Das narrative Interview ist wie die mündliche Befragung oder
das Interview eine empirische Forschungsmethode in den
Sozialwissenschaften.
Allgemeine Merkmale
Im Vergleich zu anderen Befragungsmethoden ist es allerdings
"offener" sowohl für den Befrager als auch den Befragten. Das
Ziel eines narrativen Interviews ist meist, zusätzliche
Informationen über die Befragten zu gewinnen, die durch
standardisierte Befragungen oder Tests nicht erhalten werden kann.
Diese zusätzlichen Informationen sind vor allem solche, an die
bei der Konzeption einer Untersuchung nicht von vorneherein gedacht
wurde. Vor allem ganz spezifische und individuelle Probleme des
Befragten können damit sichtbar gemacht werden.
Das narrative Interview lebt vor allem davon, daß der Befrager
bei den Befragten eine persönliche Betroffenheit zu dem
jeweiligen Themenkreis auslösen kann. Ziel ist, daß der
Befragte ein "Bedürfnis entwickelt, zu den angeschnittenen
Fragen Stellung zu nehmen. Ein wesentliches Merkmal des narrativen
Interviews ist es, möglichst wenige Fragen zu stellen, vielmehr
sollen die Befragten dazu gebracht werden, von sich aus zu
erzählen. Der Interviewer hat hier vor allem die Funktion
eines Stichwortbringers bzw. durch eingestreute Fragen dafür zu
sorgen, daß der Erzählfluß nicht
abreißt und die Befragten nicht allzusehr vom Thema
abweichen.
Formale Merkmale
Zur Vorbereitung eines narrativen Interviews ist es zwar notwendig,
wie bei anderen Interviewformen einen Fragen- oder Themenkatalog zu
erstellen, doch sollte dieser keinesfalls standardmäßig
und in der vom Befrager erstellten Reihenfolge durchgegangen werden
(die logische Struktur des Befragten unterscheidet sich häufig
von dem des Befragers). Daher: Drängen Sie niemals zur
nächsten Frage!
Geben Sie am Beginn den Zeitaufwand der Befragung bekannt: Die Dauer
eines solchen narrativen Interviews sollte eine Stunde nicht
überschreiten.
Geben Sie zu Beginn eine kurze Einführung in den Zweck
der Untersuchung bzw. wofür die Angaben der Befragten verwendet
werden. Sichern Sie Anonymität zu, aber nur, wenn
dieser Punkt von den Befragten selber angesprochen wird.
Das narrative Interview kann von einem oder mehreren Befragern bzw.
auch an mehrere Befragte gerichtet werden (dann ähnlich wie die
Gruppendiskussion).Wenden Sie sich bei den Fragen immer
konkret an eine Person, dann an die anderen. Beginnen Sie
einen neuen Themenkreis nach Möglichkeit abwechselnd bei
den verschiedenen Personen (Blickkontakt suchen!).
Notieren Sie die Antworten zu den einzelnen Themenkreisen
(Buchstabenkennung) möglichst ausführlich auf einem
Blatt Papier, wobei die Angaben von verschiedenen Befragten
jeweils (bes. bei unterschiedlichen Auffassungen) getrennt
gekennzeichnet werden. Erklären Sie, warum Sie diese
Aufzeichnungen führen (Ängste!). Vervollständigen Sie
notfalls unmittelbar nach dem Gespräch (frischer
Eindruck!) Ihre Aufzeichnungen zu den einzelnen Punkten.
Achten Sie darauf, daß Sie den Erzählfluß nicht
unterbrechen. Ziehen Sie eine Frage ihres Fragenkataloges vor, wenn
diese besser auf die gerade getroffene Aussage der Befragten
paßt!
Die Hauptfragen zu den einzelnen Themenkreisen stellen Sie
wenn möglich wortwörtlich, Zusatzfragen
formulieren Sie in Abhängigkeit von den Aussagen der Befragten.
Notieren Sie vor allem auch Probleme, die bei einzelnen Fragen
auftauchen können.
Wenn Befragte die Antwort auf eine Frage verweigern bzw. nicht
beantworten (können, wollen, möchten), dann gehen Sie zur
nächsten Frage weiter oder wenden sich an einen anderen
Befragten. Bestehen Sie keinesfalls auf der Beantwortung!
Sie wollen in erster Linie etwas von den Befragten!
Wenn die Befragten Ihnen persönliche Fragen stellen, die
nichts mit der Befragung direkt zu tun haben (z.B.: Halten Sie das
für falsch? Oder: Was meinen Sie dazu?), dann bitten Sie die
Befragten, daß Sie erst am Ende des Gesprächs dazu
Stellung nehmen wollen (z.B.: Ich möchte Sie jetzt nicht
beeinflussen). Gefährden Sie aber nicht die positive
Grundstimmung des Gespräches - gehen Sie notfalls so weit, wie
Sie es im Augenblick für richtig halten.
Danken Sie den Befragten für das Gespräch und kündigen
Sie eine Rückmeldung (Auswertung) der Interviews an.
Beispiel für einen Fragenkatalog zum Thema "Erziehungsprobleme"
im Anschluß an einen Test zum elterlichen Erziehungsverhalten,
Befragte: Elternpaare
A. Was verstehen Sie persönlich unter Erziehung?
Welche Maßnahmen setzen Sie? Was tun Sie konkret? (Eventuell an
einem Beispiel ausführen lassen)
B. Wie häufig denken Sie über Erziehungsfragen nach?
sehr oft - oft - manchmal - selten - sehr selten Wie geschieht
Erziehung? (Hilfen: unbewußt, automatisch - beiläufig -
einfach "Leben" - aus Gefühl - aus der Situation - nach festen
Grundsätzen)
C. Was verstehen Sie ganz allgemein unter Erziehungserfolg?
Merkmale des Erziehungserfolges auf seiten des Erziehers, - des
Kindes
D. Was verstehen Sie ganz allgemein unter
Erziehungsmißerfolg?
Merkmale des Erziehungsmißerfolges auf seiten des Erziehers, -
des Kindes
E. Welche erzieherischen Maßnahmen verwenden Sie bevorzugt bei
der Erziehung Ihres Kindes? (konkretes Kind!)
Warum verwenden Sie gerade diese Maßnahmen? Was versprechen Sie
sich von ihrer Anwendung?
F. Welche Maßnahmen lehnen Sie grundsätzlich für die
Erziehung von Kindern und Jugendlichen ab? (allgemein!)
Welche Maßnahmen lehnen Sie grundsätzlich für die
Erziehung Ihres eigenen Kindes ab? (konkretes Kind!)
G. Wovon hängt Ihrer Meinung nach der Erziehungserfolg ab?
(Hilfen: Erzieher (Persönlichkeit), Kind (Persönlichkeit),
Beziehung Erzieher-Kind, Familie, soziale Nahumwelt (Freunde,
"Miterzieher"), gesellschaftliche (kulturelle) Faktoren). Was ist das
Wichtigste für die Persönlichkeitsentwicklung junger
Menschen?
H. Sind Sie mit den Erfolgen Ihrer Erziehung zufrieden?
(Überprüfung zum Test) (ja - teilweise - nein). Wenn
ja, wovon hängt nach Ihrer Meinung Ihr Erfolg ab? Wenn
teilweise, erklären Sie bitte, warum sie teils zufrieden,
teils unzufrieden sind? Wenn nein, warum können Sie nicht
zufrieden sein?
I. Man liest immer wieder von Eltern, die ihre Kinder nicht erziehen
oder sie stark vernachlässigen. Wie ist das Ihrer Meinung nach
zu erklären?
J. Wenn etwas bei der Erziehung zu verändern ist, wer sollte
sich dann eher ändern (anpassen): die Eltern oder das Kind?
(allgemein)
(eventuell Veränderung in Prozenten angeben lassen)
K. Sie haben im Test Erziehungsziele genannt, können Sie diese
vielleicht noch etwas konkreter formulieren (erläutern)?
(besonders Bezug auf das 1. Ziel - diese Frage dient der
Überprüfung der Testangabe) Sie haben gerade Aufgaben und
Ziele der Erziehung genannt. Welche Maßnahmen muß der
Erzieher setzen, um diese Ziele auch zu erreichen? Wie muß
Erziehung dann ausschauen?
L. Hat Ihrer Meinung nach der junge Mensch Erziehung unbedingt
nötig?
(ja - teilweise - nein) Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
(Gründe für die Notwendigkeit von Erziehung)
M. Sehen Sie Erziehung (manchmal) als persönliche Belastung
und/oder Behinderung an?
(ja - teilweise - nein) Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
N. Kann der Erzieher den jungen Menschen beeinflussen?
(ja - teilweise - nein) Warum ist das Ihrer Meinung nach so? Wie
erklären Sie sich das? (Bedingungen für die
Möglichkeit/Teilmöglichkeit/Unmöglichkeit wirksamer
erzieherischer Beeinflussung)
O. Stoßen Sie in der Erziehung Ihres Kindes (konkretes Kind!)
auf Grenzen?
(ja - teilweise - nein) Warum ist das Ihrer Meinung nach so? (Grenzen
in Eltern, Kind, Beziehung, Familie, soziale Nahumwelt,
P. Wieviel kann die Erziehung bei jungen Menschen erreichen?
(alles - viel - einiges - wenig - nichts) Warum ist das Ihrer Meinung
nach so?
Q. Eltern schätzen den Schwierigkeitsgrad der Erziehung sehr
unterschiedlich ein. Die einen meinen, Erziehung sei schwierig; die
anderen halten Erziehung für einfach. Was meinen Sie? Warum ist
das so?
R. Wenn die Erziehung so ist und wenn sich der Erzieher so
verhält, wie Sie das gerade geschildert haben - wie empfindet
und erlebt dann der junge Mensch Ihrer Meinung nach das Verhalten des
Erziehers?
Was geht in Ihrem Kind vor? Wie reagiert es? (ambivalent,
(un)zufrieden, normal,denkt nicht darüber nach)
Erheben (Schätzen) Sie zusätzlich zu den Angaben auf den
Testbögen noch folgende Merkmale:
* Größe des Wohnortes (Einwohnerzahl) *
Qualität der Wohnverhältnisse (sehr gut - gut -
mittelmäßig - schlecht - sehr schlecht - unbekannt) *
Wirtschaftliche Lage der Familie (sehr gut - gut -
mittelmäßig - schlecht - sehr schlecht - unbekannt) *
Eindeutig identifizierbare Störungen, Schwierigkeiten,
Konflikte (Ehe- oder Familienprobleme, Störungen bzw.
Schwierigkeiten von Einzelpersonen) * Bildungsinstitution des
Kindes (zu Hause, Kindergarten, Schultyp und Klasse,
Berufsausbildung) * Eindeutig identifizierbare Störungen
beim Kind (Schule, Erziehung, körperliche Störungen,
Verwahrlosung, Kriminalität)