A. Vom Rechtfertigungsdenken zum Falsifikationismus
1. Das Rechtfertigungsdenken
Jahrhundertelang verstand man unter Wissen bewiesenes Wissen - bewiesen entweder durch die Kraft der Vernunft oder durch die Evidenz der Sinne. Die Rechtfertigungsdenker hatten drei Fraktionen:
1. Die klassischen Rationalisten; sie haben auch nichtlogische "Beweisarten" zugelassen (Offenbarung, intellektuelle Intuition, Erfahrung) in Verbindung mit der Logik. Für sie gab es synthetische Sätze a priori, die eine unumstößliche Grundlage bildeten. Wurde durch die nicht-euklidische Geometrie und die nicht-newtonsche Physik widerlegt.
2. Die klassischen Empiristen; beweiskräftig war nur die empirische Basis aus Tatsachenaussagen, deren Wahrheitswert die Erfahrung begründete. Mithilfe der induktiven Logik konnten sie auf ihnen Theorien aufbauen, die dann wahr "waren". Wurde durch die Kantianer widerlegt, die zeigten, daß Tatsachen logisch keine Sätze begründen können und daß Logik nicht Gehalt vermehren kann, also induktive Schlüsse nicht gelten.
3. Der Probabilismus; Rückzug auf die Behauptung der Wahrscheinlichkeit von Theorien, nachdem 1. und 2. mit ihren Wahrheitsansprüchen gescheitert waren. Es wurde gezeigt, daß unter allgemeinen Bedingungen und für beliebige Evidenz alle Theorien die Wahscheinlichkeit null haben.
2. Der dogmatische Falsifiktionismus
Dies ist die schwächste Variante des Rechtfertigungsdenkens, empiristisch und nicht-induktivistisch.
Da die Forderung der Beweisbarkeit keine wissenschaftlichen Theorien mehr übrig lassen würde, muß ein neues Kriterium her. Seine Theorie: Alle wissenschaftlichen Theorien sind fallibel. Es kann zwar nichts mehr bewiesen, aber mit voller logischer Sicherheit das Falsche widerlegt werden mithilfe einer absolut sicheren empirischen Basis.
Zur Widerlegung reicht eine endliche Zahl von falsifizierenden Beobachtungen. Wissenschaftliche Redlichkeit besteht in der Angabe von falsifizierenden Experimenten. Der Wachstumsprozeß der Wissenschaft ist das wiederholte Verwerfen von Theorien aufgrund harter Tatsachen.
Diese Theorie beruht jedoch auf zwei widerlegbaren Annahmen:
Abgrenzungskriterium: Eine Theorie ist wissenschaftlich, wenn sie eine empirische Basis hat, wenn sie durch empirische Tatsachen falsifizierbar ist; wenn sie bestimmte Sachverhalte verbietet.
zu 1. Es gibt keine reinen Beobachtungen, sondern immer nur solche im Lichte einer Theorie. Daher ist keine objektives Unterscheidungskriterium anggebbar.
zu 2. Tatsachen können in der Logik keine Sätze beweisen. Es kann also auch kein falsifizierender Basissatz bewiesen werden.
zum Abgrenzungskriterium: Einige bewunderte Theorien sind nicht in der Lage, beobachtbare Sachverhalte zu verbieten, oder zumindest nur singuläre Ereignisse unter der Bedingung, daß ander Faktoren keine Auswirkung haben (Ceteris-Paribus-Klausel). Das bedeutet aber, daß nicht sie selbst falsifizierbar sind, sondern höchstens die Ceteris-Paribus-Klausel. Eine endliche Anzahl von Beobachtungen reicht nicht zur Widerlegung aus. Also müßten einige berühmte und funktionierende Theorien als unwissenschaftlich und metaphysisch, da nicht widerlegbar verworfen werden.
Konsequenz: Alle Theorien sind nicht nur nicht beweisbar und unwahrscheinlich, sondern auch unwiderlegbar.
3. Der naive methodologische Falsifikationismus
Dies ist eine revolutionäre Variante des Konventionalismus. Seine konservative Ausprägung ist nicht in der Lage zu erklären, warum Theorien, die lange erfolgreich waren, aufgegeben werden.
Wie kann man nun dem drohenden Skeptizismus entkommen, der aus der Widerlegung der Annahmen des dogmatischen Falsifikationismus folgt?
Zwei Antworten:
Analog zu den zwei Annahmen der dogmatischen Falsifikationisten gibt es beim methodologischen Falsifikationismus zwei Entscheidungen zu treffen:
Entscheidung 1. Art: Welche Sätze sind Basissätze?Entscheidung 2. Art: Welch Basissätze sind akzeptiert?
Ferner werden zu überprüfende Theorien und bereits akzeptierte Beobachtungstheorien gesondert eingestuft. Im Bewußtsein, daß Beobachtung theorie"verseucht" ist, wird der Einfluß und die Notwendigkeit von Beobachtungstheorien nicht mehr in Frage gestellt.
Eine Theorie kann jetzt nicht mehr durch ein einziges negatives Experiment widerlegt werden, um Zufälle und Irrtümer (eben aufgrund einer falschen Beobachtungstheorie) auszuschalten. Das negative Experiment muß wiederholbar und intersubjektiv nachprüfbar sein. Eine andere Möglichkeit der Falsikfikation ist die "Erhärtung" einer falsifizierenden Hypothese. Die empirische Basis ist also im Vergleich zu der der dogmatischen Falsifikationisten "aufgeweicht". Als Abgrenzungskriterium ist sie jetzt weiter gefaßt und beinhaltet nicht mehr "Tatsachen", sondern akzeptierte Basissätze mit akzeptierten Beobachtungstheorien.
Falsifikation und Beseitigung sind nicht länger identisch. Eine Falsifikation zeigt jetzt nur ein "dringendes Bedürfnis, eine falsifizierte Hypothese durch eine bessere zu ersetzen". Von Wahrheit oder Widerlegung ist nicht mehr die Rede.
Durch weitere Entscheidungen können mehr Theorien die Bezeichnung wissenschaftlich=falsifizierbar erhalten:
Entscheidung 3. Art: Angabe von Beseitigungsregeln, die als Widerspruch zwischen statistisch interpretierter Evidenz und einer probabilistischen Theorie gewertet werden können.Entscheidung 4. Art: Wann ist eine spezifische Theorie widerlegt, wenn die Konjunktion einer solchen Theorie mit einer Ceteris-Paribus-Klausel falsifiziert wurde?
Entscheidung 5. Art: Welche Theorie wird als direkte Falsifikationsmöglichkeit akzeptiert für syntaktisch-metaphysische Theorien, deren logische Form keine raumzeitlich singulären Falsifikationsmöglichkeiten zuläßt?
Der Sinn all dieser Entscheidungen ist, die Falsifikations-möglichkeiten so zu modifizieren, daß einerseits genügend Theorien falsifizierbar sind und damit wissenschaftlich, und andererseits vorschnelle Falsifikationen ausgeschlossen werden. Der Preis ist das Risiko, daß sich die Entscheidungen als falsch herausstellen können. Aber Vergleich mit dem Glücksspiel: besser mit Risiko spielen als gar nicht, was die Konsequenz des irrationalen Skeptizismus wäre.
Trotz dieser Liberalisierung sieht sich dieses Konzept bei Konfrontation mit den historischen Tatsachen zwei Problemen gegenüber:
B. Vom Falsifikationismus zur Methodologie der Forschungsprogramme
4. Der raffinierte methodologische Falsifikationismus
Dieser versucht, das Problem durch Angabe neuer Vernunftgründe für die Falsifikation zu lösen und nicht wie Kuhn und Polanyi die Veränderung in sozialpsychologischen Begriffen zu erklären. er gibt andere Regeln des Akzeptierens (des Abgrenzungskriteriums) und der Falsifikation an.
Akzeptabel, d.h. ist eine Theorie nur dann, wenn i) sie einen empirischen Gehaltsüberschuß hat gegenüber ihrem Vorgänger oder Rivalen und ii) ein Teil davon verifiziert ist.
Falsifiziert wird eine Theorie T nur dann, wenn der Rivale T' folgende Merkmale aufweist: i) T' sagt neuartige Tatsachen voraus, ii) erklärt den früheren Erfolg von T, der ganz nicht-widerlegte Gehalt ist in T' enthalten und iii) ein Teil des Gehaltsüber-schusses von T' ist bewährt.
Die Betrachtung wird nun aber auf Theorienreihen anstatt auf Theorien bezogen. Gelten für die einzelnen Elemente der Reihe jeweils obige Bedingungen, ist die Reihe theoretisch progressiv, sie bildet eine theoretisch progressive Problemverschiebung. Andernfalls ist sie theoretisch degenerativ, die Problemverschiebung wird als pseudo-wissenschaftlich eingestuft. Fortschritt läßt sich hier als Grad der Progressivität definieren. Es gibt keine Falsifikation mehr vor dem Auftauchen einer besseren Theorie. Manche Falsifikation wird sogar erst aus der historischen Rückschau deutlich erkennbar.
"Der raffinierte methodologische Falsifikationismus verbindet verschiedene Traditionen. Von den Empirikern hat er die Entschlossenheit geerbt, vor allem aus der Erfahrung zu lernen. Von den Kantianern übernimmt er die aktivistische Einstellung zur Erkenntnistheorie. Von den Konventionalisten lernt er die Wichtigkeit von Entscheidungen in der Methodologie."
Der Bewährungsüberschuß einer Theorie ist die relevante Evidenz, nicht die Gemeinsamkeit mit der alten Theorie; durch ihn sind Erfahrungscharakter und theoretischer Fortschritt miteinander ver-bunden.
Ein Berufungsverfahren ist jetzt möglich, wenn es gelingt, die Problemverschiebung wieder progressiv zu machen. Man kann sich mit dem Verwerfen jetzt Zeit lassen, und es ist auch egal, ob in der Theorie syntaktisch-metaphysische Kern oder "widerlegbare" Kern sind.
Der Konflikt findet zwischen einer interpretativen Theorie, die die Tatsachen bietet, und einer explanatorischen Theorie, die sie erklärt, statt. Beide Theorien können logisch auf derselben Stufe stehen (im Gegensatz zum alten Konflikt Theorie - Hypothese/Satz). Es geht jetzt darum, die Inkonsistenz zwischen beiden Theorien auszumerzen. Aber die Entscheidung, wann eine alte Theorie zu verwerfen ist, ist nur aufgeschoben, denn: "Wir können uns nicht vom Problem der empirischen Basis befreien, wenn wir aus der Erfahrung lernen wollen."
Zwei Punkte führen nun zur nächsten Stufe:
5. Die Methodologie der Forschungsprogramme
Jedes Forschungsprogramm enthält methodologische Regeln:
Die negative Heuristik verbietet es, den Modus tollens gegen den harten Kern zu richten. Er muß auf den Schutzgürtel umgelenkt werden.
Beispiel: Newtons 3 Axiome und das Gravitationsgesetz waren der harte Kern, der verteidigt werden mußte und jahrhundertelang erfolgreich verteidigt wurde, da man die Beobachtungstheorien der Gegenbeispiele angriff.
Wir können uns rational entschließen (Weiterführung des Konventionalismus), den "Widerlegungen" solange eine Übertragung der Falschheit auf den harten Kern nicht zu gestatten, als der bewährte empirische Gehalt des Schutzgürtels von Hilshypothesen zunimmt. Das Programm als ganzes soll eine gelegentlich progressive empirische Verschiebung aufweisen. Es ist nicht nötig, daß jeder Schritt im Programm sofort eine beobachtete neue Tatsache produziert. Der Grund des Zusammenbruchs ist somit logisch und empirisch, aber nicht ästhetisch (wie bei Duhem).
Die positive Heuristik legt Strategie und Ordnung des Forschungsprogramms dar. Es geht also nicht nur um Verdauung von Gegenbeispielen, sondern um Modifizierung des Schutzgürtels gegen kommende, potentielle Widerlegungen. Die Verifikationen der vorhergesagten Gegenbeispiele der n+1. Theorie der Reihe sind in diesem Prozeß genau genommen wichtiger als die Widerlegungen.
Dieses Programm wird aber von Theoretikern entworfen, oft ohne Berücksichtigung von Tatsachen, im Vertrauen auf die fortschreitende Vergrößerung und Verbesserung des Gehalts. Die naiven Falsifikationisten konnten diese relative Autonomie der theoretischen Wissenschaft nicht rational erklären. Wenn die positive Heuristik erst einmal formuliert ist, sind die Schwierigkeiten des Programms eher mathematischer als empirischer Art.
Im Gegensatz zur Kuhnschen Krise als sozialpsychologischem Grund gibt es hier einen objektiven Grund für die Aufgabe eines Forschungsprogramms: ein anderes Programm, das den früheren Erfolg des Rivalen erklärt und diesen durch die Darlegung des heuristischen Potentials überholt.
Was ist aber das Maß für die Neuartigkeit eines Tatsachensatzes, der in dem heuristischen Programm steckt? Dies kann oft erst nach längerer Zeit gefunden werden. Entscheidende Experimente werden sogar erst nach Jahrzehnten aus der historischen Rückschau als solche erkannt.