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Seminar: Probleme des Unterrichts an Wirtschaftsschulen (Unterricht II) im SS 1996


Bernd Gerling, Anne Hoefermann, Oliver Schöming, Armin Schünemann:

Das Unterrichtsgespräch: fragend-entwickelnd oder neosokratisch?


1. Geschichte der sokratischen Methode

Sokrates (470 - 399 v. Chr.)

Sokrates will in einem Gespräch die Erkenntnis aus dem Schüler ohne Belehrung (Information) des Lehrers "hervorlocken". In dem Lernenden gibt es ein Wissen, das verborgen und nicht unmittelbar zugänglich ist. Wissen kann durch eine bestimmte Technik hervorgebracht werden: "Geburtshelferkunst", Maieutik.

Michel de Montaigne (1533 - 1592 / Philosoph)

Gegenüberstellungen von zwei Lehrmethoden:

a) Gelehrtsein, d. h. Wiedergabe von fremden, gedächtsnismäßig angeeigneten Wissen

b) Lehrmethoden des besseren Wissens (Sokrates, Platon), wobei eigenes Denken und Urteilen am wichtigsten sind

Pierre Charron (1541 - 1603 / Philosoph)

Charron berief sich ausdrücklich auf Sokrates. Er übte Kritik am Bildungswesen. Hauptwerk "De la sagesse" (1601): "Der Lehrer muß seinen Schüler fragen, reden lassen, und über alles, was vorfällt, dessen Meinung vernehmen ... Man muß den Geist durch Fragen erwecken und aufmuntern, ... Wenn man, ohne sie reden zu lassen, allein spricht, so ist es fast vergebliche Arbeit."

Erhard Weigel (1625 - 1699 / Mathematikprofessor an der Universität Jena)

Weigel kritisierte den Unterricht seiner Zeit (Methode des Auswendiglernens von Texten): Der Geist des Schülers wird nicht gefordert, er ist bloß Empfänger von Worten.

Das Einprägen von Texten ist zwar nötig, der Schüler muß aber auch ein Verständnis für den Inhalt erwerben und eigene, verantwortende Urteilskraft erlangen durch stärkeres Einbeziehen des Lernenden bei der Lösung von Problemen, Forschen, Nachdenken und Prüfen. Seine Vorbilder waren Sokrates und Platon. Weigel führte seine Schulversuche an der Universität Jena durch.

Christian Thomasius (sokratische Lehrart an der Universität / bis 1690 Professor der Rechte an der Universität Jena)

Thomasius kritisierte das bloße Diktieren, Dozieren und Einprägen. Sein Ausgangspunkt sind Lehrsätze, Definitionen oder Axiome (nicht die Fragestellung), die der Lernende mit eigenen Worten wiedergeben muß. Die Fähigkeit der Formulierung in eigenen Worten ist das erste Kriterium für das Verstehen. Das zweite Kriterium ist die richtige Beantwortung von Fragen. Werden die Fragen nicht richtig beantwortet, wird der sokratische Weg eingeschlagen, indem dem Lernenden durch Fragestellungen und dem damit verbundenen Zwang zur Begründung zum Erkennen seines Irrtums verholfen wird. Hauptinstrument der Gesprächsführung ist die Frage. Die sokratische Lehrart ist auf einen Lehrenden und einen Lernenden bezogen und bei über 20 Lernenden nicht mehr praktikabel.

Samuel Grosser (1664 - 1736 / Gymnasialdirektor in Görlitz)

Grosser setzt die sokratische Methode von Anfang an ein, um ein Problem zu lösen (Methodus Problematica). Dies führt zur Stärkung des Urteilsvermögens und veranlaßt den Lernenden zum Denken.

Johann Lorenz Mosheim (1694 - 1755 / evangelischer Theologe)

Seine Ansichten bezüglich der sokratischen Lehrart decken sich in vielen Punkten mit denen seiner Vorgänger. Er akzentuiert die Funktion der Fragen als diagnostisches Mittel, um die Gedanken der Lernenden (Unterweisung in der Religionslehre für einen oder zwei Schüler) kennenzulernen und als Mittel, diese Gedanken evtl. zu verbessern.

Das sokratische Jahrhundert

Franz Michael Vierthaler (1758 - 1827 / Schul- und Waisenhausdirektor)

Er vermischt Maieutik mit Formen der Belehrung (beruft sich dabei auf platonische Dialoge) und reichert das Unterrichtsgepräch mit unterschiedlichen Elementen wie Anschauung, Erzählung und Fabeln an.

Joachim Heinrich Campe (1746 - 1818 / Schriftsteller)

Seine Form des Unterrichtsgesprächs (in familiären Situationen) zeichnet sich durch eine Betonung von Anschauungsmerkmalen als gesprächssteuernde Elemente aus. Es besteht eine methodische Nähe zur heutigen Form des Unterrichts. Er vermischt Maieutik mit direkter Belehrung, bezieht verschiedene Gegenstände in den Bereich der Sokratik ein und erhöht die Anzahl der Gesprächsteilnehmer. Es stellt sich die Frage, ob der maieutische Anspruch erfüllt wird.

Johann Heinrich Pestalozzi (1746 - 1827 / Pädagoge)

Pestalozzi kritisiert die alltägliche Umsetzung der Sokratik, da diese eine zu große Anforderung an Lehrer (müssen eine außerordentliche Befähigung besitzen) und Lernende stellt. Die Lernenden müssen Erfahrung und Reife besitzen. Pestalozzi hält deshalb die Methode der Sokratik (Maieutik) für die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen nicht geeignet. Er schätzt aber den maieutischen Grundgedanken.

August Hermann Francke (1663 - 1727 / Pädagoge)

Hieronymus Freyer (1675 - 1747 / Pädagoge)

Francke und Freyer führten das katechetische Modell für den Mathematikunterricht/Geometrieunterricht in einer besonderen Form ein. Hier soll der Stoff nicht mehr vom Lehrer vorgetragen werden und danach durch Frage und Antwort von ihm abgeprüft werden, sondern der Inhalt soll durch Fragen herausgelockt werden, um den Verstand zu stärken und um den Schüler zum Nachdenken anzuregen. Weiterhin wird mit den Schülern über ihr Vorgehen reflektiert. Der Unterricht findet mit vielen Schülern (im Gegensatz zur sokratischen Methode) statt. Außerdem muß der Lehrer den Unterrichtsstoff sehr genau kennen.

Johann Andreas Michelsen (1749 - 1799 / Gymnasialprofessor für Mathematik und Physik in Berlin)

Michelsens sokratische Methode für den Mathematikunterricht mit einem Schüler ähnelt in einigen Punkten den Methoden von Campe und Pöhlmann. Er setzt ebenfalls überwiegend die Frage als Mittel ein, äußert bei Gelegenheit sein Urteil und bewertet die Antworten der Schüler. Bei Michelsen muß der Schüler aber aktiver sein. Er muß Vermutungen aufstellen, Begründungen abgeben, Fragen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade beantworten, selbständig Beweise durchführen, Überlegungen anstellen und ständig mitdenkend dem Unterricht folgen.

Karl Weierstrass (1815 - 1897 / Mathematiker)

Weierstrass hält die sokratische Methode nur für die Philosophie, die reine Mathematik und die allgemeinen Gesetze der Sprache geeignet. Er grenzt außerdem die sokratische Methode (Auffinden von Erkenntnissen, die ihren Ursprung in den Anlagen der menschlichen Natur haben oder aus bereits vorhandenen Vorstellungen abgeleitet werden können) von der katechetischen Methode ab. Die sokratische Methode hält er nur für das Unterrichtsgespräch mit einem Schüler geeignet. Der Lehrer benötigt eine sehr gute Sachkenntnis und ein ebenfalls sehr gutes didaktisches Geschick.

Tuiskon Ziller (1817 - 1882 / Professor für Pädagogik an der Universität Leipzig)

Ziller kritisiert den katechetischen Unterricht (wird dem maieutischen Anspruch nicht gerecht). Er setzt dem seine Disputationsmethode (indirekt geleitetes Unterrichtsgepräch) gegenüber. Hier werden die Resultate durch Diskussion und Überlegungen gewonnen.