Lernen mit Hypertext

Hypertext - ein völlig neues, revolutionäres Medium zur Darstellung, Vermittlung und Aneignung von Wissen? Wie das Wort andeutet, ist Hypertext Text, der irgendwie mehr ist als Text - ein Supertext. Aber was soll man sich unter einem solchen Supertext vorstellen? Es liegt die Frage nahe (wenn auch nicht ganz ernst gemeint), ob Lernen mit Hypertext zu einer Art Hyperlernen führt. Tatsächlich ist dies eine Behauptung einiger Autorinnen: Hypertext führt zu elaborierterem Lernen, indem vernetzte Strukturen aufgebaut und neue Wissensinhalte vielfältig mit schon vorhandenem Wissen verknüpft werden.  



Einsatzbereiche
Obwohl Hypertext ursprünglich konzipert wurde, um die Informationssuche in umfangreichen Datenbanken zu erleichtern , wurden die Anwendungsbereiche im Laufe der Zeit immer vielfältiger, und technische Weiterentwicklungen, gefolgt von einem massiven Preisverfall für Computer, taten ihr übriges, um Hypertext auch für den Lehrbereich immer attraktiver erscheinen zu lassen. Heute wird Hypertext in vielen Anwendungsbereichen, die man im weiteren Sinne als Lernkontexte ansehen kann, eingesetzt. Dazu zählen

 

  • Schulung und Training: Der Einsatz von Hypertext als Schulungssoftware in Betrieben wird dadurch interessant, daß Mitarbeiterinnen mit unterschiedlichen Wissensständen ihren Lernstilen entsprechend selbstgesteuert lernen können. So kann auf individuelle Differenzen Rücksicht genommen werden und aufwendige, kostenintensive und nicht gut in den normalen Arbeitsablauf integrierbare Seminare und Trainings werden weitgehend überflüssig. Anspruchsvollere Systeme dieser Art verfügen über eine tutorielle Komponente, die den Lehr-/Lernprozeß steuert.
  • Online-Dokumentation, Online-Hilfesysteme: Online-Dokumentationen und Hilfesysteme sind ein bevorzugter Anwendungsbereich für Hypertexte. Bei der Entwicklung solcher Systeme stehen Probleme wie die Konversion von Handbüchern in Online-Dokumentationen sowie die Integration von Online-Dokumentationen und Hilfesystemen im Vordergrund des Interesses. Für die Benutzerinnen haben solche Systeme den Vorteil, daß sie durch die erweiterten Zugriffsmechanismen von Hypertext (Eingabe von Suchbegriffen und Browsen) einen flexibleren Zugriff auf gesuchte Informationen haben. Hilfesysteme und Online-Dokumentationen sind oft hierarchisch organisiert mit einer Vielzahl zusätzlicher Querverweise, die in Büchern nur unzureichend abgebildet werden können und mit viel Blättern verbunden sind.
  • Schule: Der Einsatz von Hypertexten im Schulunterricht soll die Motivation der Schülerinnen erhöhen und entdeckendes, selbstbetimmtes und selbstverantwortliches Lernen fördern. Hypertexte werden in der Schule - wenn überhaupt - unterrichtsbegleitend eingesetzt und sind oft um eine instruktionale Komponente erweitert, d.h. es werden vordefinierte Pfade angeboten, Tests integriert, Verständnisfragen angeboten und Rückmeldungen auf diese gegeben.
  • Universität: Die Einsatzmöglichkeiten von Hypertexten in der universitären Ausbildung sind vielfältig. Als reine Informations-Systeme können sie Studentinnen bei der Literatursuche unterstützen oder allgemeine Informationen über die Universität bereitstellen, z.B. über Bibliotheken oder Mensen, über Dozentinnen, Studienpläne und Studienangebote. Den Studentinnen können aber auch vorgefertigte Hypertexte zur Vor- oder Nachbereitung von Kursen zur Verfügung gestellt werden; oder Vorlesungen, Seminare oder Übungen werden als Projekte konzipiert, in denen auf der Grundlage von Kursunterlagen der jeweilige Inhaltsbereich in einen Hypertext überführt wird. Hypertexte können auch von Dozentinnen zur Präsentation der Studieninhalte genutzt werden.
  • Freizeitbereich: Spiele, Ratgeber, Hobbybücher, Lexika oder Sachbücher, deren Inhalt gerade "Modethema" ist (z.B. Dinosaurier), werden heute auf elektronischen Medien gespeichert und können so Hypertext-Prinzipien nutzen. Besonders wichtig bei diesen Anwendungen ist die gelungene Präsentation: Farben, Animationen und "special effects" spielen für die Kaufentscheidung oft eine wichtigere Rolle als die Qualität des Inhalts.
  • Museum: In Museen und Ausstellungen werden immer häufiger sog. POI´s (Point of Information) aufgestellt, das sind Computerterminals, an denen die Museumsbesucherinnen zusätzliche Hintergrundinformationen zu den Ausstellungsstücken abrufen können. Museums-Systeme müssen wie alle öffentlichen Informations-Systeme ganz besonderen Anforderungen genügen. Sie müssen voraussetzungslos von den unterschiedlichsten Personengruppen bedient werden können. Eine ansprechende Oberfläche und eine möglichst einfache Benutzerführung sind entscheidende Qualitätskriterien für diese Art von Hypertext-Systemen. Hypertexte in Museen können sowohl zur gezielten Informationssuche als auch zum Lernen genutzt werden, wobei hier die Grenzen fließend sind und die Art der Nutzung von der Zielsetzung der Benutzerinnen abhängt.

  • Die instruktionspsychologische Perspektive:
    Lernen mit dem Computer

     Typisch für instruktionspsychologische Beiträge ist der Vergleich von Hypertexten mit üblichen computergestützten Lehr-/Lernprogrammen. Die Überlegenheit von Hypertexten über andere Lehr-Programme wird mit der Kontrolle der Lernenden über den Lernprozeß begründet. Lernen mit Hypertext ist immer auch Lernen mit dem Computer. Ist das Lernen mit dem Computer in einen instruktionspsychologischen Kontext eingebettet, spricht man von "Computer-Assisted Instruction" (CAI).
    Die Instruktionspsychologie orientiert sich an vorgegebenen Lehrzielen, und die Qualität einer Lehrmethode oder Lehrstrategie wird an der Erreichung dieses Lehrziels gemessen. Da sich Lehrziele aufgrund gesellschaftlicher Umstrukturierungen und Erfordernisse im Laufe der Zeit ändern können, werden Lehrmethoden nicht nur durch theoretische Weiterentwicklungen der Instruktionspsychologie und der sie bedienenden Grundlagenfächer geprägt, sondern auch durch diese äußeren Bedingungen. Weiterhin spielt bei der CAI der technische Fortschritt eine wichtige Rolle. Die im folgenden vorgestellten drei Entwicklungsschritte von CAI reflektieren folglich nicht nur theoretisch unterschiedliche Positionen, sondern auch technische Weiterentwicklungen und sich wandelnde gesellschaftliche Anforderungen.

      


    Skinner: Lehrmaschinen und programmierte Instruktion

    Bevor überhaupt daran gedacht werden konnte, Computer im Unterricht einzusetzen, gab es sog. Lehrmaschinen (teaching machines), die auf der behavioristischen Lerntheorie Skinners basierten. Die durch sie realisierte Programmierte Instruktion beruht auf zwei zentralen Prinzipien der Skinnerschen Lerntheorie: auf dem Gesetz der Übung und dem Gesetz des Effektes. Das Gesetz der Übung besagt, daß die Reiz-Reaktions-Verknüpfung um so stärker wird, je öfter sie gelernt wird. Das Gesetz des Effektes besagt, daß eine Reiz-Reaktions-Verknüpfung verstärkt wird, wenn der Reaktion eine Belohnung folgt.
    Eine einfache Lehrmaschine besteht aus einem kleinen Kasten, auf dessen Oberseite ein Fenster angebracht ist. In diesem Fenster ist ein Papierstreifen sichtbar, der z.B. eine Gleichung mit einer fehlenden Ziffer enthält. Dort, wo die Ziffer fehlt, ist ein Loch in den Streifen gestanzt. Durch Bewegen eines Schiebers kann die Schülerin eine richtige Ziffer auswählen und in dem Loch plazieren. Anschließend wird zur Bestätigung der Auswahl ein Hebel gedrückt. Ist die Antwort richtig, läßt sich der Hebel drehen, es ertönt ein Glockenton (konditionierte Verstärkung) und die nächste Frage wird dargeboten. Ist die Antwort falsch, läßt sich der Hebel nicht bewegen und es muß erneut versucht werden, die richtige Antwort zu geben.
    Mit dem Aufkommen preisgünstiger Personal-Computer wurden diese Konzepte auf das neue Medium übertragen, das bessere Möglichkeiten für die Ausgestaltung der Methode der programmierten Instruktion erlaubte: Umfang und Sequenzierungen der Lehreinheiten konnten in Abhängigkeit der Antworten variabler gestaltet werden, es konnten komplexere Fragen gestellt und komplexere Rückmeldungen gegeben werden.

      


    Intelligente tutorielle Systeme

    Durch die sogenannte "kognitive Wende" wandelte sich das Bild vom Menschen entscheidend: Die von den Behavioristen zuvor tabuisierten mentalen Prozesse wurden zentrales Thema der Kognitionspsychologie. Der Mensch wurde in Anlehnung an das Computermodell als informationsverarbeitendes System gesehen. Mit der Entwicklung von kognitiven Theorien, die sich auf dem Computer simulieren lassen, kam eine neue Art von Lehrprogrammen auf: intelligente tutorielle Systeme (ITS oder Intelligent Computer Assisted Instruction: ICAI). Diese Systeme basieren nicht wie traditionelle CAI-Systeme auf einem fest vorprogrammierten Lehr-Algorithmus, durch den die Abfolge der Programmschritte als Reaktion auf die Antworten festgelegt wird, sondern sie zeichnen sich durch hohe Flexibilität und Adaptivität aus, indem die Reaktionen situationsbedingt jeweils neu generiert werden. Auf der Grundlage des Verhaltens der Lernenden wird dynamisch ein Modell über den derzeitigen Wissensstand generiert und mit einem Expertenmodell verglichen. Die Ergebnisse des Vergleichs dieser beiden Modelle legen den jeweils folgenden Instruktionsschritt fest. Die drei wichtigsten Funktionskomponenten eines ITS-Systems sind
  • das Expertenmodul, welches die Fakten und Regeln eines bestimmten inhaltlichen Bereichs abbildet,
  • das Lernermodul, das eine Repräsentation des jeweiligen Wissensstandes der Lernenden abbildet, und
  • das tutorielle Modul, welches den tutoriellen Dialog festlegt.
  •  Lehrprogramme dieser Art werfen eine Reihe von Problemen auf. Z.B. machen diese Programme es erforderlich, Expertenwissen im Computer abzubilden. Sowohl die Diagnose als auch die Abbildung von Expertenwissen sind bis heute schwierige, mit vielen Unsicherheiten behaftete Probleme. Weiterhin wird von der Annahme ausgegangen, daß es eine optimale Art des Wissens gibt, und das Lehrziel besteht dann in der Vermittlung dieses Wissens. Das gilt - wenn überhaupt - aber nur für einen sehr eingeschränkten Wissensbereich, nämlich dann, wenn das Sachgebiet inhaltlich klar strukturiert ist. Es gibt aber eine ganze Reihe von Wissensbereichen, für die sich keine eindeutig richtigen oder falschen Antworten definieren lassen.


    Hypertexte: Kontrolle über den Lernprozeß

    Wie läßt sich nun Hypertext in die zuvor vorgestellten Konzeptionen von Lehr-Systemen einordnen? Wie läßt er sich für instruktionale Zwecke nutzen? Im Gegensatz zu üblichen CAI- und ICAI-Programmen verfügt Hypertext über keine instruktionale Komponente. Aufgrund dieser Tatsache ist Hypertext kein Lehr-System im engeren Sinne, sondern ein Lern-System. Sowohl bei der programmierten Unterweisung als auch bei CAI- und ICAI-Programmen werden die Entscheidungen über die nächsten Lern- bzw. Lehrschritte vom System getroffen. Die Kontrolle über den Lernprozeß liegt völlig auf Seiten des Computers. Bei Hypertexten ist das grundsätzlich anders. Die Kontrolle über die Sequenzierung der Lerneinheiten liegt ausschließlich bei der Lernenden, sie ist diejenige, die die Entscheidungen trifft. Genau dieser Unterschied macht das Hypertext-Konzept für diejenigen Pädagogen interessant, die den Lernenden mehr Verantwortung durch mehr Kontrolle über den Lernprozeß übertragen wollen.
    Der Begriff der "Kontrolle über den Lernprozeß" ist eine aus konstruktivistischen Vorstellungen abgeleitete Forderung, die in engem Zusammenhang mit Begriffen wie "entdeckendes Lernen", "exploratives Lernen", "selbstbestimmtes Lernen" oder "bedeutsames Lernen" steht. Laut Cunningham (1993) können die Ideale einer konstruktivistisch orientierten Pädagogik durch Hypertexte hervorragend unterstützt werden. Während der freien Navigation durch Informationsnetze können individuell bedeutsame Wissensstrukturen konstruiert werden. Die Komplexität vernetzter Hypertexte ist in diesem Zusammenhang nicht als Nachteil, sondern als Vorteil anzusehen, da die Bewältigung von Komplexität eine wichtige, in der heutigen Informationsgesellschaft dringend erforderliche Fertigkeit ist.
    Die Kontrolle der Lernenden über den Lernprozeß kann verschiedene Aspekte von CAI betreffen. Man unterscheidet
  • die Kontrolle über die Sequenzierung der Lerneinheiten: die Knoten-Link-Struktur kann in Hypertexten frei exploriert werden,
  • die Kontrolle über die Sequenzierung der Lernaktivitäten: Lesen, Informationssuche, Problemlösen, Ansehen interaktiver Demos, Bearbeiten von Verständnisfragen, usw.
  • Beide Arten von Kontrolle sollten entsprechend der Hypertext-Philosophie bei den Lernenden liegen, d.h. sie sollen entscheiden können, in welcher Reihenfolge sie die Informationen lesen, wann sie Testfragen beantworten, ob sie sich Beispiele ansehen wollen und wann sie die Sitzung beenden.
    Die zu diesem Thema durchgeführten Studien lassen dieses Ideal allerdings problematisch erscheinen. Eine wichtige Variable für die Effektivität der Variable "Lernerkontrolle" scheint das Ausmaß des Vorwissens zu sein: Je mehr Vorwissen vorhanden ist, um so besser kommen die Lernenden mit der ihnen auferlegten Verantwortung zurecht.
    Clark (1983) kommt aufgrund einer von ihm durchgeführten Studie zu der Schlußfolgerung, daß Studentinnen die Lehr-Methoden auswählen, die für sie am ungünstigsten sind. Hochbegabte wählten eine strukturierte, direktive Methode, obwohl sie am besten mit freieren, entdeckenden Strategien zurechtkommen; weniger begabte Studentinnen wählten Methoden, die entdeckendes Lernen ermöglichen, obwohl sie mehr von einer direktiven Methode profitiert hätten. Es scheint so zu sein, daß die Verantwortung für den Lernprozeß für Lernende eine Überforderung bedeutet.
    Jonassen (1986) stellt die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf Hypertexte in Frage, da in den Studien der Lernerfolg durch den Vergleich mit einem extern vorgegebenen Kriterium gemessen wurde. Hypertext solle aber gerade den Aufbau individuell unterschiedlicher, persönlich bedeutsamer Wissensstrukturen ermöglichen, und somit dürfe der Lernerfolg nicht an einem extern vorgegebenen Kriterium gemessen werden.


    Die kognitionspsychologische Perspektive:
    Roter Faden, rotes Netz oder doch nur rote Punkte?

    Im Zentrum des Interesses stehen hier die durch das Lernen mit Hypertext ausgelösten kognitiven Prozesse und die aus dem Umgang mit dem Textmaterial resultierenden Wissensstrukturen. Das Lernen mit Hypertext wird dem Lernen mit traditionellen, linearen Texten gegenübergestellt. Zentrales Argument für die Überlegenheit von Hypertext über linearen Text ist das Argument der "kognitiven Plausibilität".
    Ausgangspunkt des Arguments der kognitiven Plausibilität ist die Annahme, daß Wissen im menschlichen Gedächtnis in nicht-linearen, vernetzten Strukturen repräsentiert ist, und daß diese Organisationsform in Hypertexten ihre externe Entsprechung findet. Aus dieser Annahme werden zwei weitere, "kognitiv begründete" Behauptungen abgeleitet, die Hypertext als optimales Medium zur Kommunikation von Wissen postulieren. Eine dieser Behauptungen betrifft die Externalisierung von Wissen (Schreibprozeß), die andere die Internalisierung von Wissen (Lernprozeß). Die drei Aspekte der Hypothese der kognitiven Plausibilität lassen sich systematisieren und in drei Annahmen ausdrücken.

     

  • Annahme 1: Die nicht-lineare Struktur der Repräsentation von Wissen in Hypertexten entspricht der vernetzten Struktur der mentalen Wissensrepräsentation.
  • Annahme 2: Die Autorin kann ihre mentale Wissensstruktur, die als vernetzt strukturiert angenommen wird, direkt in Hypertext abbilden, ohne wie bei der traditionellen Textproduktion den Umweg über die Linearisierung nehmen zu müssen.
  • Annahme 3: Beim Lesen von nicht-linearen Hypertexten entfällt der Prozeß der Delinearisierung. Wissen kann direkt vernetzt aufgenommen werden.


  • Texte und Hypertexte: ein Vergleich
    Hypertexte unterscheiden sich von linearen Texten nicht nur durch ihren nicht-linearen Aufbau. Das Schreiben eines Hypertextes wird oft von einer grundsätzlich anderen Strukturierungsphilosophie geleitet, und als Folge der Nicht-Linearität muß auf andere Kohäsion stiftende Mittel zurückgegriffen werden. Diese Unterschiede haben Auswirkungen auf den Lese- und Verstehensprozeß, die unter den beiden Begriffen "Desorientierung" und "kognitive Überlastung" in der Hypertext-Literatur ausführlich diskutiert werden.  

    Zwei Strukturierungsphilosophien

    Hypertexten liegt eine grundsätzlich andere Strukturierungsphilosophie zugrunde als traditionellen Lehrtexten. Bei traditionellen Texten wird der Prozeß der Linearisierung bzw. Hierarchisierung (das sorgsame Legen des "roten Fadens") als eine entscheidende Leistung der Autorin angesehen. Die Fähigkeit der Autorin, die Wissenseinheiten in eine sinnvolle, verständliche Reihenfolge zu bringen, die klare Unterscheidung von Übergeordnetem und Untergeordnetem, von Wichtigem und weniger Wichtigem bestimmt entscheidend mit, wie gut aus einem Buch gelernt werden kann. Dazu muß die Autorin sich in die Lage der Lernenden versetzen und den Sachverhalt aus dieser Perspektive heraus ausbreiten: die komplexe, vernetzte Wissens-Struktur wird in eine möglichst einfache, hierarchische Struktur überführt, die der vernetzten Struktur möglichst nahe kommt. Die hierarchische Textstruktur ist somit eine Reduktion der tatsächlichen Inhaltsstruktur und kann als ein Kompromiß angesehen werden, den die Autorin eingeht, um zwischen der exakten, möglichst umfassenden Darstellung des Themas und den Fähigkeiten der Leserin zu vermitteln.
    In hierarchisch aufgebauten Texten werden mehrere Ideen unter einem bestimmten Aspekt zusammengefaßt, als zusammengehörig und damit auch als unterschiedlich von anderen Aspekten deklariert. Hierarchische Relationen übernehmen somit eine global ordnende Rolle. Sie setzen die Textelemente zueinander in Beziehung, ohne deren semantische Relationen untereinander genau zu spezifizieren. Ein Unterpunkt kann zu seinem übergeordneten Punkt in einer ganz anderen semantischen Relation stehen als dies für zwei andere Textelemente gilt, die in derselben hierarchischen Relation zueinander stehen. Auch die unter einem Aspekt zusammengefaßten Unterpunkte können in sehr unterschiedlichen semantischen Relationen zueinander stehen. Es können bloße Aufzählungen sein, Argumentationsketten, verschiedene, aber aufeinander bezogene Standpunkte, die zu einem bestimmten Thema vertreten werden, zeitliche Abfolgen, usw.Die semantischen Relationen werden innerhalb des Textes selber ausgedrückt.
    Auch Texte sind in den seltensten Fällen inhaltlich rein hierarchisch strukturiert, sondern mehr oder weniger stark vernetzt. Hierarchische Textstrukturen sind eher als Orientierungshilfen anzusehen, die - in Einklang mit der Inhaltsstruktur - über den Text gestülpt werden. Meist sind verschiedene Hierarchien denkbar, d.h. es gibt mehrere Möglichkeiten, Textabschnitte unter bestimmten Aspekten zusammenzufassen. Die Entscheidung für eine der verschiedenen Möglichkeiten liegt bei der Autorin.
    Hierarchische Strukturen haben die Eigenschaft, daß die Stellung eines Elementes innerhalb der Hierarchie vielfältige Hinweise auf seine Bedeutung im Gesamtzusammenhang liefert: die Position gibt Auskunft über die relative Wichtigkeit, das Verhältnis zu übergeordneten, untergeordneten und auch gleichgestellten Elementen. Es ist somit an jeder Stelle klar, in welchem Kontext die einzelnen Textabschnitte zu interpretieren sind. Nicht-hierarchische Relationen und deren semantische Bedeutung werden in den Text integriert. Ferner sind hierarchische Strukturen minimal verknüpfte Strukturen. Sie verfügen über N Knoten und N-1 Relationen. Alle anderen Strukturen (außer lineare) mit der gleichen Anzahl von Knoten verfügen über mehr Verknüpfungen.
    Die Hypertexten zugrundeliegende Strukturierungsphilosophie ist eine grundsätzlich andere. Anstatt das Schwergewicht auf die Reduktion der Komplexität des Sachgebietes durch eine Hierarchisierung der Wissenseinheiten zu legen, wird angestrebt, die komplexe Inhaltsstruktur möglichst umfassend und in allen Einzelheiten auch an der Textoberfläche abzubilden. Anders ausgedrückt: Die Autorin kann vielfältige Verknüpfungen erstellen und so eine dem Thema und ihrem eigenen Wissen entsprechende, vernetzte Struktur aufbauen.
    Vernetzte Hypertext-Strukturen verfügen im Vergleich zu hierarchischen Strukturen bei gleicher Anzahl von Wissenselementen über mehr Verknüpfungen an der Oberfläche.
    Hinweise auf die relative Bedeutung des Wissenselementes innerhalb des Gesamtzusammenhangs nicht oder nicht in dem Maße deutlich, wie das bei hierarchisch strukturierten Texten der Fall ist. Ein Wissenselement bzw. Knoten ist zwar auch mit einer Reihe anderer Elemente verknüpft, die Relationen haben aber eher lokale Bedeutung, d.h. sie sind nur im Zusammenhang mit dem gerade zuvor gelesenen Knoten interpretierbar. Die Beziehungen zu weiter entfernt liegenden, durch mehrere Links voneinander getrennten Knoten ist aus diesen lokalen Relationen nicht direkt ableitbar.
    Die strukturelle Unterschiedlichkeit der den beiden Textarten zugrundeliegenden Strukturierungs-Philosophien besteht natürlich in konkreten Texten bzw. Hypertexten nie in dieser Deutlichkeit. Auch lineare Texte verfügen, wie oben schon angedeutet wurde, über nicht-lineare Strukturen, allerdings werden diese in Texten möglichst sparsam eingesetzt und weniger explizit gemacht. Sie treten gegenüber der dominierenden hierarchischen Struktur in den Hintergrund.
    Auf der anderen Seite sind aber auch Hypertexte nicht völlig "strukturlos". In ihnen spielen aber die referentiellen, assoziativen Verknüpfungen die zentrale Rolle. Typisierten Links, mittels derer hierarchische oder andere, ordnende Strukturen aufgebaut werden, kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu.


    Kohäsion und Kohärenz

    Obwohl es keine einheitlich anerkannte Definition von "Text" gibt, so wird doch allgemein akzeptiert, daß ein Text ein kohärentes Ganzes ist. Ein Text ist kohärent, wenn die in ihm enthaltenen Informationen so aufeinander bezogen sind, daß auf Seiten der Leserin keine Informationslücken oder -brüche entstehen. Diese Kohärenz wird erreicht durch grammatikalische Mittel der Kohäsion (z.B. durch Pronomina, Konjunktionen) und durch inhaltlich-semantische, kohärenzbildende Strukturen. Beispiele für solche Kohärenz stiftenden Elemente sind zB:
  • die Thematisierung nicht-neuer Gegenstände,
  • Kausalanknüpfungen,
  • Motivanknüpfungen,
  • diagnostische Interpretationen,
  • Spezifizierungen,
  • metasprachliche Einordnungen,
  • Temporalanknüpfungen,
  • Vergleiche, usw.
  • In Texten stehen also vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung, innerhalb des Textes auch abschnitts- bzw. kapitelübergreifende Zusammenhänge herzustellen. Ferner kann auch bei nicht-linearer inhaltlicher Struktur auf schon zuvor Gelesenes verweisen werden, oder es wird - sozusagen zur Beruhigung der Leserin - auf noch kommende Textabschnitte verwiesen. Durch einleitende Sätze kann angedeutet werden, in welcher Relation die folgenden Sätze oder auch Abschnitte zueinander stehen und folglich zu interpretieren sind.
    Bei nicht-linearen Hypertexten sieht die Situation anders aus. Da die Leserinnen auf die Knoten eines Hypertextes in beliebiger Reihenfolge zugreifen können, darf der Inhalt eines Knotens nicht für das Verständnis eines anderen vorausgesetzt werden. Die Knoten eines Hypertextes müssen folglich in sich abgeschlossene, semantisch und syntaktisch diskrete Informationseinheiten bilden, die für sich alleine verständlich sind Ein in sich abgeschlossener Knoten wird erzeugt, indem er keine auf vorhergehende Knoten verweisende Pronomina enthält. Durch diese Abgeschlossenheit wird eine Textfragmentierung hergestellt, die nicht nur den Vorteil der beliebigen Lesereihenfolge mit sich bringt, sondern auch den Nachteil, daß übliche, Kohäsion und Kohärenz bildende Strukturen zwischen den Knoten nicht mehr anwendbar sind.
    Beispiele für die die Abgeschlossenheit verletzende Formulierungen sind

  • Zweitens ...
  • Nachdem ...
  • Wie wir schon in Kapitel 3 gesehen haben, ...
  • Er ...
  • Solche Formulierungen machen in Hypertexten, sofern sie sich auf Inhalte anderer Knoten beziehen, keinen Sinn, da man nie davon ausgehen kann, daß die Leserin den Knoten, auf den verwiesen wird, schon gelesen hat.
    In Hypertexten wird knotenübergreifende Kohärenz durch die Links hergestellt. Sie zeigen an, daß eine Relation zwischen zwei Knoten besteht. Sind die Links zusätzlich typisiert, dann zeigen sie auch die Art der zwischen den Knoten bestehenden Relation an. Auch wenn man zwei Knoten und den sie verbindenden Link als Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur konzipiert, so ist dies doch ein sehr beschränktes und umständliches kohärenzbildenes Mittel. Die durch Hierarchien herstellbare globale Kohärenz ist bei Hypertexten nicht mehr gegeben. Hier findet man nur lokale Kohärenz, d.h. die über die Links vermittelte Beziehung zwischen benachbarten Knoten.


    Konsequenzen für das Lernen mit Hypertext

    Das Fehlen einer ordnenden Struktur führt zu einer Reihe von Problemen beim Lernen mit Hypertexten, die in der Literatur ausführlich unter den Begriffen "kognitive Überlastung" und "Desorientierung" abgehandelt werden.  


    Entscheidungsfreiheit und kognitive Überlastung

    Der in Hypertexten gegebenen Entscheidungsfreiheit, die als positives Element gesehen wird, steht das Problem der kognitiven Überlastung (cognitive overhead) gegenüber. Conklin (1987) definiert das Problem als die zusätzliche Anforderung, die durch die gleichzeitige Ausführung zweier Aufgaben, nämlich dem Lesen bzw. Verstehen des Inhalts und dem Treffen von Navigationsentscheidungen, erforderlich ist:
    The problem of cognitive overhead [...] occurs in the process of reading hypertext, which tends to present the reader with a large number of choices about which links to follow and which to leave alone. These choices engender a certain overhead of metalevel decision making, an overhead that is absent when the author has already made many of these choices for you. At the moment that you encounter a link, how do you decide if following the side path is worth the distraction? Does the label appearing in the link tell you enough to decide? This dilemma could be called "informational myophia." The problem is that, even if the system response time is instananeous (which it rarely is), you experience a definite distraction, a "cognitive loading," when you pause to consider whether to pursue the side path. This problem can be eased by (1) having the cross-referenced node appear very rapidly [...], (2) providing an instantaneous one- to three-line explanation of the side reference in a pop-up window [...], and (3) having a graphical browser which shows the local subnetwork into which the link leads. (Conklin, 1987, S.40)
    Wird ein Hypertext zum Lernen genutzt, dann hat das Problem hat aber auch noch eine andere, zusätzliche Dimension. Eine Leserin, die dazu aufgefordert wird, den Inhalt - und dazu gehören ja auch die semantischen Beziehungen der Einzelaspekte untereinander - zu lernen, wird sich, nachdem sie einen Knoten gelesen hat, für eine von mehreren Alternativen entscheiden müssen. Diejenigen Links, die nicht verfolgt wurden, aber dennoch auf wichtige Beziehungen verweisen können, muß sie, will sie der Aufforderung nachkommen, im Gedächtnis behalten, um ihnen zu einem späteren Zeitpunkt nachzukommen. Geht man von der begrenzten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses aus, dann stehen immer weniger Resourcen für den eigentlichen Verstehensprozeß zur Verfügung.  

    Orientierungs- oder Rekodierungsproblem?

    Orientierungsprobleme werden in der Hypertext-Literatur primär als Navigationsprobleme interpretiert und in Analogie zur Navigation in natürlichen Umgebungen gesehen. Konsequenterweise werden Browser meist in Analogie zu Landkarten gestaltet, bilden also die Knoten und ihre Beziehungen zueinander räumlich-visuell ab. Diese Art Übersichtsmittel soll die Leserin beim Aufbau einer mentalen Landkarte (mental map) unterstützen.
    Das Problem der Desorientierung darf aber nicht nur auf fehlendes Übersichtswissen in Analogie zur räumlichen Orientierung reduziert werden, sondern es ist in seinem Kern ein Strukturierungs- bzw. Recodierungsproblem. Wenn eine Leserin zu verstehen gibt, daß sie nicht weiß, wo sie sich befindet, wohin sie gehen kann oder wie sie zu einem bestimmten Punkt zurückgelangen kann, kann das auch Ausdruck dafür sein, daß sie nicht weiß, in welcher Relation weiter auseinanderliegende Knoten zueinander stehen, unter welchem übergeordneten Konzept sie suchen muß.
    Da in Hypertexten das Schwergewicht auf lokalen Relationen und somit auf der Herstellung lokaler Kohärenz liegt, kann es ein Problem bedeuten, die Beziehung zwischen nicht direkt über einen Link miteinander verbundenen Knoten zu bestimmen (bzw. zu "entdecken"). Dieses Problem kann durch graphische Browser oder sonstige visuell-räumliche Überblickshilfen zwar reduziert werden, indem sie einfach abgesucht werden, bis der entsprechende Knoten gefunden wird, aber die Ursache des Problems liegt tiefer, nämlich in der fehlenden Vorstrukturierung des Hypertextes und als Folge davon in der fehlenden globalen Kohärenz.
    Es ist bekannt, daß ein wichtiges Element erfolgreichen Lernens das Ausmaß ist, in dem es der Lernenden gelingt, das dargebotene Material zu organisieren, d.h. in einer möglichst effektiven Weise relational miteinander zu verknüpfen. Eine umfangreiche Informationsmenge kann nur dann erfolgreich enkodiert werden, wenn es gelingt, reduktive Strategien anzuwenden. Dabei scheinen strukturelle "Angebote" beim Aufbau solcher Wissensstrukturen einen wesentlichen lernerleichternden Effekt zu haben. So konnte für das Lernen von Wortlisten nachgewiesen werden, daß die Behaltensleistung steigt, wenn kategoriel zusammengehörende Worte nacheinander dargeboten werden, die Listen über die verschiedenen Präsentationsfolgen hinweg eine feste Reihenfolge aufweisen, oder die Kategorien vorgegeben werden. Ferner konnte gezeigt werden, daß dieses Clustering bzw. Chunking nicht auf eine Hierarchie-Ebene beschränkt bleibt, sondern daß hierarchische Strukturen mit mehreren Ebenen aufgebaut werden.
    Nach Bock (1978) bleiben Prozesse der Recodierung nicht auf isolierte Worte beschränkt, sondern spielen prinzipiell auch auf Satz- und Textebene eine Rolle. Das hat natürlich Implikationen für das Lernen mit Hypertexten.
    An dieser Stelle stellt sich also die Frage, ob die hierarchische Strukturierung traditioneller Texte als eine durch das lineare Medium "Papier" auferlegte Beschränkung anzusehen ist, wie von Befürwortern des Hypertext-Konzeptes argumentiert wird, oder ob sie vielmehr ein sinnvolles Prinzip der Wissensvermittlung darstellt. Ist die Hierarchisierung evtl. ein grundlegendes, natürliches Organisationsprinzip menschlicher Informationsverarbeitung und kommen traditionelle, hierarchisch aufgebaute Texte diesem Prinzip entgegen, indem sie den Leserinnen eine Art "natürlicher" Strukturierung anbieten?
    Die in hierarchisch aufgebauten Texten explizit enthaltene strukturelle Information ist ganz entscheidend für effektives Lernen. Ausgehend von den übergeordneten Konzepten bzw. Ideen werden die untergeordneten Ideen in diesem Kontext, mit Bezug auf das Übergeordnete gelernt. Das Lesen bzw. Lernen neuer Abschnitte geschieht in Hierarchien im Kontext der übergeordneten, zuvor schon gelesenen Abschnitte. Dadurch wird das Clustering bzw. Chunking von Ideen begünstigt, verschiedene Abschnitte können unter einem gemeinsamen Thema zusammengefaßt werden.