Über die Evolution einer hypermedialen Norm
der Sprache
Gabriele Gramelsberger, Institut für Neue
Medien Frankfurt/Universität Augsburg
1. Hamburger Workshop "Philosophie und Internet"
am 22.2.97, PhilNet Universität Hamburg)
These:
Die Norm der Sprache evolviert von einer gesprochenen,
über eine geschriebene, aktuell zu einer hypermedialen.
Das Internet trägt im Reigen der Neuen Medien einen
wichtigen Teil dazu bei. Angeregt von Sokrates/Platons
Kritik einer literalen Kultur oder Lockes Kritik des
Buchdrucks, lassen sich philosophisch motivierte
Überlegungen für die Neuen Medien herleiten und
weiterführen.[1]
Neue Medien - Internet: Hypermedium der Zukunft
Mit Neuen Medien sind computergestützte Medien
gemeint: Internet, Computersimulationen, Cyberspace. Die
globale Vernetzung immer leistungsfähigerer Computer
gestaltet das Internet zum Hypermedium[2] der Zukunft,
insofern der Zugriff auf multimedial präsentierte
Informationen unabgängig vom Ort durch ein Medium
möglich ist. Die Universalität des digitalen Codes
erlaubt die intermodale Übersetzung der Daten in Bild,
Ton, Zahlen- oder Symbolfolgen. Das Neue und
Gewöhnungsbedürftige des Web liegt darin, wie
Pierre Lévy schreibt, daß sich alles "auf der
gleichen Fläche [bewegt]. Deswegen ist alles
differenziert."[3] Die globale Matrix digitaler Lokationen
erfordert Interaktionsstrukturen, die menschliche
Umwelterfahrungen für die skaleninvarianten Räume
adäquat umsetzen. Die aktuelle Dominanz des Internet
als (Hyper)-Textmedium verschiebt sich vor allem durch die
World Wide Web Oberfläche in Richtung Bild und Ton. Die
Orientierung im Netz wird zunehmend visuell geleitet,
dreidimensionale Netzstädte und Marktplätze
definieren die Raum- und Zeiterfahrung neu. Dabei werden die
virtuellen Räume zu Weltausschnitten verschachtelt und
die Verfügbarkeiten globaler Informationen werden zu
Gleichzeitigkeits-Plateaus integriert.[4] Beispiele sind
Telepolis oder Skylink. Das Internet steht auch als
Metapher für die "Networking Society", wie sie sich
aktuell konstituiert. Dabei sind "Computer und Netzwerke ...
einerseits "Verdichter", weil sie Arbeitsprozesse unter
einer Plattform integrieren. Internets sind andererseits
"Equalizer": Verteilte, dezentral Netzwerke ...[mit]
nichthierarchischen Strukturen."[5]
Computergenerierte Welten weisen der Sprache zur
Gestaltung wie Orientierung eine ausgezeichnete Position zu.
Die Zeichen, Träger sprachlicher Bedeutungen, werden zu
Anzeichen[6] in zweifacher Hinsicht: Als Hyperlinks mit
direkter Wirkung und als numerisch simulierte Strukturen.
Während Anzeichen im ersteren Sinne, neben ihrer
referenzialen Zeichenfunktion, die Navigation durch die
Internetdokumente ermöglichen, leisten sie im letzteren
Sinne, neben ihrer Darstellungsfunktion, als Indizien
für kausale Effekte eine computerinterne
Modellverfikation.[7]
Hypermediale Norm der Sprache:
Ausgend von der Medialität kommunizierter Sprache -
Schall, Schrift, Computersymbolik - wird die These Florian
Coulmas - "Denn als geschrieben Sprache gewinnt jede Sprache
eine neue Qualität, neben der gesprochenen Norm
entwickelt sich auch eine geschriebene, die von jener
systematisch verschiedene Eigenschaften aufweist."[8] - ins
Hypermediale weitergeführt. Im Vergleich zur
Linearität geschriebener Sprache, ermöglicht eine
hypermedial transportierte Sprache die Verweisungsstruktur
der Hyperlinks. Die Kopplung von Texten mit Hilfe
spezifizierter Anzeichen erlaubt die interaktive Lesart der
Textformationen. Der Rezipient wird innerhalb eines
erstellten Textes zum Co-Autor, der über die Selektion
und Gestaltung der Präsentation entscheidet.
Eine hypermedial umgesetzte Sprache ermöglicht es
auch, Bilder und Töne "sprechen" zu lassen.[9]Die
Universalität des digitalen Codes bildet die Basis
für intermodale Übersetzungsprogramme. Töne
sind als Bilder, Bilder als Texte, Texte als Zahlenfolgen
darstellbar und umgekehrt. Damit erweitert sich der
Darstellungsbereich der Sprache bzw. die Digitalisierung
führt zu einer "Versprachlichung" von Bild, Laut und
Zahl. Die medienintegrierende Funktion der Computer, wie
Wolfgang Coy schreibt, ist - sieht man hinter die
multimedial-designte Oberfläche - zudem eine
sprachgenerierte und sprachgenerierende. Computergenerierte
Welten sind Sprachwelten.[10]
Philosophisch motivierte Überlegungen zu den Neuen
Medien:
Die Medienkritik ist fast so alt wie die Philosophie
selbst. Sokrates/Platon steht der mnemotechnischen Funktion
der Schrift skeptisch gegenüber, denn Wahrheit als
innermenschliche Eigenschaft kann für ihn nicht nach
Außen transferiert werden. "Denn diese Erfindung wird
die Lernenden in ihrer Seele vergeßlich machen, weil
sie dann das Gedächtnis nicht mehr üben; denn im
Vertrauen auf die Schrift suchen sie sich durch fremde
Zeichen außerhalb, und nicht durch eigene Kraft in
ihrem Inneren zu erinnern. ... Deinen Schülern
verleihst du aber nur den Schein der Weisheit, nicht die
Wahrheit selbst."[11] Die Autorität des Wissens wird
nach Außen verlegt und festgeschrieben, einige
Jahrhunderte später zudem zwischen Buchdeckel geklemmt.
Für Empiristen wie John Locke, der die offene und
dynamische Generierung von Wissen durch Erfahrung
propagiert, ein Unding, verhindere die Autor-ität die
freie Zirkulation des Wissens.
Mit Nelson Goodman ließe sich die moderne
Wissensakquisition als medienmodellierte Lesbarkeit der Welt
beschreiben. Die Überantwortung innermenschlicher
Wahrheitskriterien auf die (scheinbare) Objektivität
medientransportierter Informationen, dient als Beispiel
neuzeitlicher Externalisierung der
Wahrheitsüberprüfung. Solange Massenmedien wie
Rundfunk und Fernsehen ein glaub- bis fragwüdiges
Objektivitätsmonopol konkurrenzlos beanspruchen, mag
diese autorisierte Externalisierung funktionieren. Im Falle
des Internet als (noch) individualisiertes Medium wird ein
solcher Automatismus bzw. Autorität problematisch."[12]
Dies ist eine durchaus sympathische Folge, die jedoch hohe
Anforderungen an die "innermenschliche"
Überprüfung von Wahrheitsgehalten stellt."[13]
Damit wird auch die einseitig gerichtete Beziehung zwischen
Autor und Leser dynamisiertund die Autorenschaft im Sinne
der "Autorität" muß neu hinterfragt werden. Denn
die bereits weiter oben beschriebene Co-Autorschaft des
Rezipienten bietet im Vergleich zur Buchkultur einen
andersartigen Umgang mit Texten. Der Umgang mit dem Internet
ganz allgemein "erfordert das Commitment aller Beteiligten,
sich auf die Gestaltungsmöglichkeiten
selbstorganisierter Systeme einzulassen."[14] Insofern, so
könnte man spekulieren, wäre Locke vom Internet
als Hypermedium und von den Möglichkeiten einer
hypermedialen Norm der Sprache begeistert.
Anmerkungen
[1] Die vorgestellten Thesen und Überlegungen sind
Gegenstand meiner Dissertation. Hinweise und Diskussionen zu
diesem Thema interessieren mich sehr:
<gabriele@inm.de>.
[2] Wolfgang Coy schreibt dazu: "Der Computer ist die
medienintegrierende Maschine (vgl. Bolz 1992) per se, die
durch ihre algorithmische Programmierbarkeit neue
Möglichkeiten der interaktiven Nutzung ermöglicht.
Mit dem Computer als digitaler Kernmaschine entstehen
programmierbare Hypermedien." Coy, W.: Gutenberg &
Turing. Fünf Thesen zur Geburt der Hypermedien, 1994,
S. 73
[3] Lévy, P.: Cyberkultur. Universalität ohne
Totalität, 1996, S. 6
[4] Götz Großklaus beschreibt die Verdichtung
der Zeit und die Aktualisierung als mediales Leitprinzip.
"Die Erzeugung virtueller Realitäten (VR) fügt
unseren empirischen Wirklichkeit etwas hinzu: die
Erweiterung des zeit-räumlichen Horizonts ereignet sich
aus der Mitte des Gegenwartfeldes heraus. Hier öffnet
sich ein Raum intensiver Zeit, der mit dem vertrauten Raum
extensiver (linearer) Zeit nichts mehr zu tun hat." in:
Medien-Zeit, Medien-Raum, 1995, S. 57
[5] Klein, M.: Intranets - Nervensystem, Gedächtnis
und Gehirn, 1996, S. 7
[6] Dieses Konzept basiert auf Günter Abels
Unterscheidung zwischen "... Zeichen als Anzeichen (z.B.:
Rauch als Zeichen für Feuer) und Zeichen als Zeichen
mit symbolisierender Kraft (z.B. >>H2O<< als
Zeichen, das auf Wasser Bezug nimmt). Das Auftreten eines
Anzeichens oder Symptoms kann kausal bewirkt sein. Dagegen
meint die symbolisierende Bezugnahme eines Zeichens dessen
referenziale Zeichenfunktion, nicht den kausalen Kontext ...
Die Referenzfunktion eines Zeichens ist keine
Kausalreaktion." in: Sprache, Zeichen und Interpretation,
1995, S. 278,
[7] Als Beispiel kann hier die Deckelbildung in
Klimamodellen angeführt werden, die nicht mit den
Gleichungssystemen beschrieben ist, sondern als kausaler
Effekt durch die modelladäquate Zeichenmanipulation
hervorgerufen werden. Tritt dieser Effekt nicht ein, ist der
Leistungsumfang des Modells unbefriedigend.
[8] Coulmas, F.: Über Schrift, 1981, S. 13
[9] Ein eindrucksvolles Beispiel ist die "Room
exploration" von Gilles Barion, Andreas Haller und Peter
Frisch, der TH Darmstadt, Lehrstuhl CAD in der Architektur,
Professor Manfred Koob. Architekturstile wie fraktale
Geometriefiguren werden in Töne und Melodien
übersetzbar. (
http://www.cad.architektur.th-darmstadt.de/architectura_virtualis/Architektur_und_Musik)
[10]Whorfs These der Konstitution des Welterlebens durch
Sprache (lingusistischer Determinsimus) wird in
computergenerierten Welten Wirklichkeit (vgl. Whorf, B.L.:
Language, thought and reality, Cambridge, MA 1956
[11] Platon: Meisterdialoge. 1985, S. 259
[12]Die politische Brisanz des Internet liegt ein
Stück weit hierin begründet.
[13] Als Beispiel mag eine Newsgroup des Internets
dienen, die sich mit Gerüchten und der
Überprüfung von massenmedial-verbreiteten
Informationen beschäftigt. Die globale Verteilung der
Teilnehmer erlaubt die Überprüfung vor Ort und die
weltweite Kommunikation der Ergebnisse. Die
"Wahrheitsautorität" ergibt sich aus der
Übereinkunft der Teilnehmer bzgl. der Anforderungen an
die Kriterien der Überprüfung.
[14] Klein, M.: Intranets - Nervensystem, Gedächtnis
und Gehirn, 1996, S. 7
Literatur:
Abel, G.: Sprache, Zeichen und Interpretation, 1995, S.
278, in: Lenk, H.: Neue Realitäten. Herausforderungen
der Philosophie (16. Deutscher Kongreß der Philosophie
1995), Berlin 1995
Coulmas, F.: Über Schrift, Frankfurt 1981
Coy, W.: Gutenberg & Turing. Fünf Thesen zur
Geburt der Hypermedien, in: Zeitschrift für Semiotik,
Bd. 16, 1-2/1994, S. 69 - 74 Goodman, N.: Weisen der
Welterzeugung, Frankfurt 1984
Großklaus, G.: Medien-Zeit, Medien-Raum, Frankfurt
1995
Klein, M.: Intranets - Nervensystem, Gedächtnis und
Gehirn, in: Mitbestimmung Magazin der Hans Böckler
Stiftung, Baden-Baden 5/1996, S. 6/7; auch unter:
http://www.inm.de/inm_info/intranet.html
Lévy, P.: Cyberkultur. Universalität ohne
Totalität, in: Telepolis Die Zeitschrift der Netzkultur
0/1996, Mannheim, S. 5 - 33 Platon: Meisterdialoge,
Zürich 1974
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