Ist Paradigmenpluralität möglich?
Kai Mommsen
Wissenschaftstheoretisch im Kuhnschen Sinne gesehen ist eine Paragdigmenwissenschaft eine solche, die auf einem Paradigma beruht und mit diesem erfolgreich Forschung betreibt. Ein Paradigma ist eine Theorie, die so gut bestätigt worden ist, daß sie grundlegend wird.
Die Physik als Vorbildwissenschaft beinhaltet mehrere Paradigmen. Die Relativitätstheorie, die den Makrokosmos beschreibt, und die Quantenmechanik, die auf den Mikrokosmos anwendbar ist. Dazu kommt noch die Elektrodynamik. Die Suche nach der Weltformel, von der man ab und zu in den Medien hört, ist nun nichts weiter als der Versuch einer globalen Theorie, die diese Theorien vereinigt.
Warum diese Überzeugung, daß es eine solche globale Theorie gibt? Die Physik hat bisher sehr erfolgreich mit ihrer Paradigmenforschung gelebt. Das Paradigma aber sind die obigen Theorien und damit ist es nicht eines, sondern mehrere. Die Chaosforschung hat dazu ein neues Paradigma hervorgebracht. Die paradigmatischen Grundpfeiler der Physik die QM und die RT werden durch diese anderen und durch sich gegenseitig nicht angetastet.
Aber an dieser Stelle bemerken wir, daß der Begriff des Paradigmas ins Unklare schwindet. Wenn wir aber nmicht genau wissen, was nun ein Paradigma ist, warum beharren wir darauf, nur eines verwenden zu wollen?
Die bestürzende Vielfalt von Theorien wird dadurch weniger bestürzend, weil alle verschiedene Ebenen des Materiellen und Organischen betrachten.
Nun ist die allgemeine Überzeugung, daß nur ein Paradigma jeweils Gültigkeit beanspruchen kann. Ansonsten ist man wiederum im Kuhn'schen Sinne im Stadium der Vorwissenschaftlichkeit. Der Glaube daran, daß nur eine Theorie die Realität richtig darstellen kann (richtig sein kann), ist sehr stark. Er ist verbunden mit dem Glauben an die "ewigen" Naturgesetze. Aber ein Gesetz wie das Fallgesetz erhält innerhalb einer anderen Theorie eine völlig neue Bedeutung. Die Wichtigkeit der Rolle der Beschreibung und der metaphysischen Elemente (der grundsätzlichen Postulate) der jeweiligen Beschreibung rückt damit in das Blickfeld. Die heutige Wissenschaft ist aber überwiegend der Auffassung, daß entweder keine metaphysischen Elemente in den Paradigmen bestehen, oder daß sie der Realität entsprechen. So gibt es dann keine Möglichkeit einer Paradigmenpluralität.
Ein Hauptgrund für den Glauben an das eine richtige Modell, die eine richtige Theorie, das eine richtige Paradigma resultiert auch aus der Tatsache, daß in der Physik keine Paradigmen nebeneinander existieren. Aber stimmt das denn? Ist die Newton'sche Physik falsch, wie man sagt? Sie wird immer noch benutzt. Nun sind ihre Grundpostulate falsch und sie wird von der RT als Spezialfall eingeschlossen.
Ein Blick auf die Geometrie gibt nun aber ein Paradebeispiel von Theorienpluralität. Hier existieren euklidische, elliptische, hyperbolische und andere absonderlich anmutende Geometrien nebeneinander. Die Geometrien ähneln verschiedenen Sprachen zur Darstellung des Raums. Das erinnert daran, daß möglicherweise auch Theorien als Sprachen aufgefaßt werden könnten. Dann würde es von der Sprache abhängen, wie die Wirklichkeit sich uns darstellt. Hier liegt aber nun wieder die Schwierigkeit, daß die Theorien auf grundlegenden Postulaten, auf einigen Grundsätzen beruhen, auf denen alle übrigen Aussagen aufgebaut werden. Diese müssen richtig sein und es können nicht mehrere widersprechende Grundsätze richtig sein, oder etwa doch?
Seit Anfang des Jahrhunderts gelten die aus Theorien abgeleiteten Naturgesetzte nicht mehr als "gottgegeben", sondern als Modelle, die mehr oder weniger ädaquat die Sachverhalte repräsentieren. Andererseits gibt es grundsätzliche Elemente, die diesen Modellcharakter auf Allgemeingültigkeit erweitern. Die Ansicht, die ich hier vertrete, ist, daß es mehrere solche Grundsätze geben könnte.
Vielleicht sollte die Naurwissenschaft einmal auf die Geisteswissenschaften blicken. Dort gibt es einen freien Streit der Theorien, viele verschiedene stehen nebeneinander, gehen von verschiedenen Voraussetzungen aus und bringen verschiedene Resultate. Niemand würde nun nach einer globalen Theorie suchen, die diese Theorien vereinigt.
Vielleicht sollte die Physik sich auch in einen freinen Streit der Theorien begeben. Nun ist das unerhört, denn es gibt ja gar keine anderen Theorien, die neben der Relativitätstheorie (RT) oder der Quantenmechanik (QM) Gültigkeit haben könnten.
Doch - wer sucht, der findet. Die Anzahl von alternativen Konstruktionen, Erweiterungen und grundlegenden Veränderungen zu RT und QM ist groß, umgekehrt proportional dazu ist aber die Resonanz und Akzeptanz dieser Entwürfe.
Die wirklich revolutionäre Idee für die Wissenschaftstheorie wäre, wenn es verschiedene Theorien für das gleiche Gebiet in den exakten Wissenschaften gäbe.
Nicht nur, daß die Physik bis dato alle Hinweise auf dynamische Ätherfelder, Orgon, Prana und die offensichtlichen Erfolge solcher Geräte wie Wünschelruten ignoriet und diffamiert, auch in der Erklärung ihrer Gebiete selbst läßt sie keine Alternativen zu. Die Fülle solcher ist erstaunlich.
Die primäre Frage ist, ob eine Theorienpluralität oder der Theorienabsolutismus die richtigen Auffassungen sind. Hier treten wir direkt in die wissenschaftstheoretische Debatte ein. Der unstrittige Befunde, daß zu Einzelbeobachten jede Menge Hypothesen passen und daß jede Theorie unwahrscheinlich und falsch ist, könnten einen Hinweis beinhalten: Viele Theorien sind möglich.
Die Hoffnung, daß man letztendlich eine Theorie, die Weltformel findet, braucht man trotzdem nicht aufzugeben. Nur ist beim Stand der Dinge noch viel zu wenig erklärt worden und viel zu viel steht außerhalb der Wissenschaft.