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Neben Leonard Nelson haben sich auch andere mit als sokratisch
bezeichneten Methoden eingehender beschäftigt.
Hugo Gaudig (1860 - 1923) entwickelte ein System, in dem die Schülerfrage im Mittelpunkt des Unterrichts steht.
Berthold Otto (1859 - 1933) entwickelte eine Art des Gelegenheitsunterrichts, indem er durch die Schaffung einer natürlichen, entspannten Atmosphäre Schülern die Gelegenheit gibt, selbst Fragen zu stellen und Themen anzusprechen, die sie interessieren.
Jedoch thematisieren Gaudig wie Otto nicht das Problem des Maieutischen. Ihre Methoden können allenfalls hinsichtlich einzelner Aspekte mit dem neosokratischen Typ verglichen werden.
Friedrich Copei (1902 - 1945) entwickelte eine Methode, die die Aufmerksamkeit des Lehrers ganz speziell auf die geistigen Prozesse des Schülers richtet. Der Unterricht soll auf spannende Fragestellungen aufbauen, so daß sich für die Schüler ein "fruchtbarer Moment" ergibt. Dabei spielt die Geistesgegenwart des Lehrers die entscheidende Rolle. Denn er muß die Gelegenheit nutzen, indem er diesen "fruchtbaren Moment" bei den Schülern, der sich mehr oder weniger aus einer "glücklichen Unterrichtssituation" ergibt, in seinen Unterricht einbauen und damit gegebenenfalls vom ursprünglich geplanten Ablauf abläßt.
Martin Wagenschein (1896 - 1988) entwarf das Konzept des genetischen Lehrens, in dem die Bemühungen des Lehrers darauf ausgerichtet sind, die Schüler zu immer genaueren Beobachtungen zu unterstützen. Dazu braucht Wagenschein jedoch stärkere Steuerungsinstrumente als Nelson. Eines dieser Instrumente sind die heuristischen Regeln, ein anderes die gelegentliche Bewertung der Schülereinfälle. Das neosokratische Verfahren sieht solche Steuerungsmittel nicht vor. Es ist grundsätzlich offener.
Beim Vergleich mit anderen als sokratisch bezeichneten Methoden und dem fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch hat sich die neosokratische Methode als diejenige gezeigt, die dem maieutischen Anspruch gerecht wird. Darüber hinaus verspricht sie, einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Unterrichtsmethodik zu leisten.
Viele Beispiele von Wagenschein aus dem Physikunterricht, die zu seinem Konzept des genetischen Lehrens führten, zeigen gleichzeitig Grenzen für die neosokratische Methode auf: Der Lehrer muß eingreifen, wenn es darum geht, Daten zu gewinnen, die den Schülern eben nicht aus bisheriger Erfahrung verfügbar oder durch Denken erschließbar sind und erst durch Versuche und geschickte Beobachtungen gewonnen werden können.
Damit ist die neosokratische Methode von vornherein auf mathematische und philosophische Themen, bei denen erwartet werden kann, daß die Schüler aus eigenem Denken heraus die Fragen beantworten können, beschränkt. Bei den mathematischen Themen hat sich gezeigt, daß sich elementargeometrische Themen besonders gut für das neosokratische Gespräch eignen.
Neben dieser Einschränkung der Verwendbarkeit ergeben sich bei der neosokratischen Methode außerdem drei Anwendungsproblempunkte.
Beim ersten Problempunkt handelt es sich um den zeitlichen Aufwand eines Unterrichtsthemas. Der Zeitraum, der nötig ist, um dieses Thema in einem Denkprozeß zu durchlaufen, kann beträchtlich sein, denn es müssen weitreichende Überlegungen angestellt werden. Dazu kommen noch Rückbesinnungen, Irrwege und Wegentscheidungen hinzu. Darüber hinaus ist ein großer Zeitaufwand vonnöten, wenn in einer Klasse die neosokratische Methode zu ihrer ersten Anwendung kommt und sich die Schüler mit der Art und Weise der Fragestellungen vertraut machen müssen. Für einen Einstieg in die neosokratische Methode bedarf es beim Lehrenden allerdings auch einer grundsätzlichen Bereitschaft, sich Zeit zu nehmen und den Schülern zur Verfügung zu stellen, auch über zähe Phasen hinweg. Bei einer zeitlichen Bilanzierung darf aber auch nicht außer acht gelassen werden, daß beim neosokratischen Gespräch mehr Lernziele erreicht werden als vergleichsweise im fragend-entwickelnden Unterricht.
Beim zweiten Problempunkt handelt es sich um die Lehrplankonformität. Beim neosokratischen Gespräch kann es sich nämlich immer wieder ergeben, daß sich das zu behandelnde Thema aufgrund seiner Eigendynamik auf Fragen konzentriert, die im Lehrplan eines entsprechenden Jahrgangs nicht vorgesehen sind. Mit der Methode des neosokratischen Gesprächs wäre es auf keinen Fall vereinbar, das Gespräch dann an einer Stelle mit dem Hinweis auf den Lehrplan abzubrechen; dies wäre pädagogisch falsch.
Sind die Schüler in der Lage, ein nicht im Lehrplan vorgesehenes Problem zu lösen, kann dies bedeuten, daß die Klasse besonders gut ist, die Schüler der Klasse Fragen für interessant halten, die nicht im Lehrplan vorgesehen sind, oder daß schlicht und einfach der Lehrplan nicht angemessen ist.
Beim dritten Problempunkt handelt es sich um die Lehrerausbildung. Die erste Voraussetzung für den Lehrer, der die neosokratische Methode anwenden will, ist fachliche Kompetenz. Er muß sich auf dem jeweiligen Gebiet gut auskennen. Beim eigenen Lernen oder bei der Vorbereitung sollte er vor allem Erfahrungen in der Heuristik seines Faches gewonnen haben.
Darüber hinaus sollte er sich selbst durch die Teilnahme an neosokratischen Gesprächen mit der Methode vertraut machen und auch bei Lehrern, die bereits Erfahrungen mit der neosokratischen Methode gemacht haben, hospitieren.
Die Probleme bei der Anwendung der neosokratischen Methode sind nicht zu unterschätzen. Vor allem müssen sich interessierte Lehrer mit der Methode genügend vertraut machen bzw. damit vertraut gemacht werden.