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Seminar: Probleme des Unterrichts an Wirtschaftsschulen (Unterricht II) im SS 1996


Bernd Gerling, Anne Hoefermann, Oliver Schöming, Armin Schünemann:

Das Unterrichtsgespräch: fragend-entwickelnd oder neosokratisch?


3. Erörterung der sokratischen und neosokratischen Methode der Gesprächsführung

3.1 Leonard Nelson - Biographie und Werk

Leonard Nelson wurde 1882 als Sohn liberal eingestellter Eltern geboren. Schon früh lernte er freiheitliche Erziehung in sogenannten Landerziehungsheimen kennen, an der er später seine pädagogischen Bestrebungen und Bemühungen orientierte. Später wird er selbst ein solches Landerziehungsheim in der Nähe von Kassel einrichten.

Seit 1903 lebte Nelson in Göttingen, wo er Philosophie und Mathematik studierte und inzwischen promovierte, an der Universität als Privatdozent lehrte und sich 1909 habilitierte.

Intensiv beschäftigte sich Nelson auch mit der Politik, wo er sich zuerst dem Liberalismus, später aber verstärkt einem eigenständigen Sozialismus nicht-marxistischer Prägung zuwandte. Im Rahmen seiner politisch-pädagogischen Arbeit gründete er 1917 den Internationalen Jugend-Bund (IJB) und im Jahre 1926 den Internationalen Sozialistischen Kampf-Bund (ISKB). Wichtig anzumerken bleibt hier noch, daß er sogenannte "Lerngemeinschaften" in dem von ihm gegründeten Landerziehungsheim bildete.

Nelson verstarb im Jahre 1927 an einer Lungenentzündung.

Für die philosophische und mathematische Bildung entwickelte Nelson die sokratische Methode der Gesprächsführung fort - im weiteren als neosokratische Methode bezeichnet. Dabei machte er deutlich, daß es ihm nicht um Belehrung, um die Mitteilung von Wissen, sondern um das gedankliche Bewältigen eines Sachverhaltes ging.

Bedeutsam ist unter anderem Nelsons Rede über die sokratische Methode, die er 1922 in der Pädagogischen Gesellschaft in Göttingen hielt. Hier zeigt er auf, daß inhaltliche Beiträge seitens des Lehrers strikt auszuschließen sind und "... die Teilnehmer die Schwierigkeiten des Denkens im Vollzug selbst erleben und lernen, sie zu überwinden." Die maieutische Funktion des Lehrers besteht nun darin, sich zwar jeglichen belehrenden Urteils zu enthalten, aber durch gesprächssteuernde Maßnahmen die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf bestimmte Punkte zu lenken und gegebenenfalls Störungen entgegenzuwirken.

Die Neuartigkeit Nelsons neosokratischer Methode besteht nun hauptsächlich in den zwei folgenden verschiedenen Gebrauchsweisen der bisherigen sokratischen Gesprächsmethode, die der Lehrer beide zu verknüpfen hat:

Der Anspruch der neosokratischen Methode wird durch den nun folgenden Vergleich mit der sokratischen Methode bei Sokrates noch deutlicher hervortreten.

  

3.2 Vergleich der sokratischen Methode bei Sokrates und Nelson

Bei dem sokratischen Gespräch handelt es sich um einen Dialog zwischen genau zwei Personen - zwischen Sokrates und einem Gesprächspartner. Sokrates Fragen und denen in ihnen enthaltenen wichtigen Argumenten sind für den Fortgang des Gespräches von großer Bedeutung. Kritiker aber betonen gerade, daß Sokrates dadurch die entscheidenden Gedanken selbst in das Gespräch hineinbringt, was somit im Widerspruch zu dem maieutischen Anspruch stehen würde. Das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, das der sokratischen Methode von vielen Autoren gleichgestellt wird, ist sogar nur noch in eine zusammenhanglose Frage-Antwort-Folge gestückelt, die es dem Schüler nicht erlaubt, einen geschlossenen Gedankengang zu entwickeln.

Als Hauptinstrumente setzt Sokrates die Entscheidungs- (Ja/Nein-Frage) und die Ergänzungsfrage, bei der der Gesprächspartner Inhaltliches zur Sache selbst einbringen muß, in seinen Dialogen ein. Für Sokrates schließen "Belehrung" und "Fragen" einander aus, wobei er die Frage zum wesentlichen Werkzeug der Maieutik erklärt. Seine Entscheidungs- und Ergänzungsfragen sind aber zumeist nicht-inhaltlicher Natur; sie dienen dazu, auf den Gesprächsprozeß einzuwirken und werden auch als gesprächssteuernde Fragen bezeichnet.

Nelsons Position unterscheidet sich nun im allgemeinen dadurch von Sokrates, das er keinesfalls inhaltliche Fragen stellte. Neben dem Haupteinsatz der Steuerungsfragen bei Nelson findet das neosokratische Gespräch auch zwischen prinzipiell gleichberechtigten Partnern statt, so daß sich der Maieut ganz auf seine gesprächssteuernde Rolle konzentrieren kann. Ein weiterer Unterschied zwischen Sokrates und Nelson besteht in der Tatsache, daß Sokrates zwar von jedem Gesprächspartner Zustimmung bzw. Ablehnung fordert, diese Haltung aber im neosokratischen Gespräch zusätzlich noch begründet werden muß. Das Verständnis der Gesprächsteilnehmer untereinander ist nämlich eine unumgängliche Voraussetzung für den Fortgang des Dialoges.

Abschließend sollten noch einmal die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Methoden aufgezeigt werden:

Sokrates verlangt von seinem Gesprächspartner nur dessen Zustimmung zu seinen Äußerungen, wohingegen die Gesprächsteilnehmer bei Nelson selbst die Gedanken und Einfälle vorzubringen haben. Der Leiter ist dabei von der Sache selbst entbunden und hat nunmehr die Hauptaufgabe der Gesprächssteuerung.