Die Presse Montag, 17. März 1997
Computer statt Hörsaal .Die virtuelle
Universität
Computernetze machen Hörsäle überflüssig:
Der Unterricht erfolgt über Internet, Audio- und
Videokonferenzen.
VON NORBERT RIEF
Der Unterricht beginnt, wann immer Markus will.
Frühmorgendliche Vorlesungstermine, volle Hörsäle,
Gedränge um Plätze oder entliehene Bücher sind ihm
fremd. Der 25jährige macht sein Informatik-Studium vom
PC aus. Skripten holt er sich via Telephonleitung aus dem
Computer der Universität, Gespräche mit seinem Betreuer
führt er mittels Audio- und Videokonferenz am PC,
Seminare laufen über das Internet und mit anderen
Studenten "plaudert" Markus online in Chat-Räumen.
Was wie Zukunftsmusik klingt, ist bereits Realität: Markus
studiert an der Fernuniversität Hagen in Deutschland, die
von sich stolz behauptet, die erste "virtuelle Universität"
Europas zu sein. Seit acht Monaten nützt die Hochschule
das weltweite Computernetz Internet für ihren
Fernunterricht. Aber auch konventionelle Universitäten
entdecken für ihren Unterricht immer mehr die
Möglichkeiten moderner Kommunikationstechniken.
Die Technische Universität Graz bietet bereits komplette
Vorlesungen in digitalisierter Form an. Der Vortrag des
Professors wird auf Ton und Video aufgezeichnet, eine
neue Technik ermöglicht selbst die Einbindung von
Illustrationen und Folien, die er präsentiert. Die
Aufzeichnung wird auf einem Computer gespeichert, der
Student kann sich später zu jedem beliebigen Zeitpunkt
einklincken und die Vorlesung an seinem eigenen PC noch
einmal ansehen.
In Wollongong in Australien arbeitet man seit Monaten mit
Hochdruck am Ende der klassischen Präsenzuniversität.
80 Personen beschäftigen sich mit dem Aufbau der
notwendigen Infrastruktur für den virtuellen Unterricht.
Ehrgeiziges Ziel der Australier: In wenigen Jahren soll die
Hälfte der Lehrzeit über die virtuelle Uni erfolgen.
Die Idee einer virtuellen Universität liegt nahe - vor allem für
eine Fernuniversität. "Früher mußten wir unsere Skripten
und Übungsaufgaben über den normalen Postweg
verschicken", erklärt Peter Buhrmann, Mitarbeiter am
Projekt "Virtuelle Universität" der Fernuniversität Hagen.
"Wenn die Studenten dann noch Tests ausfüllen und
zurückschicken mußten, kam es leicht zu einer Laufzeit von
vier bis sechs Wochen."
e-Mail statt Post
Mit elektronischen Nachrichten, die über das Internet von
einem Computer an einen anderen geschickt werden,
verkürzt man den Postweg auf wenige Minuten. Zu
Veranstaltungen müssen Studenten seit der Nutzung des
weltweiten Netzes nicht mehr extra nach Hagen reisen,
sondern können am Computer in ihrer Wohnung dank
Chat- und Videotechnik daran teilnehmen.
Studieren kann man online alles, was die Uni anbietet:
Rechtswissenschaften, Wirtschaft, Mathematik,
Elektrotechnik, Informatik sowie Erziehungs-, Sozial und
Geisteswissenschaften. Über eine World Wide Web-Seite
greifen die Studenten der Fernuniversität auf eine
"komplette Hochschule", wie Buhrmann betont, zu. Die
Homepage der Fernuni Hagen bietet einen Zutritt zu
verschiedensten Bereichen. Von der "Cafeteria" für
Studententratsch bis zur "Lehre" und der "Bibliothek".
Regelmäßig finden via Internet Gespräche zwischen
Studenten und Betreuern statt, auch Videokonferenzen
werden dafür eingesetzt. Daß die Übertragungsraten nicht
für ein ruckelfreies Bild ausreichen, stört nicht: Damit auch
Studenten mit einem einfachen Modem in den Bildgenuß
kommen, schickt man teils nur ein einziges Bild der
Videokonferenz-Teilnehmer über das Internet. Das schaffe
immerhin eine "emotionale Bindung", wenn man erstmals
ein Photo des Betreuers sehe, freut sich Buhrmann. Auch
Vorträge werden online abgehalten, Präsentationen
erfolgen in Form eines HTML-Dokuments in einem
Web-Browser.
Etwa 1000 Personen nützen regelmäßig das
Internet-Angebot der Fernuniversität. Die Studenten würden
die Möglichkeiten des digitalen Lehrbetriebs "begeistert"
aufnehmen, berichtet Buhrmann. Es gebe nun "viel mehr
Dynamik" im kommunikativen Bereich.
Einen Schritt weiter ist man an der TU Graz. Am Institut für
Informationsverarbeitung und computergestützte neue
Medien wird mit kompletten Vorlesungen experimentiert,
die digitalisiert angeboten werden. Der Student loggt sich
wann immer er will in den Uni-Rechner ein und kann alle
Informationen auf seinen Bildschirm holen, die der
Professor vielleicht erst Minuten vorher im Hörsaal
vorgetragen hat.
Neuartige Soft- und Hardware, die in Zusammenarbeit mit
der Universität Freiburg erarbeitet wurde, macht die virtuelle
Vorlesung fast perfekt: Ein kleines Fenster zeigt das Video,
aus den Lautsprechern des Computers hört man die
Vorlesung, Präsentationsfolien zur Erklärung werden auf
dem Bildschirm dargestellt.
Experimentiert wird auch mit Texten, die online diskutiert
werden können: An jeder beliebigen Stelle des Textes kann
ein Student eine Frage anhängen oder eine Diskussion
beginnen. "Die interaktive Diskussion hat sich
hervorragend bewährt", berichtet Institutsvorstand Hermann
Maurer, der sich intensiv mit den Möglichkeiten der
virtuellen Universität beschäftigt.
Als nächsten Schritt plant Maurer eine digitale Bibliothek:
Versteht ein Student ein bestimmtes Wort eines Textes
nicht, klickt er es an und erhält sofort eine Erklärung. "In
einem weiteren Ausbauschritt", betont Vorkämpfer Maurer,
"planen wir auch elektronische Sprechstunden."
Der Zug zur virtuellen Universität ist für den Grazer
Institutsvorstand abgefahren. "Gewisse Teile" der
Universität könne man problemlos über Computer
abhalten. "Das ist auch die Hoffnung von vielen Kollegen -
daß wir wieder zurückkommen zum wirklichen Sinn einer
Universität; daß man in kleinen Gruppen mit Studenten an
Themen und Projekten arbeitet, aber nicht vor Hunderten
Menschen in einem übervollen Hörsaal frontal unterrichtet",
sagt Maurer.
Ablenkung vom Stoff
Audio- und Videokonferenzen haben freilich auch ihre
Nachteile. Einen kleinen hat man an der Universität Graz
schon abgestellt: Statt eines kompletten Videos der
Vorlesung werden nur noch einzelne Standbilder
eingespielt. Das, passiert aus rein pädagogischen
Gründen. "Wenn man ein Video sieht", berichtet Hermann
Maurer, "lenkt das einfach zu sehr vom eigentlichen
Unterrichtsstoff ab."