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Seminar: Probleme des Unterrichts an Wirtschaftsschulen (Unterricht II) im SS 1996


Bernd Gerling, Anne Hoefermann, Oliver Schöming, Armin Schünemann:

Das Unterrichtsgespräch: fragend-entwickelnd oder neosokratisch?


2. Das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch

2.1 Vorstellung des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs

Aufgrund der Lehrerzentriertheit der Unterrichtsplanung und Unterrichtsdurchführung sind die häufig eingesetzten methodischen Grundformen der Frontalunterricht, der Lehrervortrag und das vielfach praktizierte fragend-entwickelnde Unterichtsgespräch (vgl. Jank/Meyer S. 339), das von vielen Autoren dem sokratischen Gespräch gleichgesetzt wird.

Im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch ist der Lehrer darum bemüht, daß die Ideen, Einfälle und Überlegungen zum Thema nach Möglichkeit von den Schülern kommen. Dies drückt den maieutischen Anspruch dieser Unterrichtsmethode aus. Unter Maieutik ist dabei eine näher zu bestimmende Tätigkeit eines Lehrers zu verstehen, die den Lernenden dabei unterstützt, selbst, aus eigenem Denken, zu bestimmten Erkenntnissen zu gelangen. Aber dieser Anspruch kann durch die Praxis selbst nicht gedeckt werden, was dazu führt, daß der Lehrer im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch in praktisch unlösbare Schwierigkeiten gerät. Rainer Loska spricht deshalb im Zusammenhang mit der Unterrichtsmethode von "Pseudomaieutik". Um dies zu verdeutlichen, analysiert Loska beispielhaft eine Unterrichtsstunde, in welcher der Lehrer fragend-entwickelnd das Unterrichtsziel erreichen möchte.

  

2.2 Analyse und Kritik des fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräches

Bei einem Unterrichtsgespräch soll den Schülerbeiträgen ein eigener Raum gegeben werden, andererseits möchte aber der Lehrer den Gesprächsverlauf in die Richtung seiner Planung lenken. Diese Planung des Ablaufs einerseits und die maieutische Intention andererseits führen aber zu einem Widerspruch. Aufgrund der Planfixiertheit des Lehrers bemerkt er nicht, wieviel gedankliche Leistung, welche wesentlichen Bestandteile der Lösung in den Schülerbeiträgen stecken. So ist es ihm meist auch gar nicht möglich, auf die Beiträge der Schüler, vor allem auf bruchstückhafte und divergierende näher einzugehen, um den zeitlichen Rahmen nicht zu gefährden.

Eine weitere Verletzung der maieutischen Intention liegt in den Hilfestellungen des Lehrers. Wenn das von den Schülern Gesagte über einen vermeintlich langen Zeitraum nicht der Antworterwartung des Lehrers entspricht, wird dieser mit meist inhaltlichen Fragen eingreifen, um nicht von seinem mehr oder weniger linearen Unterrichtskonzept abzuweichen. Gerade dies trägt aber zur Verwirrung der Schüler bei und führt zu einer dauernden Unterbrechung der sich in ihnen entwickelnden Gedankengänge; genauso wie die Überlagerung verschiedener Zielstellungen bzw. Fragen, wenn diese nicht zu einem erkenntlichen Abschluß gebracht werden.

Bei einer solchen Vorgehensweise des Lehrers wird außerdem die Urteilsbildung bei den Schülern nicht unterstützt. Die "Leitlinie ist dann nicht die eigene Meinung, sondern die vermutete Lehrermeinung, losgelöst davon, ob man ihr zustimmt oder nicht. Die Fragen "Was fällt euch auf?" bedeutet "Was glaubt ihr, was euch auffallen soll?"

Nicht selten kommt es beim fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch zu Verstehensproblemen der Schüler durch die ständige Unterbrechung ihrer Gedankengänge. Der Lehrer versucht, immer trivialere Fragen zu stellen - er katechisiert - um die Schüler in seine geplante Richtung zu führen. Dabei können aber die Schüler den Sinn dieser Fragen und Antworten meist nicht mehr erkennen und verlieren somit den Zusammenhang zum eigentlichen Ausgangsproblem. Die Folge davon ist also, daß die Schüler nicht aufgefordert werden, komplexe Gedankengänge zu vollziehen, diese der gesamten Klasse darzulegen und zu diskutieren. Auch die Bewertung einer Antwort wird der Lehrer in Bruchteilen von Sekunden - ohne den Gedankengang wahrscheinlich selbst richtig verstanden zu haben - als Repräsentant des fertigen Wissens vornehmen.

Trotz all dieser Nachteile kommt es offenbar doch zu Lerneffekten bei der weit verbreiteten Anwendung dieser Unterrichtsmethode, deren Ursachen nicht zuletzt darin liegen, daß sich Schüler in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit selbständig mit dem Problem auseinandersetzen bzw. es für die Anwendung des Gelernten später wenig oder gar nicht auf die Herleitung ankommt.

Natürlich ist es dem Lehrer darüber hinaus auch möglich, seine Fragetechnik zu verbessern, um die Schüler mehr zum Nachdenken anzuregen. Sogenannte "adjunct questions" (eingeschobene Fragen), die zum Beispiel während eines Lehrervortrages gestellt werden, führen i. d. R. - falls sie gut formuliert sind - dazu, daß der Schüler den Stoff während der in dieser Situation recht langen Bearbeitungszeit selbst noch einmal strukturieren und erschließen muß (vgl. Frey/Frey-Eiling S. 2).

Zusammenfassend sei aber noch darauf hingewiesen, daß das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch den maieutischen Anspruch nicht nur faktisch nicht erfüllen, sondern aufgrund seiner Struktur keinesfalls erfüllen kann. An dieser Stelle seien noch einmal die kritischen Punkte kurz genannt:

Im folgenden soll nun auf die Weiterentwicklung der sokratischen Gesprächsführung durch Leonard Nelson eingegangen werden.