder
200 Jahre, die sie gehalten hat und die 400, die sie bedacht
wurde, die Demokratie der b¸rgerlichen Moderne, diese
Jahre gehen da zu Ende im Rauschen des hohen
Datendurchsatzes der Propheten einer neuen Ära -
Das provoziert weitreichende Gleichheits- und darauf aufbauende Demokratievermutungen. Das Netz gilt dann als Dimension und Tool eines neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit, an das sich die Hoffnung einer Revitalisierung der modernen Demokratie heftet. Die neue ÷ffentlichkeit des Netzes sei global und universell, dezentriert, zwang- und zwangslos, diskursbewegt und anti-hierarchisch. An das Netz heftet sich die Idee eines neuen politischen Kommunikationsraumes, der sich zur wichtigen Bewegungsform einer informierten und beteiligungsintensiven Mitwirkungsdemokratie entwickeln könnte, sollte, m¸sste. Doch halt: - > da gibt es die kulturpessimistisch getragene
Mutmaßung, die durch elektronische Demokratie das
prekäre Arrangement indirekter, repräsentativer
Elitendemokratie durch populistische Inszenierung eines
schwankenden Mehrheitswillens bedroht sieht. 2 Befund So scheint das Sprechen und das Schweigen ¸ber die Netze und die Politik zu schwanken zwischen Hype und Horror. F¸r die Wissenschaften - ob Medienwissenschaft, Soziologie oder politische Wissenschaften - ist der Konnex von Netz und Politik bislang kaum ein Problem. Sogar die mittlerweile fast im Tagesrhythmus die Folders unserer elektronischen Briefkästen traktierenden Umfragen, die Werbeagenturen, Marketingfirmen und zwischengepr¸fte Drittsemester ¸ber uns bringen, ignorieren die Frage, die uns hier beschäftigt. 4 Kurz: wir haben es mit einem Massenmedium zu tun, das trotz seiner Herkunft aus der Politik, der militärischen Hochkultur des Pentagon und der amerikanischen alternativen Zivilkultur, offenbar kaum wissenschaftliche Selbstreflektion auf seinen politischen Struktur- und Entwicklungskontext hervorbringt. Dies kann bereits als Eingangsindiz f¸r eine erste, durchaus weitreichende, aber ganz undramatische These stehen. These: das Netz ist unpolitisch.2. 1. Quantiative PräsenzWas steht in einer n¸chternen Bilanz jeneseits von Hype und Horror noch daf¸r?
2. 2. Nutzung und PositionierungFragen wir nach der Nutzung und Positionierung, also Vernetzung der Sites. Anfang 1995 stand f¸r Newt Gingrich die Einrichtung des WWW-Servers "Thomas" des US-Kongresses für eine Machtverlagerung vom Washingtoner Machtgürtel zur Bürgerschaft. 5 Tatsächlich ist "Thomas" einer der wichtigsten politischen Web-Server. Die Home-Page des Servers vermeldet gegenwärtig ¸ber 200 000 Zugriffe im Monat und täglich werden fast 70 000 Dateien kopiert. Zwischen dem 7. März 1996 und dem 28. November 1996 wurden ¸ber 22 Millionen Files ¸bertragen. Ein weiteres Beispiel ist der Web-Site während des Parteitages der Republikanischen Partei im August 1996: er soll - so AT&T; - täglich von rund 700 000 Personen aufgerufen worden sein - eine beeindruckende und unglaubw¸rdige Gröþenordnung. Die bundesdeutschen politischen WWW-Sites haben vorsichtshalber bisher - in aller Regel - auf die ¸blichen Netzzählwerke verzichtet. Zu hören ist, dass Greenpeace Deutschland täglich 5000 Kontakte vermeldet - was etwa 400 Personen entspräche, Amnesty International spricht von 6000 Zugriffen. Die SPD vermeldet 120 000 Hits pro Monat, der FDP war das Einklicken von täglich so gerade Mal 50 Leuten in ihre Homepage eine Pressemitteilung wert, das Bundespresseamt notierte im Herbst 1996 5000 Abrufe pro Tag, das gut gefeaturete Berliner Projekt "Parlamentarier im Internet" gibt an, dass es binnen eines Jahres knapp 500 000 Aufrufe hatte.6 Ein vergleichsweise politischer akademischer Site wie der meine -"Wissenschaft plus Politik"- zählt im Moment zwischen 30 und 150 Zugriffe am Tag. W¸rde der Site heiþen "PolitikplusSex-XXX.com" wäre das die Zugriffshäufigkeit pro Sekunde. Hier soll der Aufmacher der Suchmaschine Infoseek am Morgen nach Bill Clinton`s Wiederwahl am 6.11.1996 nicht vorenthalten werden - zu lesen war da: "More people use infoseek finding Pamela Anderson than Bill Clinton. Sorry for that, Bill." Vollends unbeantwortet schlieþlich bleibt die Frage, wer es denn nun ist, der sich da politisch einklickt, zugreift, kopiert, transferiert - und vielleicht sogar liest. Die Server-Statistik von "Thomas" vermerkt, dass mehr als die Hälfte des erfassten Datentransfers in 1996 aus den .com, .gov, mil. und .edu-Domänen kam - und gerade mal 2,56 % aus dem .org-Bereich, der, wenn wir Newt Gingrich glauben wollten, noch am ehesten als Organisationsfeld der "B¸rgerschaft" gelten könnte. Exakt 0,1 % des Datentransfers von "Thomas" in 1996 erfolgte ¸brigens in die Bundesrepublik. Diese Angaben stehen somit eher f¸r die Vermutung, dass politische Datenkommunikation selbstreferentiell im Staatsapparat und zwischen Wirtschaft und Politik erfolgt, andere gesellschaftliche Teilsysteme daran demgegen¸ber nur äuþerst gering partizipieren. Fraglich, ob dies Empowerment, Ermächtigung, Machtverlagerung anzeigt. Viel eher wird hier ein Umstieg auf ein anderes Kommunikationsmedium oder Kommunikationsverdichtung bzw. -steigerung zwischen den existierenden Zentren Business und Politik deutlich. Eine Analyse der Positionierung der politischen Sites im Informationsraum durch eine Rekonstruktion des Verweissystems ist m.W. bislang nicht vorgenommen worden. Eine Recherche mithilfe der Suchmaschine "Ultraseek" am 6.11.1996, welche die Anzahl der Verweise auf den jeweiligen Site aus dem Netzraum sowie innerhalb der Sites erfasst, zeigt
2. 3. CybercampaigningNat¸rlich gab und gibt es politische Bewegung
auf dem Netz. Doch Gary Chapman von der CPSR schrieb in der
Los Angeles Times vom 16.9.1996: bis jetzt zumindest sei das
Internet noch kein Zoon Politikon, das Web ist kein
political animal. Das Netz war ruhig zwei Monate vor
der nationalen Wahl und dabei blieb es auch, von den
¸blichen Verdächtigen - Netscape, Microsoft, Playboy -
einmal abgesehen. Der Communications Decency Act und die
Telekommunications Bill, die monatelang die politische
Kommunikation im amerikanischen Netz thematisch dominierten,
spielten im Wahljahr keine Rolle. Keine Rede davon, dass der
Wahlkampf online tobe, das Netz das TV als politische
B¸hne ersetze: zwischen 85 und 88 % der US-Bevölkerung
sind offline - ein TV-Werbespot bei NBC erreicht eine
Zuschauermenge, die der weltweiten virtuellen Gemeinde
entspricht. 2. 4. Qualitative PräsenzDie Diagnose vom unpolitischen Netz ist erklärungsbed¸rftig. Doch schlieþen wir zunächst noch die Beschreibung mit der Frage ab, welche Art von Politik es ist, die hier kommuniziert wird und wie diese Kommunikation geschieht. Betrachtet man die Präsenz expliziter Politik im Informationsraum näher, dann lassen sich drei Gruppen unterscheiden:
Drei Kategorien politischen Akteure prägen schon jetzt und vor allem zuk¸nftig die Arena politischer Netzkommunikation:
Kein aufmunternder Befund. 3 Erklärungen Fragen wir nach den Ursachen daf¸r, dass sich die Entgrenzung des militärischen [also politischen] Netzraums seit den späten 80ern als Entpolitisierung vollzog. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass die augenblickliche Relevanz des Politikfeldes fast ausschlieþlich mit Standort, Markt und Profit zu tun hat, dass nicht elektronische Demokratie, sondern Bitbusiness angesagt ist, die Ära der neuen Unübersichtlichkeit gerade Mal ein Jahrzehnt gedauert hat und somit die Epoche der neuen Übersichtlichkeit des Marktes auch auf dem Felde der Kommunikation und Medien begonnen hat. Dies alles reflektiert zumindest hierzulande auch, was sich in einer zweiten, erklärenden These formulieren lässt: These: In der Agenda der neuen, offiziellen Netzpolitik verwandelt der Cyberspace alles - nur nicht die Politik. In der Utopie der neuen Informationsgesellschaft, von der uns die Politik in Gestalt der Regierung erzählt, ist der Politik die Rolle des Paria zugedacht.3. 1. Politik als PariaEine Analyse der zahlreichen Konzept-, Strategie-, Planungs- und Programmpapiere, die seit 1993/4 von der Bundesregierung oder verschiedenen EG-Einrichtungen publiziert wurden, lässt sich in drei Feststellungen zusammenfassen: mögliche Transformationen des politischen Systems durch die Entwicklung des neuen Massenmediums und Informationsraums Netz
Das Problem wird vorweg mit allen Mitteln
institutioneller Geschäftigkeit und multimedialer Lautgebung
beschwiegen: parlamentarisch-mehrheitsfraktionell,
ministeriell und kanzlerseitig. Die von der
Enquetekommission des Bundestages behandelte
"Zukunft
der Medien" kommt offenbar ohne jede Auswirkungen auf
die Verfassung des politischen Systems aus - vielleicht ist
das der Grund, warum der Vorsitzende der Kommission Siegmar
Mosdorf zur Eröffnungssitzung sagte, "daþ wir es mit
nichts weniger als einem ökonomischen, technologischen und
kulturellen Quantensprung...zu tun haben". Von einem
Quantensprung in der Politik war da nicht die Rede. Im
September 1994 befasste sich erstmals der
Gesprächskreis
f¸r wirtschaftlich-technologische Fragen der
Informationstechnik (Petersberg-Kreis) unter Leitung des
BMWi, BMBF und des BMPT mit dem Thema
"Informationsgesellschaft" und beschloss zwei Arbeitsgruppen
hierzu, die, dann weiter differenziert, einzelne
Arbeitsfelder bearbeiteten. Das Thema "Demokratie" war nicht
dabei. Es kam auch nicht vor in dem
Diskussionspapier
des BMBF zum Thema "Informationsgesellschaft -Chancen,
Innovationen und Herausforderungen" vom 15.05.1995 und
im zentralen Textband des BMWi zum Thema
Informationsgesellschaft
vom selben Jahr. Das dann auf zentraler Ebene inszenierte,
legitimationspolitisch starke Papier des "Rates f¸r
Forschung, Technologie und Innovation" vom Dezember 1995
"INFORMATIONSGESELLSCHAFT
Chancen, Innovationen und Herausforderungen" handelt die
Demokratie- bzw. Politikfrage auf einer von 60 Seiten ab. Im
zusammenfassenden Programmdokument
"Info
2000: Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft"
der Bundesregierung endlich taucht auf S. 85 in einem
älteren Schaubild das Wort von der "politische Partizpation"
auf - und gleich wieder ab. Nicht einmal die Agenda der im
Herbst 1996 in Bonn gestarteten groþen Dialog- und
Akzeptanzoffensive
"Forum Info
2000" bearbeitet die Demokratiefrage und die
zuk¸nftige Rolle der Politik in der
Informationsgesellschaft. Typisch ist vielmehr der
Themenwechsel: es geht um "b¸rgernahe" Verwaltungen mit
"dialogischen" Benutzerschnittstellen zum B¸rger, vor
allem aber um vernetzte, schlanke, effiziente und optimierte
Verwaltungssysteme (z.B. realisiert ¸ber das
Projektb¸ndel
Polikom),
wobei zumeist die Telebr¸cke Bonn-Berlin als
Pilotprojekt inszeniert wird und andere, demokratiepolitisch
relevante Vorhaben wie
Zeno
eher ausgeklammert bleiben
9
Es geht offenbar nur um den Ausbau konsultativer oder vielleicht dialogischer Elemente, so wie es eine einschlägige Werbeschrift des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung aus dem Jahr 1996 formuliert: die Bundesregierung habe sich "seit Jahren mit der Frage (beschäftigt), wie die B¸rgerinnen und B¸rger online informiert werden können"11. Während sich auf EG-Ebene in den ersten strategischen Programmpapieren und Dokumenten wie dem Bangemann-Report ein durchaus vergleichbares Politikverständnis gezeigt hat, erörtern die neueren Papiere auch demokratiepolitische Fragestellungen. Zu nennen sind insbesondere das Gr¸nbuch: Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft der Europäischen Kommission, der Bericht der Arbeitsgruppe 2 des Forums Informationsgesellschaft der Europäischen Kommission Basic Social and Democratic Values in the Virtual Community [Br¸ssel, Final report 1996] und vor allem der innovative Bericht der High Level Expert Group: Eine europäische Informationsgesellschaft f¸r alle [Br¸ssel Januar 1996] 12. Von den politischen Positions- und Programmpapieren der Bundesregierung unterscheiden sich diese Berichte dadurch, dass politische Kommunikation nicht nur als Frage des Informationszugangs bzw. der Verteilung und Sicherung von Informationen und des konsultativen Feedbacks verstanden wird, sondern auch die komplizierte Frage nach der Veränderung von politischen Entscheidungsprozessen, der "unmittelbaren Referendumsdemokratie" aufgeworfen wird. Der Bericht der "Gruppe der hochrangingen Experten" entwickelt dabei als einziger seine skeptische Argumentation aus einer kritischen Sicht auf die Sozialstruktur und -verfassung der (neuen) Informationsgesellschaft um zu begr¸nden, dass ohne eine aktive Gesellschaftspolitik das Demokratisierungspotential der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien nicht wirksam werden könne.13 F¸r alle hier genannten Texte ist jedoch typisch, dass sie weder Visionen, Utopien oder Szenarien einer politischen Ordnung der zuk¸nftigen Informationsgesellschaft entwickeln noch irgendwelche konkrete Vorschlägen und Handlungsorientierungen zur Gestaltung des zuk¸nftigen politischen Systems vorlegen. In den konkreten politischen Planungen zur Informationsgesellschaft seitens der europäischen Gremien spielt die Frage nach der Demokratiepolitik und der Veränderungen der politischen Organisation Europas keine Rolle. These: In der Art und Weise, wie Politik im Netz präsent ist und kommuniziert wird, reflektiert sich der mittlerweile dominierende Umbau des Netzes zu einem Verteilmedium3. 2. Der Umbau des Netzes zum VerteilmediumDie gängige Netzpraxis tendiert immer stärker, wie Ralf Hecht14 gezeigt hat,
Demgegen¸ber nimmt die Nutzung der klassischen, vergleichsweise interaktiven Massenkommunikationsanwendungen Mailing-Listen und Newsgroups ab: "Diese Entwicklung deutet unverkennbar eine Annäherung des Internet an das digital verbreitete Vielkanalfernsehen an...Die Einbindung kommunikativer Elemente wird vernachlässigt, so daþ die Tendenz zu einem Verteiler- und nicht zu einem Kommunikationsmedium geht."(Hecht) Nicht-interaktive Verteilmedien - wie das Fernsehen - können aber bestenfalls zur individuellen Meinungsbildung, nicht aber zur öffentlichen politischen Willensbildung beitragen. Ein wesentlicher Grund f¸r diese Veränderung ist die Entwicklung des multimedialen WWW zur Plattform, zur allgemeinen Benutzerschnittstelle des Netzes: das WWW transformiert das Netz in ein Medium, das die Konsumtion oder Nutzung auþerordentlich demokratisiert, die Produktion jedoch mittlerweile durch die Implementierung einer extrem differenzierten und hochprofessionalisierten technischen Kultur dramatisch rehierarchisiert, deren Aneignung immer mehr ökonomisches und soziales Kapital voraussetzt. Mit der Professionalisierung der Netzangebote wird die Etablierung von Angeboten in finanzielle Gröþenordnungen gehoben, die von Privatpersonen nicht mehr realisierbar sind. Die Firma Cadillac beispielsweise gab Mitte 1996 an, dass die Konzipierung und Einrichtung ihres Web-Servers eine Million $ Produktionskosten wert war. Damit wird das Zentrum des Interaktivitätsversprechens des neuen Mediums zerstört: der unschwere Rollenwechsel zwischen Produktion und Konsumtion. Spätestens hier nun kommen die realgesellschaftlichen Ungleichheiten ins Spiel, wenn es um die Verteilung politischer Angebotsmacht im neuen Informationsraum geht. These: Reale Ungleichheit verdoppelt sich, wenn auch gebrochen und modifiziert, in der Netzwelt.3. 3. Die netzweltliche Verdoppelung der realen Ungleichheit"Und die Träume, Reportagen, Bilder, Editorials des Wohnzimmer-Publizisten aus Augsburg stehen im Netz gleichrangig neben FAZ, Welt, WDR oder SPIEGEL." (Spiegel 11/1996, S.88). Die gängige Abstraktion von den realgesellschaftlichen, materiellen Voraussetzungen politischer Gleichheit, die ihrerseits erst politischer Partizipation verallgemeinerbar macht, ist fester Bestandteil der Illusionsrhetorik der schönen neuen Netzwelt. Demgegen¸ber muþ auf grundlegende Ungleichheiten verwiesen werden, die den neuen Informationsraum signifikant auszeichnen und die nur in wenigen Fällen als Ðbergangsphänomen der Konstitutionsphase des Netzes als Massenmedium begriffen werden können. Es geht um Ungleichheit15
Diese Ungleichheiten begr¸nden nat¸rlich, warum das gegenwärtig etwas mehr als 1 % der Weltbevölkerung ansprechende Netz - je weiter es sich entwickelt - vor allem jene repräsentiert, die realgesellschaftlich Ressourcen mobilisieren können und schon dort als starke Institutionen präsent sind. Nat¸rlich gibt es die Media-Rich und die Media-Poor auf dem Netz. These: die "Logik des Hyptertextes" strukturiert die politischen Verhältnisse im Informationsraum mit3. 4. Hypertext und MainstreamBegeben wir uns in den Informationsraum hinein und
fragen, ob er Eigenschaften hat, die dort - und nirgendwo
sonst - existieren und ob diese eine politische Implikation
haben. Als auszeichnende Eigenschaft des WWW - nicht des
Usenet20
oder der E-Mail-Praxis - wird die Hypertext-, also
Verweistruktur angesehen. Das Revolutionäre an Verweisen ist
die Transzendierung der Fuþnote. Mit dem WWW erhält
die Fuþnote mindestens eine weitere Fuþnote und
noch eine und noch eine - etwas, was kein
Textverarbeitungsprogramm des Herrn Bill Gates jemals
konnte. Was bedeutet diese Verweispraxis und welche
politische Bedeutung hat sie? Das Web generiert den
eigenartigen, systemspezifischen Zwang, Kenntnis vorhandener
Präsenzen durch Links auszuweisen, somit das Bem¸hen,
in einem Raum eigene Zentralität zu demonstrieren, dessen
einfachste Grundstruktur eben durch das Verhältnis von
Zentrum und Peripherie gebildet wird. Die grassierenden
Hotlists, die es in anderen Medien so eben nicht gibt - dass
es keine politischen Hotlists gibt, indiziert, dass dieser
Bereich zu peripher ist; aber cool political sites of the
day und ähnliches gibt es wohl - stehen f¸r diesen
Imperativ. Nur wer Verweiskompetenz demonstriert, verhält
sich programmgerecht, systemspezifisch,
informationsraumgerecht. Anerkennung durch andere vollzieht
sich ¸ber einen zweistufigen Bildungsprozess von
Zentralität: erstens Nachweis der Kenntnis des
Informationsraumes durch Verweise auf andere/s, zweitens
Aufbau eines exklusiven Angebots, auf das selbst verwiesen
wird, das also ins Zentrum r¸ckt - am Ende steht als
Höhepunkt die Namensgebung: ein Angebot wird benannt nach
dem Namen des Anbieters. Seit 1996 existieren Verzeichnisse,
die täglich weltweit Web-Sites nach der Anzahl der Zugriffe
auflisten. 3.5. Navigatoren im politischen RaumDie politisch bedeutungsvolle technische Logik des Hyptertextmechanismus wird durch die spezielle Funktionsweise der mittlerweile etablierten Orientierungsprozeduren massiv gest¸tzt. These: Suchmaschinen unterst¸tzen häufig die politische Logik des HyptertextesWährend bis 1994 Kataloge, virtuelle Bibliotheken, Verzeichnisse, Guides und den Browsern beigegebene Sammlungen zur Benutzerf¸hrungen das dominierende Orientierungsmittel auf dem Netz waren, haben ihnen seitdem die weit ausgreifenden Suchmaschinen offenbar den Rang abgelaufen, von denen "Internet Sleuth" Anfang 1996 ¸ber 900 zusammenstellte. Ihre Nutzung ist zur Standardprozedur geworden, die das sequentielle oder diffuse Abarbeiten von Verweisen weitgehend ersetzt. Die Kapazität dieser Programmkomplexe der Suchmaschinen ist mittlerweile beträchtlich: Alta Vista gab im November 1996 an, 30 Millionen Seiten von 275 000 WWW-Servern sowie 4 Mio. Artikeln von 14 000 Usenet-Gruppen vollindiziert zu haben. Die täglichen Zugriffe auf den Site liegen bei 23 Millionen. Lycos, welches das Netz täglich katalogisiert, hatte Anfang 1996 19 Millionen URL`s (einschlieþlich Bildern, FTP und Gopher) erfasst [Ende 1996: 70 Mio URL`s], darunter 11,5 Millionen WWW-Seiten, von denen weniger als die Hälfte voll indiziert waren; die Lycos-Datenbasis umfasste im Fr¸hjahr 1996 ca. 2,3 Mrd Wörter. Die Suchmaschinen nutzen Softwareagenten (Spider) um eine URL nach der anderen aufzusuchen. Dort einmal angekommen, verhalten sich die einzelnen Maschinen jedoch unterschiedlich. Einige Maschinen senden ihren Agenten zu jeder Seite und nehmen den Volltext jeder Seite auf. "Andere", so schreibt ein Beitrag in Internet World vom Mai 1996, "analysieren zunächst die Adressen des Datensatzes um zu ermitteln, welche Sites am populärsten sind (typischerweise, indem sie die Anzahl der Links ermitteln, die auf die fraglichen Sites verweisen). Dann schicken sie Programme aus um Informationen nur ¸ber diese Sites zu erfassen". Ein Beispiel ist die Excite-Suchmaschine, die ca. 1,5 Millionen Seiten indiziert hat: "Die Maschine versucht nicht, alle Web-Seiten zu sammeln, sondern sie baut eine Schätzung der populärsten Seiten auf, indem sie die Links erfasst, die auf Seiten liegen, die bereits als bekannt seien. Um Seiten zu finden, die noch nicht populär sind, wird der Spider zu einer Anzahl "What`s New"-Sites geschickt." Zu Lycos vermerkt Internet World: "Lycos baut seine Datenbank kumulativ auf, statt sie periodisch von Neuem zu generieren. Indem Lycos Informationen ¸ber neue und bereits existierende URL`s regelmässig updated, stellt die Lycos-Software ein Maþ der Popularität jedes Sites her, indem sie nach der Zahl anderer Links schaut, die auf diese Sites verweisen. Die Maschine nutzt dann diesen Popularitätsindex, um jede einzelne Suche durchzuf¸hren.... " Auch der Web Crawler fungiert nach dem Popularitätsindex: seine ca. 500 000 Seiten umfassen - neben den selbst angemeldeten - nur solche Seiten, die "gut besucht erscheinen oder L¸cken in der vorhandenen Datenbank f¸llen." Die Suchmaschine Infoseek, die ca. 1 Million Seiten indiziert hat, ordnet die gefundenen Seiten nach "Relevanz", d.h. der Ðbereinstimmung mit den abgefragten Parametern und ermöglicht eine Anschlussuche nach "ähnlichen Seiten". Open Text, WWW-Worm und Lycos vermerken, wie oft Suchbegriffe gefunden wurden und erstellen so einen zusätzlichen Filter. Die mittels Generierung und erweiterter Reproduktion von "Popularitätsindexen" funktionierenden Suchmaschinen verdoppeln so die technische und politische Logik des Hypertextmechanismus. Die netzweltliche Verdopplung realer Ungleichheit, die zentrumsfavorisierende Programmlogik des Hypertextes und die Verstärkungseffekte der Suchmaschinen nach dem Motto "Wer hat, dem wird gegeben" - man könnte auch sagen: "Wer Links hat, dem werden Reputation, Raum und Recht gegeben" - dies alles sind dem H¸rden, die in Rechnung gestellt und ¸berwunden werden m¸ssen, wenn das Netz als Medium und Ort von Demokratiepolitik gebraucht werden soll. Eine letzte, prinzipielle Problematik kommt hinzu. Hier geht es nicht um den breit diskutierten Informationszugang oder die gesellschaftliche Informationsverteilung . Die Ungleichheit politischer Machtverteilung ist nicht das Ergebnis ungleicher Informationsverteilung, wie Bibliothekare und Intellektuelle gerne glauben. Wer herrscht, tut dies nicht, weil er mehr weiss. Die Konzentration der Diskussion auf zuwenig oder zuviel oder falsch verteilte Informationen geht am politischen Kern vorbei: es geht darum, wie welche Informationen entstehen, wozu sie genutzt werden, welche Bedeutung sie f¸r die Bildung eigener Interessen haben, ob sie relevant sind f¸r Entscheidungen, wie Politik im - sozialen - Informationsraum selbst entsteht. These: Das Netz kann ein Medium f¸r die "groþe Unterhaltung", also politische Meinungs- und Willensbildung sein. Es ist kein Raum f¸r politische Entscheidungen.3.6. Das Netz als Informationsraum: die Grenzen, nicht das Zentrum sind das politische ProblemIn seinem Urteil zum Communications Decency Act zog der
Federal Court im amerikanischen Philadelphia zur
Beschreibung des Internets Vergleiche zur Zeitung,
B¸cherei oder Postamt, zum Theater, öffentlichen Forum
und virtuellen Gemeinschaften. "The Internet may fairly
be regarded as a never-ending worldwide conversation...the
most participatory form of mass speech yet developed.
"21
Cyerspace als The Great Conversation. Auf der Tagung "Macht Information" im September 1996 -
und später in einem FOCUS-Kommentar zum Thema "Wieviel Bytes
verträgt die
Demokratie?"23
- hat der Freiburger Ordinarius Ludger K¸hnhardt
behauptet, dass es im Netz kein Zentrum mit "zentralem
Mandat" gibt, aus dem gleichsam die "Ordnungen der Politik"
hervorkommen, weshalb im zentrumslosen Netz der "Ort der
Politik verloren" gehe, demgegen¸ber "mehr und nicht
weniger staatliche Autorität"angesagt sei. So kann nur der
argumentieren, f¸r den der politische Raum mit einem
privilegierten Zentrum ausgestattet sein muþ, um
¸berhaupt als politischer Raum ausgezeichnet zu sein
und f¸r den die Dezentralitätsvorgabe aus einer Welt
technisch gleichberechtigter Datenknoten ein Kontrollrisiko
aufwirft.
Eintritttskosten und Austrittskosten sind gering. Während
in der wirklichen Welt der wirklichen Staaten die
Realisierung politischer Zielsetzungen wie auch die
Rechtsdurchsetzung letztendlich auf die Fähigkeit zur
Aus¸bung physischer Gewalt bauen können, ist im
virtuellen Raum die Durchsetzungsfähigkeit, also
Gültigkeit der Regeln und Normierungen dieses Raums auf
Zustimmung angewiesen; sie kann nicht mit Zwang sanktioniert
werden. Es ist also sehr zweifelhaft, dass der Netzraum
ein Platz f¸r zwingend folgenreiche Entscheidungen ist,
denen sich die Betroffenen nicht enziehen können: Exit
ist möglich, das Netz hat - im Unterschied zum realen
Staat - immer einen Ausgang. Wenn politische Entscheidung
¸ber Machtverteilung zwischen gesellschaftlichen
Gruppen die Essenz politischen Handelns ist, dann ist das
Netz insofern strukturell unpolitisch, weil es kein derart
essentieller Entscheidungsort sein kann. Ungeachtet, ob das
Internet als ein Medium der Kommunikation oder als
Informationsraum ("Cyberspace") konzipiert wird: es ist
insofern kein Mittel oder Ort der
Entscheidung.24
Und insofern trifft auch die Beobachtung von Horst Bredekamp
in der "FAZ" zu: das Reden und Schreiben auf dem Netz
f¸hrt nicht zum Zustand "der Ðbereinstimmung oder
des Bruches, sondern zur beständigen Erweiterung von
Varianten."25
Eine konkrete Beobachtung hierzu: politische Positionen und
Meinungen finden sich zuhauf auf den politischen WWW-Sites -
Konflikte nicht. Die Sites beziehen sich nicht
aufeinander: CDU ignoriert SPD, PDS ignoriert die
Gr¸nen, die Gr¸nen ignorieren die CSU. Die
Spezialkulturen, die ein Aussetzen dem Anderen
gegen¸ber ersparen, vereinheitlichte
Präferenz-Gemeinschaften und homogene Cyber-Gruppen also,
dominieren, vom Zappen und Surfen der Voyeure und
Netzflaneure in uns allen einmal abgesehen. Es entstehen
"Informationsinseln" (Hecht) der Selbstbewerbung und des
politischen Marketing, keine medialen Netze konfliktorischer
Diskurse, die historische Rekonstruktionen auf verschiedenen
kognitiven und Interesseniveaus erlauben. Nat¸rlich
finden sich Gegenbeispiele der direkten Thematisierung und
des Austragens politischer Konflikte auf dem Netz. Nur: sie
werden dort nicht g¸ltig entschieden. Was auf den
ersten Blick als ein Gegenbeispiel erscheint wie z.B. die
j¸ngste Abstimmung ¸ber die Gr¸ndung einer
offenbar rassistischen Newsgroup zu weiþer Musik, die
mit ¸berwältigender Mehrheit abgelehnt wurde, ist nicht
nur, n¸chtern betrachtet, völlig peripher, sondern ein
Beleg f¸r die These: die Betreiber dieser Gruppe können
einen eigenen Informationsraum f¸r ihr rassistisches
Projekt aufmachen oder das Netz verlassen, was sie auch
getan haben, und in real Life Rassisten bleiben. 3. 7. Das Netz als Medium: die demokratiepolitische FalleObwohl das Netz im Ergebnis politischer, nämlich militär-
und technikpolitischer Entscheidungen entstanden ist, bildet
es also insofern einen unpolitischen Raum, als es kein Ort
f¸r Entscheidungen ¸ber Machtverhältnisse ist. Im
Netz nun aber findet durchaus Politik statt. Politische
Anbieter, Mailing-Listen, Sites, Chats, Zensur, Allianzen
Aktionen, Unterschriftenlisten, Petitionen, Voting und
Flaming - alles ist zu finden und noch viel mehr. Doch das
alles hat mit Kampf um Sichtbarkeit und die
Ermöglichung von Aufmerksamkeit, mit Meinungs- und
Willensbildung, also auch mit
Entscheidungsvorbereitung oder -konfiguration zu tun,
nicht mit Wahl, Entscheidungsfällung und wenig
mit ihrer Implementierung. Wer im politischen
Informationsraum agiert, hat schlieþlich noch mit
einem weiteren demokratiepolitisch relevanten Problem zu
tun, das aus der technischen Konstruktion des Netzes
resultiert. 4 Frage Frage: Ist die Informationsgesellschaft als Ende der Neuzeit damit auch das Ende der neuzeitlichen Demokratie b¸rgerlicher Moderne?4. 1. Die Krise der RepräsentanzWenn - wie Wolfgang Coy es entwickelt hat - die Informationsgesellschaft der Name f¸r das Ende der Neuzeit ist, bezeichnet sie dann nicht auch das Ende der neuzeitlichen Demokratie b¸rgerlicher Moderne? Infrage gestellt wäre dann die moderne Demokratie als Form politischer Herrschaft, deren Aufgabe es war, politisch zu integrieren, was gesellschaftlich gegeneinander stand, da es ökonomisch in unauflösbare Widerspr¸che gesetzt war. F¸r das Funktionieren einer Gesellschaftsordnung, in der die Politik der einzige Geltungsbereich des Mehrheitsprinzips ist, haben politische Organisationen und Institutionen wie auch die im letzten Jahrhundert erfundenen Massenmedien neben anderen zwingend die Funktion der Verabeitung der Konflikte aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Verarbeiten heisst Stillegen, Ignorieren, Verschieben, Austragen von Konflikten. Diese Aufgabe der Massenmedien, politische Integration zu reproduzieren - also das groþe Bilder- und Talkschaurauschen, den Frohsinn - realisieren sie, indem sie eine zentrale Errungenschaft der politischen Moderne sukzessiv vernichten, f¸r die im politischen Alltagssprachgebrauch seit einigen Jahren der Begriff der Zivilgesellschaft verwandt wird. Massenmedien organisieren Zivilgesellschaft - viel mehr aber noch vernichten sie diese. Die zentrale politische Innovation des 19. und 20. Jahrhunderts war die Massenorganisationen der Arbeiterbewegung - Partei und Gewerkschaft - als Nomenklatur oder Repräsentanz der neuen Klasse. Diese politische Repräsentanz basierte auf Gruppenidendität, auf deren Erfahrungshintergrund individuelle Entscheidungen getroffen wurden und Wahl, Mandat, Delegation Bedeutung hatten. Diese alte Kohärenz zerbricht. Das Resultat ist die Krise der politischen Repräsentanz, als deren Element Politikverdrossenheit, Gleichgültigkeit und Delegitimation einzelner politischer Mehrheitsentscheidungen oder dieses Verfahrens selbst gelten können - Stichwort "Demokrativersagen". Zu fragen wäre, ob f¸r die Erklärung dieser Repräsentanzkrise - die ¸ber die Arbeiterbewegung ja weit hinausgeht - nicht Analysen hilfreich sein könnten, die am - sicherlich ziemlich anders gelagerten - US-amerikanischen Beispiel gewonnen wurden. Robert Putnam hat 1996 in der Zeitschrift "The American Prospect" 24 (1966) eine Analyse mit dem Titel "The Strange Disappearance of Civic America" veröffentlicht, die zeigt, dass es einen langandauernden R¸ckzug der Amerikaner aus dem gesellschaftlichen und öffentlichen Leben gibt.28 Die "public person", der "citizen", das "zoon politikon" verschwindet. Anhand umfangreichen empirischen Materials - Vereinsmitgliedschaften, Zeitungsabonnements, Wahlverhalten usw. usf. - diagnostiziert er einen Generationsbruch: Die engagierte Generation, die zwischen 1910 und 1940 geboren wurde, erreichte ihren Zenit 1960, als sie 62 % der Wählerschaft ausmachte. Seit dieser Zeit sind die R¸ckz¸ge evident. Wer also ist der Hauptverdächtige? Wie das Ozonloch entdecken wir ihn erst Jahrzehnte, nachdem er zu wirken begann: es ist, so Putnam, das Fernsehen. 1950 hatten 10 % der Amerikaner TV, 1959 90 %, 1995 lag der TV-Konsum per Haushalt doppelt so hoch wie in den 50ern, bei 3-4 Stunden, 3/4 der Haushalte hat mehr als einen TV und ermöglicht individualisierte TV-Nutzung. Betrachtet man das Zeitbudget, dann hat das Wachstum des TV-Konsums in den USA zu einem Viertel bis zur Hälfte beigetragen zum R¸ckgang gesellschaftlicher und öffentlicher Tätigkeiten und zur Privatisierung der individuellen Zeit. Was an Aufnahme politischer Informationen bleibt, kommt - wie gegenwärtig bereits f¸r jeden zweiten Amerikaner unter 35 - aus dem Fernsehen. Hier geht es schon lange nicht mehr um die Passivität der bestenfalls symbolisches Feedback vortäuschenden "Zuschauerdemokratie" des TV-Systems, sondern um das Verschwinden demokratischer Kultur. Was ¸brigens das liberale Demokratiemodell als Toleranz der Nichtbeteiligung ausweist. 4. 2. Elektronischer Leaderismo als Zukunft?Noch einmal: wenn wir die Informationsgesellschaft als das Ende der Moderne ansehen und das Leitmedium der auslaufenden modernen Industriegesellschaft - das Fernsehen - mehr oder weniger entscheidend zur Zerstörung der zivilgesellschaftlichen Grundlagen, Gruppenidenditäten und Klassenrepräsentanzen der modernen Demokratie beigetragen hat, ist zu fragen, woher die Hoffnung kommen soll, dass das Netz als mediale Kernstruktur der neuen Informationsgesellschaft ausgerechnet eine Revitalisierung der Demokratie bzw. politischen Öffentlichkeit bewirken soll und nicht vielmehr eine Vollendung dieses Prozesses der Konstruktion privatistisch existierender Individuen durch virtualisierte und elektronisch mediatisierte politische Kommunikation, die das Beurteilen von Wirklichkeit weitaus schwieriger und riskanter macht als nicht-elektronische Kommunikationsformen. Von Individuen, die ja ¸brigens zuk¸nftig keine Arbeitnehmer mehr sein werden, sondern millionenfach individualisiert als unselbständige Selbständige gleichsam als je einzelnes Profitcenter an ihrem Marktsegment des globalen Unternehmensnetzes hängen und sterben. Eine Netzes im ¸brigen, dessen Propagandisten ja heute schon mit entsprechender Demokratierethorik auf den Lippen und der Home-Page es feiern, dass der Kunde von selbst zum Konzern kommt, sich alles, was er braucht, mit Netz-Card herunterlädt und dazu weder Gewerkschaft, Verbraucherverein oder die SPD braucht. Der direkte Zugriff vom Netzkonzern zum Kunden - das ist der Markt ohne Friktionen, von denen Bill Gates in seinem Buch sprach und das ist die politische Netzstruktur des Leaderismo, den Berlusconi mit dem alten Medium vorgemacht hat und der als Empowerment des Individuums in der politischen Netzwelt von Netzgurus wie Esther Dayson gefeiert wird.29 Die kommunikationstheoretische Begr¸ndung der Demokratie ist ja entstanden im Widerspruch gegen jene Theorietraditionen, die den Zusammenhang von Arbeit und Demokratie in den Mittelpunkt stellten. Bis heute schneiden die kommunikationszentrierten politischen Theorien des Internet jene neuen, vorgelagerten Probleme ab, die aus der Virtualisierung der Arbeit und Produktion entstehen: Solidaritätsbewuþtsein, Bildung gemeinsamer Interessen und kollektives Handeln setzen objektive und subjektive Gemeinsamkeitsdimensionen voraus, die sich in der neuen Netzwelt - wenn ¸berhaupt - auf andere Art konstituieren als bisher. Mit Sicherheit ist der kurz- und mittelfristige demokratiepolitische Effekt der Virtualisierung der Arbeit negativ. Ein demokratisches, netzpolitisches Konzept, das diese neue politische ÷konomie der Netzarbeit und des Netzkapitals ignoriert, muss scheitern. 5 Abschliessende Notiz Dabei geht es darum, ob die neuen Netzmedien und -räume dazu beitragen können, vorhandene Strukturen der Politik so zu ändern, dass neue Entscheidungsbedingungen und damit Korridore zur Ausarbeitung und Realisierung neuer politischer Optionen entstehen können Siehe die "demokratiepolitischen Stichworte". . 1. Der englische Soziologie Anthony Giddens hat von zwei Verständnissen der Demokratie gesprochen: Demokratie als Interessenrepräsentationen und Demokratie als Deliberation, als Ort der Kommunikation, des Arguments, der Diskussion. Interessenrepräsentation ohne Dialog oder Deliberation ist undemokratisch und zudem ineffektiv. Dialog ohne Interessenrepräsentation ist politisch halbiert, weil um die Entscheidungsdimension gekappt. Das Netz ist kein Ort demokratischer politischer Entscheidungen, aber ein Ort der Kommunikation, ohne die Entscheidungen undemokratisch und ineffektiv sind. Nat¸rlich braucht die ÷ffentlichkeit Informationen, aber es geht um um Informationen, die durch Debatte geschaffen werden. Wir m¸ssen das Netz als Raum der zweckgerichteten, nämlich entscheidungsvorbereitenden interaktiven Kommunikation zur Interessenrepräsentation nutzen. 2. Die Repräsentationskrise der Moderne beg¸nstigt populistische Politik, den Leaderismo, wo das Netzindividuum scheinbar direktdemokratisch im Kontakt steht mit politischen F¸hrungsintallationen und unter Umgehung der intermediären Organisationen, wie der Gewerkschaften. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: das politische Individuum steht - ohne kollektive Schutzrechte, Filter, Willensverstärker - dem Machtcluster des Leaders gegen¸ber. Notwendig ist, dass intermediäre Organisationen wie die Gewerkschaften, Initiativen usw. die Interessen ihrer Mitglieder im Netz repräsentieren und dabei eine Form der demokratischen - z.B. dezentralen - Organisation und Repräsentation der individuellen Interessen erarbeiten. Das Netz ist im Unterschied zu den anderen Medien, eine dezentrale Medientechnologie, eine Assoziationstechnologie. 3. Die Netze der Zukunft werden weit differenzierter sein als heute und eines ist sicher: die Steuerung der Zugänge und Nutzung ¸ber das Medium Geld wird eine weit wichtigere Rolle spielen als heute. Gute und schnelle Bilder und Daten werden weitaus mehr kosten als heute.30 Was es umsonst gibt, soll wertlos werden oder sein. Es ist demgegen¸ber notwendig, öffentliche, kostenlose oder billige Räume mit hochwertigem Inhalt zu sichern. "Wenn Geldautomaten an jeder Straþenecke aufgestellt werden können", fragte j¸ngst Patricia Mazepa in einem Aufsatz, "warum dann nicht auch öffentliche Netzterminals?"31 4. Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen, kleine Verbände oder Betriebsräte werden kein Eigentum an Maschinen, Netzen, Kanälen und Kabeln erwerben können. Wie können sie Aufmerksamkeit auf sich lenken, sichtbar werden? Kaum durch das strukturell schwache Votum als User der neuen Medien. Es gibt daf¸r nur einen erfolgversprechenden Weg: Content-Provider der W¸nsche und Interessen ihrer Mitglieder zu werden, nicht durch "Benutzerf¸hrung", sondern durch Organisation der Selbstorganisation. Das ist die politische Hauptaufgabe solcher Organisationen und hier stehen sie noch am Anfang. Warum gehört nicht zum Erwerb der Partei- oder Gewerkschaftsmitgliedschaft das Angebot, auf einem Hausserver eine Home-Page einzurichten? Eine Zuverlässigkeitsbeglaubigung besonderer Art gibt es dann: die Information kommt direkt aus der Quelle und nicht von CNN oder dpa. 5. Das Netz ist in mehrfacher Hinsicht ein Universalmedium: es schließt mündliche face-to-face-Kommunikation ebenso ein wie audio-visuelle und gedruckte Medienpraxen, erhöht bei minimierten Kosten die Transaktionsdichte, ermöglicht Broadcasting und Narrowcasting. Groþorganisationen wie die Gewerkschaften mit einer Tradition breiter Dienstleistungen f¸r viele Lebens- und Arbeitsbereiche sind ebenso wie die Kulturen dezentraler Kooperation der alten neuen sozialen Bewegungen hervorragend disponiert, zielgruppenspezfisch auf dem Netz zu operieren und Spezialmärkte f¸r Individualkommunikation abzudecken. Dazu m¸ssen sie Information Broking entwickeln, Netzmarketing betreiben und komplexe Querschnittsmedienpolitiken zur politischen Mobilisierung entwickeln. Um welchen Inhalt geht es dabei? Vielleicht zunächst eine negative Umschreibung:
Gemeint ist, dass Erfahrungs- und Praxisraeume, die in unserer Gesellschaft mit kulturellen, rechtlichen oder oekonomischen Mitteln tabuisiert, unsichtbar gemacht oder zum Schweigen gebracht werden - dass diese Praxen sichtbar gemacht werden. 6. Demokratische Netzpolitik kann kein Interesse daran haben, geschlossene Netzräume zu konfigurieren, sondern muþ - der Logik des Netzes folgend - offene Angebote bauen, sichtbare Allianzen schlieþen, Positionen aufbauen: durch transparente Zitierkartelle, Arbeitsteilung, Verweispolitiken usw. Es geht also um den Aufbau von fluid networks (Hage/Powers). Offene Netze und offene Politik bedingen sich. Die demokratiepolitische Qualität der Netze und des neuen Informationsraums entsteht aus der demokratischen Konfiguration der technischen Architektur des Netzes und setzt eine demokratische Kultur des politischen Realraumes voraus. Das Netz ist eine ¸berlebensnotwendige Modernisierungschance: die suprastaatlichen, deterritorrialisierten Unternehmensnetzwerke der Zukunft sind die neuen idenditätsbildenden Arbeits- und Berufsorte, in denen Allianzen gerade mithilfe elektronischer Kommunikation und Organisierung gebildet werden m¸ssen. Das heiþt nat¸rlich nicht, dass die Inhalte beliebig werden. Der amerikanische Stadtsoziologe Manuel Castells hat im März 1996 auf einer Diskussion am MIT bemerkt: "Ein Drittel oder ein Viertel der US-Bevölkerung ist nicht nur arm, ausgebeutet oder depressiv, sondern einfach irrelevant. Wer ausgebeutet ist, "sagt Castells, "hat eine soziale Beziehung und Bedeutung. Du weiþt, mit wem Du es zu tun hast. Wenn Dich ein anonymes Netzwerk marginalisiert - wo ist dann der Sinn?" So denke ich, dass die grenzenlose - "anonyme" -Netzförmigkeit der zuk¸nftigen Arbeits- und Kommunikationsweisen es mehr denn je erfordern, solidarische Diskussion, Beratung, Bildung, sinnhafte Orientierung ¸ber die wirkliche Gesellschaft, in der wir leben und die Interessen, mit denen wir es zu tun haben. Quellenverzeichnis | Tabelle 1: Positionierung politischer Web-Sites im Verweisraum | Tabelle 2: "Demokratiepolitische Stichworte" Vortrag auf dem Kongress "Demokratie an der Schnittstelle. Neue Medien und politische Perspektiven" der Hessischen Gesellschaft f¸r Demokratie und ÷kologie e.V. (HGD÷) am 07.12.1996 in Frankfurt. Einige Argumentationen des Vortrags wurden erstmals entwickelt in dem Beitrag Das unpolitische Netz an der DGB-Bundesschule Hattingen, 11.10.1996.Adresse dieser Seite: http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr/bdweb/texte/cyberdemokratie-text.html
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07.12.1996 |