Ist Wahrheitserkenntnis möglich? Oder sind unsere Weltbilder lediglich Erfindungen? Solche Fragen stellen (und beantworten) die Vertreter einer Erkenntnistheorie, die als Konstruktivismus Furore macht. Im DS-Interview spricht Heinz von Foerster, einer der bedeutendsten Vertreter dieser Denkschule, über die vermeintliche Realität unserer Wahrnehmungen und das konstruktivistische Lebensgefühl.
Herr Professor von Foerster, Sie haben vor Jahren einen berühmt gewordenen Vortrag über das Konstruieren einer Wirklichkeit gehalten, der zum zentralen Dokument einer ganzen Denkschule wurde - der Philosophie des Konstruktivismus. Zuerst: Wieso sprachen Sie damals vom "Konstruieren" und "Erfinden" von Wirklichkeit?
Heinz von Foerster: Die übliche Annahme ist, daß unsere Sinne uns sagen, was draußen in der Welt vor sich geht. Man sagt, sie würden die Welt abbilden, uns über ihre Gestalt und Natur informieren. Ich habe versucht, meine Leser daran zu erinnern, daß schon vor über 150 Jahren der große Physiologe Johannes Müller das Prinzip der "spezifischen Nervenenergie" ausgesprochen hat. Es besagt, daß die Nerven der verschiedenen Sinne, wie Sehen, Hören, Tasten immer nur die ihnen entsprechenden Empfindungen - Licht, Schall und Druck - hervorbringen, und zwar unabhängig von der physikalischen Natur des Reizes, der diese Empfindung verursacht.
Unsere Sinne liefern uns also keine naturgetreuen Abbilder der Wirklichkeit?
Von Foerster: Genau. Es ist geradezu grotesk von einer Abbildung der Außenwelt in der Innenwelt zu sprechen. Was unsere Sinne erregt, können wir nie wissen; wir wissen nur, was uns unsere Sinne aus diesen Erregungen vorzaubern.
Sie haben in Ihren Büchern ja noch zahlreiche weitere Experimente aus der Neurophysiologie vorgestellt, die Ihre Annahme stützen, daß wir uns unsere Vorstellung von der Welt lediglich konstruieren. Was ist der Mensch in einer solchen Betrachtung? Nur ein Zell- und Nervenhaufen?
Von Foerster: Haben Sie einen besseren Vorschlag? Man sagt immer: Sind das nur Zellen? Besteht die Welt nur aus Molekülen? Besteht der Heinz von Foerster zu 80 Prozent aus Wasser? Nur Wasser?
Aber das Problem ist doch, daß es dann so scheint, als seien Menschen völlig durch ihre Zellen, Synapsen und neurophysiologischen Verdrahtungen determiniert. Das ist doch der Einwand.
Von Foerster: Für mich ist das gedankliche System, das einen solchen Einwand hervorbringt, das eigentliche Problem. Ich beteilige mich nicht an einer Diskussion, in der man immer sagt: Das sind ja nur Atome! Das sind ja nur neurophysiologische Verdrahtungen! So ein Einwand hat mit meinem Denken nichts zu tun.
Wie würden Sie den Erkenntnisvorgang beschreiben?
Von Foerster: Ich würde sagen: Es ist doch ein unglaubliches Wunder, das hier stattfindet. Alles lebt, es spielt Musik, es gibt Farben, Gerüche, Klänge und eine Vielzahl von Empfindungen. Aber all dies sind konstruierte Relationen; sie kommen nicht von außen, sie entstehen im Innern. Das ist doch etwas Unglaubliches.
Was folgt aus der Erkenntnis, daß sich jeder seine eigene Wirklichkeit konstruiert?
Von Foerster: Wenn man nur für einen Moment sagt: Das bist du, der diese Sicht der Welt produziert, das ist nicht draußen, das ist nicht irgendeine sogenannte objektive Wirklichkeit, auf die man sich beziehen kann, dann entsteht eine merkwürdige Hervorhebung der Persönlichkeit, die etwas sagt. Aus den allgemeinen Urteilen "Es ist so!" werden Sätze, die mit "Ich finde, daß ..." beginnen. Es entsteht eine vollkommen andere Relation zu den eigenen Aussagen.
Man wird bescheidener, weil man sich nicht mehr auf absolut Gültiges berufen kann?
Von Foerster: Man wird bescheidener und verantwortlich für die eigenen Erkenntnisse. Man kann nicht mehr vom Zwang der Umwelt sprechen, man kann nicht mehr sagen: Ich hatte keine Wahl, denn natürlich gibt es immer viele Möglichkeiten. Man kann nicht mehr andere verantwortlich machen für das, was man sieht, denn man ist ja selbst derjenige, der diese Sicht konstruiert. Die Menschen erhalten ihre Verantwortung in größtmöglichem Maße wieder zurück, können sie nicht mehr an irgendeine übergeordnete Instanz, einen Boß oder irgendwelche äußeren Umstände abschieben. Sie werden Beteiligte. Das haben viele nicht gern.
Aber könnte man nicht auch sagen: Alles nur Konstruktion, alles egal! Die Konsequenzen aus der konstruktivistischen Weltsicht ließen sich auch als die Rechtfertigung für Gleichgültigkeit und Ignoranz interpretieren. Nichts ist mehr wirklich wichtig.
Von Foerster: Natürlich. Auch das schöne Goethesche Gedicht "Über allen Wipfeln ist Ruh'" läßt sich auf hunderttausend Arten interpretieren. Man kann auch den Satz von Jesus "Wenn dir jemand auf die eine Backe schlägt, so halte ihm auch die andere hin" als Aufforderung verstehen, die Leute auf die Backen zu schlagen. Denn, so könnte man ja sagen, nachdem man für eine gewisse Zeit immer auch die andere Backe hingehalten hat, sind die Leute encouragiert worden, auf Backen zu schlagen; sie müßten dann keine Angst vor Strafe haben! Was ich damit sagen will: Alles ist auf sehr vielfältige Weise verstehbar. Das ist das sogenannte hermeneutische Grundprinzip oder, wenn man so will, die Hermeneutik des Hörers: Der Hörer und nicht der Sprecher ist es, der die Bedeutung einer Aussage bestimmt.
Aber diese Interpretation kann Ihnen doch nicht sympathisch sein: der Konstruktivismus als philosophische Begleitmusik, um gleichgültig dahinzuleben?
Von Foerster: Nein. Diese Sicht ist mir absolut nicht sympathisch. Ich möchte allerdings die umgekehrte Interpretation empfehlen. Meine Auffassung ist: Sobald man diese Referenzen nach außen macht und vom Übel der Welt spricht, so ist das Leid weg, nach draußen geschoben. Der Realist schiebt es weg, der Konstruktivist ist in ganz anderer Weise involviert. Er sagt: "Ich sehe es so, daß es all diese Übel in der Welt gibt." Ein solcher Satz macht einen plötzlich zum Mitleidenden, es entsteht Beteiligung und gerade nicht, wie Sie befürchtet haben, Gleichgültigkeit.
Können wir diese Idee extremer Selbstverantwortung an einem Beispiel diskutieren? Angenommen: Ein Mensch verliert seine Arbeit, kann sich seine Wohnung nicht mehr leisten. Ist der nun für seine Konstruktion verantwortlich? Verdankt er sein Unglück und seine Depressionen gewissermaßen sich selbst?
Von Foerster: Er macht jedenfalls - das ist möglich - die Gesellschaft für sein Unglück verantwortlich. Er sagt dann sehr wahrscheinlich: Daß die Gesellschaft so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist, bringt mich hierher unter die Brücke. Das Merkwürdige ist, daß es ja keine Gesellschaft gibt, daß auch dies wieder eine bestimmte Relationsstruktur ist, ein Rahmen, in dem man denken kann, aber nicht muß.
Der arme Mensch bildet sich das nur ein, daß ihn die Betriebsauflösung und die schlechte wirtschaftliche Lage zur Verzweiflung bringen?
Von Foerster: Jedenfalls ist es seine Sicht, daß ihn die Gesellschaft verraten hat. Und es ist doch nur natürlich, daß er innerlich ein Koordinatensystem aufgebaut hat, das es ihm erlaubt, den Vorgängen um ihn herum Bedeutung zuzusprechen. Wenn ich sage: "Ich verstehe seine Sicht", so ist das etwas anderes als die Behauptung: "Ja, so ist es!" Und eine weitere Perspektive der Betrachtung liegt in der Frage: "Wie kann diesem Menschen geholfen werden?"
Was würde der Konstruktivist diesem Arbeitslosen sagen?
Von Foerster: Angenommen, ich würde ihn treffen, so würde er vielleicht zuerst das System mit fuck" und "shit" verfluchen. Dann würde ich versuchen, im Innern dieses Menschen, der zurückgeschlagen und verzweifelt ist, eine andere Relationsstruktur aufzubauen, ihn nach seinen Wünschen fragen, versuchen, ihn auf eine andere Sicht hinzuweisen, die einen neuen Optimismus ermöglicht.
Aber man kann doch auch gesellschaftlich ansetzen, um zu helfen, kann über Investitionsanreize nachdenken, die seinen Betrieb retten oder über eine andere Organisation des Wohnungsmarktes, so daß man ihn nicht einfach auf die Straße setzen kann. Allerdings muß dann vorausgesetzt werden, daß Gesellschaft überhaupt existiert. Sie ist dann die Bezugsbasis für politisches Handeln.
Von Foerster: Korrekt. Aber diese Bezugsbasis, die man Gesellschaft nennt, existiert nur, weil dies so gesehen wird. Alle diese Relationen, die Sie gerade in einem wunderbaren Register aufgezählt haben, sind nicht wirklich im Sinne von: "Es gibt sie." Es sind persönliche Konstruktionen im Sinne von: "Ich sehe das so!"
Worauf wollen Sie hinaus?
Von Foerster: Warum ich das so betone? Der ganze Witz dieser Ideen ist doch, auf etwas aufmerksam zu machen, das nicht bemerkt wird. Der Witz ist doch: Wir sehen ja gar nicht, daß wir nicht sehen, wir glauben, alles ist da, ist wirklich und in dieser Weise vorhanden. Die Erkenntnis dagegen, daß wir uns Wirklichkeit konstruieren und daß jede dieser Konstruktionen, jede Theorie andere, auch mögliche Ansichtsweisen verdrängt, diese Erkenntnis halte ich für ungeheuer wichtig.
Das bedeutet, der Konstruktivismus - verstanden als eine Haltung - ist auch eine Art Medizin gegen den Dogmatismus, gegen ein eindimensionales Denken?
Von Foerster: Ja, wunderbar! Das gefällt mir! Man könnte auch sagen, daß hier eine Art Tanz mit der Welt versucht wird, der einen zu immer neuen Betrachtungsweisen bringt. Die Beschränkungen und Verflachungen, die diese schreckliche Idee der Ontologie - die Lehre vom wirklich Vorhandenen - mit sich bringt, werden aufgehoben. Es ergeben sich diese und jene Schritte, dann dreht man sich, und plötzlich sieht man etwas Neues, gänzlich Unerwartetes.
Wer die Bücher mancher Konstruktivisten liest, bekommt den Eindruck, es hier mit einer neuen Heilslehre zu tun zu haben - und nicht mit einer Erkenntnistheorie. So verspricht der Psychologe Lynn Segal eine "Revolution unseres Denkens"; die Einsichten des Konstruktivismus könnten helfen "Faschismus, Völkermord, Diktaturen" zu überwinden. Das ist ja eine ganze Menge.
Von Foerster: Dieser Frage, ob der Konstruktivismus nun als Heilslehre oder Erkenntnistheorie kategorisiert gehört, möchte ich mich entziehen. Nicht, weil keine Antwort möglich wäre, sondern weil man, indem man diese Ideen in eine solche Taxonomie hineinschiebt, alles zerstört. Man fängt an zu etikettieren und sagt: Aha, Sie sind ein Religionsstifter! Aha, Sie sind ein Revolutionär. Der Effekt ist, daß kein Mensch mehr zuhört.
Ein solches Etikett gibt dem Nachdenken eine zu starke Richtung?
Von Foerster: Mehr noch, es bringt die ganze Idee sofort um. Ob das jetzt Konstruktivismus heißt oder Schnapsodivismus oder Klapsodivismus, in welche Kategorie das hineingepreßt wird - immer wird es darauf hinauslaufen, daß man die Sache mit einem vorschnellen Etikett erledigt.
Der Biologe Umberto Maturana, berichtet, er habe eine Zeitlang Angst gehabt, verrückt zu werden, als er begann, Wirklichkeit als bloße Konstruktion zu begreifen. Ist Ihnen diese Angst vertraut?
Von Foerster: Aber überhaupt nicht. Eher habe ich mich befreit gefühlt, als ich begann, so zu denken. Und irgendwann habe ich es eben aufgeschrieben. Übrigens, das erste Mal hielt ich auf einer Konferenz von Ökologen einen Vortrag zu diesem Thema: über die Umwelt als unsere Erzeugung und Erfindung.
Die Erkenntnis, daß unsere Wirklichkeitsvorstellungen Erfindungen sind, markiert eine Art Endpunkt des Denkens. Was soll man dann noch schreiben? Was noch sagen?
Von Foerster: Mich würde es unheimlich freuen, wenn ich noch ein Buch über das Unwissen zustande bekäme.
Über das Unwissen, das wir alle teilen?
Von Foerster: Ja, darüber würde ich noch gerne schreiben.
Quellen: http://www.sonntagsblatt.de/1996/30/ku-30.htm
(98-04-15);
http://www.radiobremen.de/rbtext/rb2/_wissen/_bild/sapiente/vonfoers.gif
(98-07-15)