Unter den zahllosen empirischen Untersuchungen gibt es keine, die dem Ziffernnotenzeugnis eine ausreichende Objektivität bestätigt. Ein und dieselbe Leistung wird von verschiedenen Lehrern und Schulen unterschiedlich beurteilt, und das bis hin zur Matura und zum Universitätsdiplom. - Die Schule aber mißt den Schülerinnen (der besseren Lesbarkeit willen im folgenden masculin!) mit diesem unsauberen Besteck nach wie vor Lebens- und Sozialchancen zu und wird damit höchst ungerecht.
Die Schüler werden nicht ermuntert, um der Sache willen zu
lernen, sondern um der Note willen. Die Note gilt, auch wenn sie
erschwindelt ist. Außerdem erfüllt die ständige Sorge
um den Rangplatz die Schüler mit Angst, die zu psychosomatischen
Störungen und im Extremfall sogar zum Selbstmord führen
kann. - Darüber hinaus läßt die für die
Notenfindung unabdingbare "ständige Beobachtung" die forschende
Grundhaltung der Schüler verkümmern, da doch jede falsche
Vermutung (falsifizierte Hypothese) gegen sie verwendet werden
kann.
Die Ziffernnote kann gar nicht anders, als daß sie die Leistung des einzelnen Schülers im Hinblick auf die anderen, bzw. auf das Mittelmaß der Klasse beurteilt. Dies provoziert eine Vergiftung des sozialen Klimas: Das vom System vorprogrammierte Rivalisieren kann nach einem Wort von Fritz Redl die Klasse in einen Hunderennplatz verwandeln; Eifersucht, Neid, Überheblichkeit und Schadenfreude blockieren die Hilfsbereitschaft und verhindern Kooperation.
Wenn sich der schwache Schüler von der schlechten Note nicht entmutigen läßt und angestrengt weiterlernt, kommt er voran. Die anderen, die ihm überlegen sind, kommen aber auch voran. Seine schlechte Note verändert sich daher nicht, und die Afterposition im Geleitzug der Schule bleibt Afterposition! Unter solchen Bedingungen kann sich kein Selbstwertgefühl aufbauen. Weil aber niemand ohne Anerkennung leben kann, besteht die Gefahr des Abgleitens in die Clique (vgl. Skinheads u. a.), die nach ihrer eigenen "Moral" belohnt.
Wenn sich ein begabter Schüler auf die "faule Haut" legt und das Jahr über kaum etwas hinzulernt, ist seine Leistung nicht einmal als "genügend" zu bezeichnen. Der unermüdliche Einsatz eines Schwachbegabten und der für seine Verhältnisse respektable Zugewinn müssen als "gut" oder gar "sehr gut" bezeichnet werden. - Wo bleibt dann aber die Lauterkeit der Aussage gegenüber dem Außenstehenden (Berichts- und Berechtigungsfunktion des Zeugnisses), wenn doch die Leistung des Begabten die des Unbegabten immer noch deutlich hinter sich läßt?
Die Rolle des Lehrers hat die des Trainers zu sein, des Helfers und Förderers. Wenn er sie mit der des (Kampf-)Richters vertauscht, wenn er sich auf das Diagnostizieren und Urteilen oder Aburteilen verlegt, beginnen ihm seine Schüler zu mißtrauen. Sobald der Lehrer den "Spezi" herausnimmt, kündigt er gewissermaßen die Freundschaft auf. - Die Ziffernnote birgt in sich auch die Verführung, daß sie als Waffe mißbraucht wird oder gar als Instrument des Zynismus und des Sadismus. Sie vergiftet häufig auch das Klima zwischen Elternhaus und Schule; in manchen Fällen werden sogar die Gerichte befaßt.
Zur Sanierung dieser von der Ziffernzensur verursachten Defizite
werden im In- und Ausland drei Alternativen erprobt: die verbale
Beurteilung, die Auflistung erreichter Ziele (Pensenbücher,
Lern- und Entwicklungsberichte u. ä.) sowie die Direkte
Leistungsvorlage (Portfolios).
Die DLV stellt eine Art kopernikanische Wende dar, weil sie den
Adressaten (Firmenchef u. a.) nicht entmündigt: Sie legt ihm
keinen Stellvertreter der Leistung vor (Codewörter und -zahlen),
sondern diese selbst (exemplarisch ausgewählte Belegstücke
des erreichten Leistungsniveaus: Arbeiten aus der Mathematik, Texte
aus Deutsch und den Fremdsprachen, diverse Arbeitsblätter,
Projekte, Leselisten, Liste der gelernten Lieder mit Beispielen der
individuellen Notenkenntnis, Daten aus der Leibeserziehung, Kassetten
mit Dokumenten der mündlichen Ausdrucksfähigkeit u.a.). Die
DLV bezieht die Vorteile der verbalen Beurteilung mit ein
(Lehrerkommentare zu den einzelnen Belegstücken) wie auch die
der Lernziellisten, die gegebenenfalls zur Orientierung beigelegt
werden können.
Diese auch in Österreich in einer wachsenden Zahl von
Schulversuchen erprobte Alternative