"Lernen wurde aus der Schule ausgelagert"

Die Furche:
Herr Professor Stangl, finden die Erkenntnisse der Gehirnforschung im heimischen Schulwesen Gehör?
Werner Stangl:
Meist nicht - wobei man sagen muss, dass das Lernen ja großteils aus der Schule ausgelagert ist. De facto wird in der Schule der Stoff vermittelt und zu Hause muss er geübt und gelernt werden. Das ist tödlich, abgesehen davon, dass die Kinder auf Arbeitszeiten von 60 bis 70 Stunden kommen. Selbst die Grundregeln der Lernpsychologie werden nicht berücksichtigt: Man kann maximal vier Stunden konzentriert lernen - verteilt über den ganzen Tag. Wenn man eine einstündige Lerneinheit hinter sich hat, ist das Gehirn bis zu zwei Stunden lang damit beschäftigt, diese Inhalte abzuspeichern. Wenn man zur selben Zeit etwas anderes tut, passiert genau das nicht. Dann kommt es zu Interferenzen, denn das Gehirn hat eine beschränkte Kapazität in Bezug auf die Verarbeitung von Inhalten. In Bezug auf das Gedächtnis selbst hat man genug Kapazität. Man nutzt es im Lauf des Lebens zu höchstens zehn Prozent aus.

Die Furche:
Lernen Österreichs Schülerinnen und Schüler, wie sie am besten lernen sollen?
Stangl:
Eigentlich nicht. Ich sage meinen Studenten immer, dass es zum Lehrberuf dazugehört, den Schüler nicht nur Stoff zu vermitteln, sondern auch die Fähigkeiten, wie sie sich das merken sollen. Das ist auch eine der wenigen Möglichkeiten, wie man Schüler von außen motivieren kann. Aber wie gesagt: Die Rahmenbedingungen an unseren Schulen sind nicht einmal so, dass man lernen kann - und motivieren erst recht nicht.

Die Furche:
Welche Rahmenbedingungen müssten für nachhaltiges Lernen gegeben sein?
Stangl:
Nachhaltiges Lernen ist nichts anderes als Sinngenerierung. Der Schüler muss motiviert sein und der Inhalt muss irgendeine Bedeutung für seine Lebenssituation haben. Deshalb sind unsere Schulen so ineffektiv. Machen Sie nur den  "Elchtest“ für unseren Unterricht: Geben Sie als Lehrer den Schülern die selben Prüfungsfragen ein Jahr später, und Sie werden Ihr blaues Wunder erleben.

Die Furche:
Müsste man also den Lehrplan radikal entrümpeln?
Stangl:
Der Lehrplan ist nicht schlecht. Es geht darum, wie ich ihn umsetze. Was die Schüler überfrachtet, sind vor allem die Lehrbücher. Man könnte aus jedem Mathematikbuch aus der Mittelschule 80 Prozent herausstreichen, um auf den Lehrplanstoff zu kommen. Deshalb bin ich Schulbüchern sehr kritisch gegenüber, sofern es sich nicht um Atlanten, Wörterbücher oder Übungsbücher handelt.

Die Furche:
Apropos Mathematik: Ist es nicht gerade in diesem Fach schwer, den Schülerinnen und Schülern deutlich zu machen, wozu sie dieses Wissen - jenseits der Grundrechnungsarten - wirklich brauchen?
Stangl:
Schon. Trotzdem kann man es interessant aufbereiten. In der Regel wird aber in einem Tempo vorgegangen, das dem kindlichen Denken nicht entspricht. Ich habe einmal einem Mathematiklehrer vorgerechnet, dass er in der ersten Klasse AHS bis zu Weihnachten rund 500 neue Fachbegriffe eingeführt hat, die notwendig waren, um dem Unterricht folgen zu können.

Die Furche:
Oft wird gesagt, ein Lehrer muss begeistert sein, dann kann er auch seine Schüler begeistern …
Stangl:
Das ist sicher ein guter Ansatz, aber allein ist das viel zu wenig. Es geht darum, den Schüler dazu zu bringen zu verstehen, warum er genau jetzt etwa die "Wahlverwandtschaften“ lesen soll. Das wird einem Lehrer aber kaum gelingen, wenn er nur sagt, dass das im Lehrplan steht. Dazu kommt die verheerende Stundeneinteilung in der Schule: Man findet kaum Schulen, an denen es möglich ist, über längere Zeit fächerübergreifenden Themenunterricht zu geben, obwohl viele Schulversuche beweisen, wie effizient das ist. Hier könnten sich Lehrer zusammentun, um etwa das Thema "Amerika“ zu behandeln. Der Lehrplan schreibt auch vor, dass darauf Bedacht zu nehmen ist, was in den anderen Fächern gemacht wird. Aber das kostet Zeit - und unser Schulsystem stellt Lehrern diese Zeit nicht zur Verfügung.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Nähere Infos über Lernstrategien findet man unter www.stangl-taller.at


Quelle: http://www.furche.at/archivneu/archiv2003/fu1103/08.shtml (03-03-18)