Anja Weiberg

Klüfte im Konzept der Rationalität: Randnotizen zu Hume und Kant

Wittgenstein Symposium. Der Philosoph John R. Searle kritisierte beim Philosophenkongreß in Kirchberg/Wechsel den klassischen Begriff von Rationalität: Es gebe zumindest drei Klüfte ("gaps") in diesem Konzept.

Wenn mehr als 250 Teilnehmer eine Woche lang über scheinbar so geläufige Ausdrücke wie rational und irrational diskutieren, wundert das den Laien sicherlich. Man übersieht dabei aber, daß diese in ihrer Verwendung selbstverständlich und unproblematisch erscheinenden Begriffe ein bereits sehr altes und - heute mehr denn je - überaus wichtiges philosophisches Problem sind. Denn dabei entstehen Fragen wie "Warum und wie handeln wir?" "Welche Motive gibt es für unser Handeln?" und "Gibt es Kriterien, die unser Handeln als rational bestimmen - und wenn ja, welches sind diese Kriterien?"

Neben diesen allgemeinen Fragen stellen sich auch solche nach spezifischen Kennzeichen verschiedener Formen von Rationalität - in unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaft, Politik, Ökonomie oder Religion. Stets wird dabei die Frage nach der Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität thematisiert, eine Frage, der sich auch der US-Philosoph John R. Searle (Berkeley) bei seinem Eröffnungsvortrag des 23. Internationalen Wittgenstein Symposiums in Kirchberg am Wechsel stellte.

Sein Ausgangspunkt ist dabei das klassische Rationalitätsmodell, das vor allem auf den Werken von Aristoteles, David Hume und Immanuel Kant aufbaut. Diese Theorie ist Searles Ansicht nach bestenfalls zur Beschreibung spezieller Fälle geeignet. Keinesfalls jedoch stelle sie eine adäquate generelle Beschreibung der Rationalität und ihres Funktionierens dar.

Während nach dem klassischen Modell Rationalität durch Wünsche und Anschauungen verursacht wird und vor allem im Befolgen von Regeln besteht, betont Searle die Existenz eines "Selbst", das über die Freiheit der Wahl verfügt. Rationalität ist in diesem Zusammenhang keine separate Fähigkeit oder ein gesondertes Vermögen, sondern ist bereits in der Struktur unseres Denkens und unserer Sprache verankert.

Erklärliche Willensschwäche

Eine rationale Handlung zeichnet sich nach Searle gerade dadurch aus, daß die psychologischen Ausgangsbedingungen nicht ausreichen, um Handlungen zu verursachen. Solche Fälle entsprechen vielmehr dem, was wir gemeinhin unter einer irrationalen Handlung verstehen.

Searle spricht in diesem Zusammenhang von einer Kluft ("gap"), und zwar in dreifacher Hinsicht: erstens zwischen den Gründen und der Entscheidung, zweitens zwischen der Entscheidung und der Handlung, drittens zwischen der Initiierung einer Handlung und ihrer kontinuierlichen Ausführung.

Wir befinden uns im Fall einer rationalen Handlung nicht im Griff einer Leidenschaft oder Besessenheit, sondern wir haben die Freiheit der Wahl - der Wahl zum einen, wofür wir uns entscheiden, und zum anderen, ob wir das, wofür wir uns entschieden haben, dann auch tatsächlich tun.

Ein funktionierendes Modell der Rationalität müsse, so Searle, eine Möglichkeit der Unterscheidung zwischen diesen beiden Handlungsweisen anbieten. Rationalität sei nur dort möglich, wo auch die Möglichkeit der Irrationalität bestehe. Wo aber die Gründe allein ausreichend für die Verursachung einer Handlung seien, gebe es folglich auch keine Irrationalität.

Mit diesem Konzept der Kluft läßt sich ein Problem lösen, mit dem die Vertreter des klassischen Rationalitätsmodells immer kämpfen: nämlich mit Fällen von Willensschwäche. Diese ist im Rahmen des alten Modells nur dann möglich, wenn etwas mit den Ausgangsbedingungen nicht stimmt. Sind die Ausgangsbedingungen hingegen richtig aufgebaut, erfolgt die Handlung aus ihnen mit Notwendigkeit. In diesem Zusammenhang wird immer wieder das Beispiel einer moralischen Entscheidung angeführt: Folgt aus dieser keine entsprechende moralische Handlung, dann war die Entscheidung keine moralische Entscheidung, da man sonst nach ihr hätte handeln müssen.

Diese Sichtweise bedeutet nach Searle nichts anderes als eine Vernachlässigung des von ihm so betonten Konzepts der Kluft - in diesem Fall zwischen Entscheidung und Handlung. Handlungen wider besseres Wissen geschehen bei den meisten Menschen beinahe täglich -und man würde diesen Menschen wohl kaum alle Moral abstreiten wollen.

Ein anderer zentraler Kritikpunkt Searles am klassischen Rationalitätsmodell befaßt sich mit der Ansicht, daß praktische ~ Vernunft mit einem gewissen i Bestand an primären Interessen des Handelnden beginnen müsse: mit fundamentalen Wünschen und Absichten des Handelnden und Evaluierungsgrundlagen für konkrete Handlungen. Searle formuliert seinen Einwand gegen diese Sichtweise mit dem Hinweis auf Handlungsgründe, die offensichtlich unabhängig von diesen "primären Interessen" sind.

Wie viele Klüfte gibt es?

"Auf welche meiner primären Interessen sollte sich beispielsweise der Grund dafür beziehen, im Gasthaus die Rechnung für mein Bier zu bezahlen?" fragt Searle. Er betont, daß Handlungsziele oft "als solche" angestrebt würden, unabhängig von den zugrundeliegenden "Basiswünschen".

An Searles Rationalitätsmodell rieben sich dann auch viele Teilnehmer des Symposiums: etwa der Prager Philosoph Josef Moural oder der Mitorganisator des Kongresses, Barry Smith, der nach der Verbindung zwischen dem von Searle postulierten rationalen "Selbst" und der physikalischen Welt fragte.

Leonardo Zaibert (Wisconsin) warf die Frage auf, wie viele "gaps" es denn nun wirklich gibt: Searle habe von mindestens drei gesprochen, sei aber die Antwort schuldig geblieben, wie viele es tatsächlich seien. Zaibert lieferte Beispiele sowohl für Situationen, in denen offensichtlich weniger als drei Klüfte vorhanden sind, als auch für andere, in denen die Möglichkeit einer anderen Kluft als der von Searle erwähnten besteht.

Weiters argumentierte Zaibert, daß es durchaus Fälle gebe, bei denen intentionale Zustände ausreichend handlungsverursachend und die Handlungen nicht irrational seien, obwohl hier keine Kluft mehr vorzufinden sei. Dies betreffe Situationen, in denen man - sozusagen exemplarisch - einmal eine Entscheidung getroffen habe, in allen analogen Situationen danach aber gewissermaßen automatisch handle.

Zaibert zufolge kann man diese Reaktionen als konstitutive grundlegende Werkzeuge ansehen, mit deren Hilfe wir unsere geistigen Ressourcen verwalten, indem wir uns die anstrengende Aufgabe ersparen, im Rahmen jeder einzelnen Handlung ohne Vorgabe neu überlegen, entscheiden und handeln zu müssen. In manchen Kontexten erscheint es somit nach Zaibert durchaus rational, die Klüfte, von denen Searle glaubt, daß sie für die Rationalität essentiell seien, zu begrenzen oder gar zu eliminieren.

Welcher Sichtweise man auch immer zuneigt: In jedem Fall hat man die freie Wahl und dadurch zumindest die Möglichkeit der Anwendung aller von Searle und Zaibert genannten Klüfte - und somit ebenso die Möglichkeit der irrationalen Entscheidung.


Quelle: Die Presse: Spectrum vom 2.9.2000 (S. VIII)