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Seminar: Probleme des Unterrichts an Wirtschaftsschulen (Unterricht II) im SS 1996


Bernd Gerling, Anne Hoefermann, Oliver Schöming, Armin Schünemann:

Das Unterrichtsgespräch: fragend-entwickelnd oder neosokratisch?


5. Ein kulturhistorischer Aspekt:

Das neosokratische Gespräch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit


Sokrates lehnte den Schriftgebrauch ab. Deutlich wird dies daran, daß er selbst, soweit wir wissen, keine schriftlichen Werke verfaßt hat. Er sieht in der Schrift bloß etwas Äußerliches, daß nur das Gedächtnis schwächt und damit das Denken. Er kritisiert die schriftlichen Werke, indem er darauf hinweist, daß ein Buch keinen speziellen Adressaten besitzt und sich demnach auch nicht vor Mißverständnissen schützen kann. Der Leser glaubt zu verstehen, was er gelesen hat. Aber sein Wissen ist bloßes Scheinwissen. Und derjenige, der weitere Fragen hat, sieht sich immer nur denselben Sätzen gegenüber. So kommt Sokrates zu dem Schluß, daß die Schrift zur Belehrung nicht taugt und als Träger von Wissen ungeeignet ist. Er hingegen bevorzugt das gesprochene Wort als Mittel der Belehrung.

Wie kommt es nun, daß Sokrates selbst die Schrift ablehnte, sein Schüler Platon hingegen, der u. a. die Dialoge des Sokrates schriftlich fixierte und sie uns damit übermittelte, die Schriftform bevorzugte?

Nach Eric A. Havelock stehen Sokrates und Platon an einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte, an dem die kulturelle Entwicklung entscheidend durch das Vordringen der alphabetisierten Schrift (Literalität) bestimmt wurde.

Im Zeitabschnitt der oralen Wissensvermittlung, dem auch Sokrates zuzuordnen ist, war eine Schriftform, wie wir sie kennen, z. T. noch nicht "erfunden" bzw. noch größtenteils unbekannt. Es existierte nur eine reduzierte Silbenschrift, bei der nur Konsonanten aufgeschrieben wurden. Damit gab es eine Vielzahl von Bedeutungsmöglichkeiten. Z. B. die Buchstabenfolge "br" hätte "aber", "über", "obere", "Eber", "Bar", "Bär", "Bier" oder "Bor" bedeuten können. Da es keine adäquate Schriftform gab, mußten Sänger, wie die Rhapsoden, die Texte auswendig lernen. Sie bedienten sich dabei rhythmisch oraler Muster, die sich gut einprägen ließen. Darüber hinaus bildete die mündlich gestaltete Dichtung, wie die Ilias oder die Odyssee, keine Literatur in unserem Sinne. In diese Dichtungen war das Wissen der Zeit eingeflochten, welches über die Handlungen der Helden weitergegeben wurde. Havelock bezeichnet die Epen sogar als Enzyklopädie der Zeit.

Dann, zur Zeit Sokrates und Platons, hielt eine Schriftform, durch die Verbreitung des Alphabets, ihren Einzug in das kulturelle Leben. Ein neues Denken entwickelte sich. Es löste sich vom Epos, vom Denken in Ereignissen, in Handlungszusammenhängen. Diese Schriftform schuf eine Möglichkeit, den Gedanken als Gegenstand des Denkens zu sehen. Das neue Denken wendet sich Abstrakta zu; es ist, verkürzt gesagt, begriffliches Denken. Die Philosophie wird geboren, mit ihr die Logik. Die Gesellschaft wird literalisiert. Es entsteht literales Denken. Und dabei wird die Schule instutionalisiert.

Obwohl Sokrates die Schriftform ablehnte, gibt es genügend Quellen, die bekunden, daß Sokrates ein eifriger Leser war. Dies zeigt nochmals besonders deutlich, an welchem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte er gestanden haben muß. Obwohl er auf das lebendige Mündliche, Dialogische, setzt, ist sein Denken schon literal geprägt. Selbst in seinen vier Argumenten gegen den Schriftgebrauch läßt sich aus den Argumenten selbst eine literale Prägung herauslesen. Sokrates Kritik macht sich daher am Gegenbild desjenigen fest, der auf Bücher angewiesen ist, um sich Wissen zu beschaffen, anstatt aus sich heraus selbständig zu denken. Sokrates wendet sich gegen Erscheinungen, die er aus dem Athen seiner Zeit kennt, und die noch in unserer heutigen Kultur zu beobachten sind. Seine Argumente sind demnach noch immer aktuell.

Der bloße Gebrauch von Schriftzeichen kann jedoch nicht als hinreichende Erklärungsgrundlage für die Entwicklung des logischen Denkens dienen.

Der sowjetische Psychologe A. R. Lurija (1902 - 1977) stellte 1931/32 bei Untersuchungen von Bauern in Usbekistan und Kirgisien fest, daß Bauern, die keine Alphabetisierungskurse besucht hatten, nur in konkreten funktionellen Zusammenhängen denken konnten. Ihnen fiel es sehr schwer, Fragen frei zu formulieren, und sie konnten die psychischen Besonderheiten des eigenen Ichs nicht einschätzen. Da diese zwei Punkte nicht speziell von einer Schriftformbeherrschung abhängen, geht Lurija davon aus, daß die gravierenden Unterschiede bei den Bauern auf ein ganzes Bündel von gesellschaftlichen Veränderungen zurückzuführen sind, auch wenn er die Alphabetisierung dabei besonders hervorhebt.

In den 70er Jahren führten Sylvia Scribner und Michael Cole Untersuchungen bei dem schriftkundigen Volk der Vais im afrikanischen Liberia durch. Da die Vais über eine Schriftform verfügten, aber nicht in der Lage waren, bestimmte Tests zu bearbeiten, sahen sich Scribner/Cole dazu veranlaßt, in der Schulbildung den entscheidenden Faktor bei der Entwicklung des logischen Denkens zu sehen.

Doch wie verbindet nun die neosokratische Methode die Oralität mit der Literalität?

Bei der Durchführung des neosokratischen Gesprächs werden die besonderen Vorteile schriftlicher Fixierung einzelner Gedanken und Gedankengänge genutzt. Fragen und Aussagen, im Gesprächsverlauf von Teilnehmern geäußert, werden an die Tafel bzw. auf Papierbögen geschrieben, um sie vor Augen zu haben und sich immer wieder auf sie beziehen zu können. Darin liegt gerade die Stärke der Schrift: Sie schafft eine, auch die Gesprächsführung erleichternde Bezugsmöglichkeit, auf die beliebig zurückgegriffen werden kann. Es ist keine Zielsetzung des neosokratischen Gesprächs, einen Text zu erstellen. Texte haben Hilfsfunktion. Das gilt auch für Protokolle, die eventuell von Teilnehmern nach der Sitzung verfaßt werden. Im nachhinein können sie nur Erinnerungsfunktion für die Teilnehmer haben. Zu konstatieren ist jedoch, daß das neosokratische Gespräch als Gespräch in der Mündlichkeit gründet, jedoch literal geprägt ist.