Bundesverband
Legasthenie e.V.

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Legasthenie - Definition mit Erläuterungen und Empfehlungen


Definition der Legasthenie mit Erläuterungen

(in der Fassung vom 31.10.1987)

1. Legasthenie ist die Bezeichnung für Schwächen beim Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechtschreiben, die weder auf eine allgemeine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung, noch auf unzulänglichen Unterricht zurückgeführt werden können.*)

1.1 Kennzeichnend für eine Legasthenie sind weniger Anfangsschwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache, als eine Diskrepanz zwischen dieser Leistung und den meisten übrigen Lern- und Leistungsmöglichkeiten sowie das Fortwirken der partiellen Lernschwäche auch nach Verbesserung der Lese- und Rechtschreibleistung.

Die Fähigkeiten von Schülern mit Legasthenie werden ihrer Rechtschreibung wegen nämlich häufig unterschätzt, so daß es zu Fehlentscheidungen über Schullaufbahnen kommt.

1.2 Die Gründe für das umschriebene Versagen bei der Aneignung von Schriftsprache liegen im wesentlichen in Besonderheiten, die das Kind bereits mit in die Schule bringt. Sie können sowohl aufgrund einer entsprechenden Anlage als auch durch Störungen der Entwicklung des Zentralnervensystems oder durch das Zusammenwirken beider Bedingungen entstehen. Mit den Lese-Rechtschreibschwächen können Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, der Motorik (Bewegungs- und Koordinantionsstörungen), der Seitendominanz und/oder Beeinträchtigungen des Spracherwerbs zusammentreffen.

1.3 Eine unberücksichtigte, unbehandelte oder nicht fachgerecht behandelte Legasthenie führt in der Regel sowohl zur Ausweitung des Versagens in der Schule auf andere Lernbereiche als auch zu schwerwiegenden Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, vor allem in bezug auf das Selbstwerterleben, soziale Beziehungen und das Arbeits- und Leistungsverhalten (Verlust der Lernmotivation).

Eine auf diese Weise ausgeprägte und verfestigte Legasthenie schränkt die Möglichkeiten für eine den sonstigen Fähigkeiten des Schülers angemessene Schulbildung und berufliche Ausbildung sowie für die Eingliederung in die Gesellschaft nicht nur vorübergehend erheblich ein.

2. Grunderfordernisse zur Abwendung von Beeinträchtigungen der seelischen Entwicklung

Um die Auswirkungen von partiellen Lernschwächen beider Aneignung der Schriftsprache möglichst gering zu halten und einer ausgeprägten und verfestigten Legasthenie entgegenzuwirken, sind Maßnahmen in Familie, Schule und außerhalb der Schule erforderlich.

Für Art und Umfang solcher Maßnahmen sind ausschlaggebend:

  • Erscheinungsformen und Ausprägungsgrad der Teilleistungsschwächen sowie ihrer Folgen beim einzelnen Kind.
  • Die Bedeutung des umschriebenen Lernversagens für Fremd- und Selbstbewertung unter den jeweiligen Umständen in Schule und Familie.

Der Erfolg der Einflußnahme auf den Verlauf einer Legasthenie hängt ab

  • vom frühzeitigen Erkennen der umschriebenen Schwierigkeiten und der zugrundeliegenden Schwächen,
  • von einer rechtzeitigen Hilfe durch fachgerechte, individuelle Behandlung,
  • von Art und Umfang spezieller schulischer Förderung, von der Berücksichtigung der umschriebenen Schwächen bei der Organisation und Gestaltung des allgemeinen Schulunterrichts,
  • von der Zusammenarbeit aller Beteiligten - Kind, Eltern, Erzieher, Lehrer, Psychologen, Ärzte - auf der Grundlage eines gemeinsamen Problemverständnisses.

 

2.1 Die Aufgaben der Schule

Da Leselern- und Rechtschreibschwächen erst im Unterricht der Schule bemerkbar werden, trägt diese ein hohes Maß an Verantwortung sowohl für vorbeugende Maßnahmen als auch für Früherkennung, Förderung und begleitende pädagogische Hilfen.

2.1.1 Allgemeine Vorbeugung

Vorbeugende Maßnahmen der Schule sollen allen Schülern mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten zugutekommen. Ungeachtet der Ursachen im Einzelfall hat die Schule den Auftrag, "dafür zu sorgen, daß möglichst wenige Schüler gegenüber diesen Grundanforderungen (im Lesen und Schreiben) versagen". (Beschluß der KMK vom 20. April 1978).

Allgemeine Vorbeugung heißt vor allem: Berücksichtigung unterschiedlicher Voraussetzungen für die Aneignung von Schriftsprache. Die Bedeutung und die Auswirkungen von Teilleistungs schwächen können dadurch zum Teil wesentlich gemildert werden. Entsprechende Möglichkeiten und Aufgaben liegen vor allem bei speziell ausgebildeten Grundschullehrern und deren Zusammenarbeit mit den Familien. Es ist notwendig,

  • daß der Unterricht im Lesen und Schreiben den Kindern Zeit zur individuellen Aneignung läßt, nach dem Grundsatz schrittweiser Einführung schwieriger Probleme verfährt und dabei vor allem die Mitteilungsfunktion der Schriftsprache betont;
  • daß Lehrer und Eltern nicht Fehler herausstellen und zum Vorwurf machen, sondern die Lernfortschritte des einzelnen Kindes bestätigen;
  • daß die Schule den Eltern den Leselehrgang und die Notwendigkeit eines individualisierenden Unterrichtsvorgehens erläutert, damit sie ihr Kind ebenfalls bestätigen können, statt seine Lernergebnisse mit denen anderer Kinder zu vergleichen

 

2.1.2 Früherkennung im Erstleseunterricht

Auch, wenn der Lese- und Schreibunterricht nach den Grundsätzen unter 2.1.1 gestaltet wird, werden sich bei der Beobachtung der Lernprozesse einzelne Kinder erkennen lassen, bei denen die schulischen Hilfen nicht zur völligen Überwindung der Lernschwierigkeiten führen.

Es ist notwendig, die besonderen Schwierigkeiten dieser Kinder und ihre Fähigkeiten so rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln, daß ungünstige Auswirkungen auf ihre Lernmotivation, ihr Selbstwerterleben und ihre seelische Entwicklung noch vermieden, zumindest aber verringert werden können. Auf jeden Fall muß bereits zu diesem frühen Zeitpunkt dem Kind eine Erklärung für seine Schwierigkeiten gegeben werden, die es davor bewahrt, sich für dumm oder faul zu halten.

Die Wiederholung der 1. Klasse als einzige Maßnahme bedeutet in der Regel keine ausreichende Hilfe. Vielmehr bedarf es sowohl im Falle der Klassenwiederholung als auch bei einem Übertritt in die zweite Klasse einer speziellen Förderung innerhalb oder außerhalb der Schule.

2.1.3 Förderdiagnostische Klärung

Es muß unterschieden werden zwischen lediglich klassifizierenden diagnostischen Feststellungen ("Etikettierung") und einer förderungsbezogenen diagnostischen Klärung. Klassifizierende, abgrenzende Feststellungen mögen dazu dienen, Zuordnungen - vor allem unter schul- und sozialrechtlichen Gesichtspunkten - vorzunehmen . Insoweit können sie auch für den einzelnen Schüler begrenzten Nutzen haben. Sie reichen jedoch keineswegs aus, um die jeweils notwendigen und richtigen Wege für die Einflußnahme zu finden, entsprechende Maßnahmen einzuleiten sowie diese fortlaufend zu überprüfen und angemessen zu gestalten.

Eine förderungsbezogene Klärung muß sich auf den gesamten Wirkungszusammenhang körperlicher, seelischer und sozialer Beziehungen erstrecken und dabei sowohl die schulischen als auch die familiären Einflüsse berücksichtigen. Dies kann auf keinen Fall ausschließlich von der Schule geleistet werden. Für eine förderungsbezogene Klärung (siehe 2.2.2) sind nämlich erforderlich:

  • Vorgeschichte der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung,
  • Vorgeschichte der bisherigen Lernverläufe in Kindergarten und Schule,
  • eingehende Untersuchung der bisher erlangten Lese- und Rechtschreibfertigkeit ihrer Besonderheiten und der Aneignungsschwierigkeiten,
  • psychologische Untersuchung der allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten,
  • Erkundung der emotionalen sowie der sozialen Bedingungen und Auswirkungen der besonderen Lernschwierigkeiten,
  • Untersuchung der neuropsychologischen Funktionen im Bereich der visuellen, auditiven und kinästhetisch-taktilen Wahrnehmung, der Motorik und der Integration bzw. der Koordination in beiden Bereichen,
  • neurologische und gegebenenfalls neurophysiologische Untersuchung der Funktionen des Zentralnervensystems.
  • Insbesondere die Schule muß deswegen bereit sein zur Zusammenarbeit mit außerschulischen Fachleuten (Medizinern verschiedener Fachrichtungen und Psychologen) und Eltern.

 

2.1.4 Spezielle Förderung

Um Schülern mit nicht nur vorübergehenden Schwierigkeiten im Bereich schriftsprachlicher Leistungen wirksam zu helfen, bedarf es eines speziellen Förderunterrichts.

Von einer besonderen Förderung in der Schule können nur dann Fortschritte erwartet werden, wenn sie bei dem Lernstand ansetzt, an dem für das Kind Erfolge möglich sind. Die unterschiedlichen Formen und Ausprägungsgrade der Legasthenie erfordern unterschiedliches methodisches Vorgehen. Deswegen sollte ein besonderer Förderuntericht nur von Lehrkräften erteilt werden, die eine spezielle Ausbildung haben und über eine entsprechende Methodenvielfalt verfügen. Die unterschiedlichen Ansätze müssen auch bei der Zusammensetzung und dem Umfang der Fördergruppen berücksichtigt werden (Kleingruppen, Einzelunterricht, kleine Leseklassen, Kompaktkurse u.a.m.).

2.1.5 Pädagogische Hilfen

Berücksichtigung der besonderen Lernschwierigkeiten des Kindes bedeutet vor allem Entlastung von unangemessenen Forderungen, von Mißerfolgserlebnissen und von negativen Selbst- und Fremdbewertungen. Dazu muß insbesondere der Stellenwert der Mängel beim Lesen und Schreiben zurechtgerückt werden. Die nicht meßbaren Eigenschaften des Kindes, seine kreativen und sozialen Fähigkeiten sowie seine besseren Fertigkeiten müssen beachtet, ihm und seiner Umgebung verdeutlicht und anerkannt werden.

Je nach dem Ausmaß des Versagens sind weitere pädagogische Maßnahmen zur Stützung der individuellen Lernfortschritte im Förderunterricht notwendig. Dazu zählen:

  • Vermeiden von Bloßstellung durch lautes Vorlesen vor der Klasse,
  • Mitschreiben des Klassendiktats nur zu einem Teil (z.B. zur Hälfte) oder Bearbeitung von Übungsaufgaben anstelle des Diktats,
  • Ersetzen der Diktatbenotung durch anerkennende Beschreibung der individuellen Lernfortschritte im Förderunterricht,
  • Erleichterungen bei den Hausaufgaben in Absprache mit den Eltern,
  • Erleichterungen bei Textaufgaben in Mathematik und den Sachfächern (z.B. sollten Texte vom Lehrer auf Kassette gesprochen werden, damit das Kind beim Lesen der Aufgaben zugleich mithören und dadurch Verständnisfehler vermeiden kann).

2.2 Die Aufgaben schulunabhängiger Fachleute

Nicht in den Aufgabenbereich der Schule fallen Früherkennung im Vorschulalter, diagnostische Klärungen, soweit sie über die Anwendung von Schulleistungstests hinausgehen, sowie Behandlungen bei erheblichen Schweregraden der Legasthenie oder bei sekundären Verfestigungen des Erscheinungsbildes.

2.2.1 Früherkennung im Vorschulalter

Bei einem Teil der betroffenen Kinder lassen sich umschriebene Beeinträchtigungen (Teilleistungsschwächen), die später das Erlernen des Lesens und Schreibens erschweren, auch schon im Vorschulalter erkennen und berücksichtigen. Das ist besonders dann der Fall, wenn sie sich bereits auf den Erwerb der Lautsprache und des motorischen Geschicks ausgewirkt haben. Rechtzeitige diagnostische Klärung und gegebenenfalls eine spezifische Einflußnahme hängen von der Aufmerksamkeit der Allgemein- und Kinderärzte - insbesondere bei den Vorsorgeuntersuchungen -, der Fachkräfte in Erziehungsberatungsstellen, der Krankengymnastinnen, nicht zuletzt der Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen (Kindergärten, Horte) ab.

Pädagogische Förderung und spezifische Übungsbehandlungen müssen neben der Sprache und der Motorik in gleicher Weise die Wahrnehmungsbereiche, deren Verknüpfung und die sensomotorische Koordination berücksichtigen.

2.2.2 Diagnostische Klärungen

Mit ihren begrenzten Möglichkeiten wird die Schule in der Regel nur einfache, diagnostische Abgrenzungen vornehmen und Ansätze für die schulische Lese- und/oder Rechtschreibförderung finden können.

Bei allen Schulkindern, die mit Leselern- und Rechtschreibproblemen auffallen, muß darüber hinaus unbedingt geklärt werden, ob bis dahin unerkannt gebliebene Seh- oder Hörbehinderungen vorliegen. Danach erst sind die unter 2.1.3 aufgeführten fachärztlichen und psychologischen Untersuchungen vorzunehmen. Die vollständige diagnostische Klärung erfordert die Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen untereinander sowie mit Eltern und Schule.

2.2.3 Notwendigkeit und Formen außerschulischer Behandlungsmaßnahmen

Auf der Grundlage umfassender diagnostischer Ergebnisse muß für jedes Kind mit ausgeprägter Legasthenie ein individueller Behandlungs- und Förderplan erstellt und fortlaufend überprüft werden.

Ein solcher Plan muß einschließen:

  • Information und Beratung der Eltern, der Lehrer und des Kindes,
  • Berücksichtigung der besonderen Lernschwächen des Kindes in Familie und Schule,
  • besondere Förderung innerhalb der Schule,
  • therapeutische Maßnahmen außerhalb der Schule.

Je nach Ausprägungsgrad und Auswirkungen der Legasthenie sind dafür unterschiedliche Organisationsformen notwendig, aus denen sich - wie die folgende, vereinfachende Übersicht erkennen läßt - auch unterschiedliche Aufgabenverteilungen ergeben:

Zustand des Kindes

Maßnahme

Geringe Teilleistungsstörung,
keine Verfestigung,
keine sekundären emotionalen Störungen.

Beratung der Eltern und Lehrer.
Schulinterne Individualisierung des Lernvorgangs.

Deutliche Teilleistungsstörungen,
keine Verfestigung,
keine sekundären emotionalen Störungen.

Beratung der Eltern und Lehrer.
Spezielle, schulinterne Förderung möglich, nicht immer ausreichend.

Deutliche Teilleistungsstörungen,
noch keine Verfestigung,
deutliche, sekundäre, ernotionale Störungen.

Beratung der Eltern und Lehrer.
Schulexterne Behandlung. U.U. Psychotherapie.

Ausgeprägte Teilleistungsschwächen,
deutliche Verfestigung,
deutliche sekundäre, emotionale Störungen

Beratung der Eltern und Lehrer.
Schulexterne Behandlung,
u.U. Internatsunterbringung mit Psychotherapie und/oder entsprechender Behandlung

2.2.4 Ambulante Behandlungsmaßnahmen

Therapeutische Maßnahmen, wie sie wegen schwerer Ausprägungsgrade einer Legasthenie, erfolgloser schulischer Förderung, insbesondere aber bei deutlichen Auswirkungen auf die seelische Entwicklung notwendig werden, müssen das gesamte Bedingungsgefüge berücksichtigen, in dem dieser Ausprägungsgrad entstanden ist, und bei den gegenwärtigen Bedingungsschwerpunkten ansetzen. Häufig werden die Beeinträchtigungen des Selbstvertrauens, die negative Gefühlsbesetzung von Lesen und Schreiben sowie die daraus folgenden Vermeidungen bei der therapeutischen Einflußnahme ganz im Vordergrund stehen. Dies kann bedeuten, daß zunächst psychotherapeutische Verfahren einzusetzen sind. In der Regel muß die Familie in die Behandlung einbezogen werden.

Im Zuge der Wiederherstellung der Lernfähigkeit und -motivation können und müssen dann mit dem Kind individuelle Aneignungswege für Lesen und Schreiben entwickelt werden. Sie sollen möglichst weitgehend den beim Kind festgestellten umschriebenen Lernschwächen entsprechen. Dazu verhilft ein vielfältiges methodisches Vorgehen.

2.2.5 Stationäre Behandlungsmaßnahmen

Schüler mit schwerwiegender Ausprägung der Legasthenie und dementsprechenden Beeinträchtigungen ihrer seelischen Entwicklung können oft für einen längeren Zeitraum, manchmal für die Dauer ihrer Schulpflicht, nicht in einer Regelschule unterrichtet werden. Als stationäre Maßnahmen kommen dann, je nach den Bedingungen des Einzelfalls, infrage:

  • die zeitlich begrenzte Behandlung in einer Klinik oder Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
  • ein Kuraufenthalt mit spezieller Förderung,
  • die Aufnahme in ein Internat mit speziellem schulischem, heilpädagogischem und therapeutischem Angebot.

2.3 Hilfen nach ß 39 ff. BSHG

Eine Legasthenie allein stellt nach Auffassung der Sozialbehörden noch keine wesentliche körperliche, geistige oder seelische Behinderung dar. Soweit schulische Maßnahmen ausreichen, das Kind vor der Ausweitung des Versagens auf andere Lernbereiche und vor Selbstwertproblemen zu bewahren, sowie ihm zu einer ausreichenden Leseleistung und zu einer seiner Begabung angemessenen Schullaufbahn zu verhelfen, brauchen außerschulische Hilfen nicht in Anspruch genommen zu werden.

Ist aber die Legasthenie nicht rechtzeitig erkannt oder nicht fachgerecht behandelt worden, und drohen bereits sekundäre Störungen des Lernverhaltens und der Leistungsmotivation und/oder der Persönlichkeitsentwicklung, dann ist der Schüler unmittelbar von einer seelischen Behinderung bedroht.

In diesem Fall bedarf es außerschulischer Maßnahmen, die nach ß 39 Abs. 2 BSHG zu gewähren sind, weil allein Maßnahmen der vorbeugenden Gesundheitshilfe oder der Krankenhilfe (ßß 36, 37 BSHG) nicht ausreichen, den Eintritt einer seelischen Behinderung abzuwenden. Die außerschulischen Maßnahmen können ambulante oder stationäre Maßnahmen sein.

Hat die Legasthenie schon zu einer seelischen Störung geführt, so kann diese eine nicht nur vorübergehende Beeinträchtigung der Fähigkeiten zur Eingliederung in die Gesellschaft (Bildungs-, Beschäftigungs- und Ausbildungsbereich) in erheblichem Umfang zur Folge haben. Auch in diesem Fall bedarf es außerschulischer (ambulanter oder stationärer) Maßnahmen, die nach ßß 39 ff. BSHG zu gewähren sind.

3. Grundsätzliche Bemerkungen

Alle Maßnahmen sollen dazu dienen, jungen Menschen mit einer besonderen Lernschwäche Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, die ihrer Begabung entsprechen und sie vor Beeinträchtigungen ihrer seelischen Entwicklung zu bewahren.

Information und Beratung aller Beteiligten, einschließlich des Kindes selbst, sollen über die Entstehungsbedingungen und die Art der Legasthenie des Kindes aufklären und Verständnis für die damit verbundenen Wechselwirkungen innerhalb der Familie und der Schule herbeiführen.

Minderheitsvotum:

Herr Professor Dr. Weinschenk U bittet darum, seine Definition der Legasthenie als Minderheitsvotum der Definition des Wissenschaftlichen Beirats, der er im übrigen zustimmt, an dieser Stelle mit aufzunehmen:

"Die kongenitale Legasthenie ist eine erbliche, verschieden stark ausgeprägte Anlageschwäche für das Erlernen des Lesens und Rechtschreibens von Texten bei für das Erlernen des Lesens und Diktatschreibens sonst ausreichender Intelligenz und einem bezüglich Lesen und Schreiben normalen neurologischen Befund."

Begründung:

1. Das Erlernen des Schreibens:

Legastheniker können fehlerlos abschreiben, wenn sie durchweg hingucken. (Ein Legastheniker zum Beispiel: "Ich kann alles abschreiben, aber nicht lesen.")

2. Es gibt im Verlaufe des Lebens durch umschriebene Hirnschädigungen verursachte Lese- und Schreibstörungen, nämlich die Alexie und Agraphie, die in der Definition aus der Legasthenie ausgeschlossen werden müssen, durch die Erwähnung des "bezüglich Lesen und Schreiben normalen neurologischen Befundes".

Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats 1987:

Prof. Dr. Michael Atzesberger U , Koblenz

Dr. med. Inge Flehmig, Hamburg

Dr. med. Bernd van Husen, Bochum

Prof. Dr. Jacob Muth, Bochum

Prof. Dr. ined. Friedrich Specht, Göttingen

Prof. Dr. Peter Trenk-Hinterberger, Marburg

Prof. Dr. phil. Dr. med. Curt Weinschenk U , Marburg

Dr. phil. Lisa Dummer-Smoch, Bordesholm


Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirates des Bundesverbandes Legasthenie e.V. zur Früherkennung und Behandlung der Legasthenie (Dyslexie, Lese-Rechtschreibschwäche)

(in der Fassung vom 14.1.1994)

Definition

Die Legasthenie (Lese-Rechtschreibschwäche) bezeichnet eine umschriebene Störung im Erlernen der Schriftsprache, die nicht durch eine allgemeine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklungs-, Milieu- oder Unterrichtsbedingungen erklärt werden kann. Vielmehr ist die Legasthenie das Ergebnis von Teileistungsschwächen der Wahrnehmung, Motorik und/oder der sensorischen Integration, bei denen es sich um anlagebedingte und/oder durch äußere schädigende Einwirkungen entstandene Entwicklungsstörungen von Teilfunktionen des zentralen Nervensystems handelt.

Diese Definition entspricht der Definition der Dyslexie durch die World Health Organisation (1986) sowie dem Begriff Dyslexie in der internationalen Klassifikation der Diagnosen (ICD).

Das Erlernen der Schriftsprache ist integraler Teil des Erlernens sprachlicher Kompetenz, die sich aus dem Zusammenwirken vielfältiger Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen ergibt. Störungen in diesem komplexen System können eine Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie, Dyslexie) hervorrufen.

Die gegenwärtige Situation von Schülern, die an einer Legasthenie leiden

Nicht überall in Deutschland ist die Legasthenie als Ergebnis von Teilleistungsschwächen und somit als eine vom zentralen Nervensystem ausgehende, einer speziellen Förderung bedürfende Behinderung (partielle Lernbehinderung) anerkannt. Unter Mißachtung des internationalen Forschungsstandes wird von pädogogischer Seite vielfach immer noch die Auffassung vertreten, es handele sich bei Lese-Rechtschreibschwächen lediglich um ªvorübergehende Schwierigkeiten´, d.h. um Verzögerungen eines völlig normalen Verlaufs des Schriftspracherwerbs. Daher sei es möglich, sie durch vermehrtes Üben im Schulunterricht auszugleichen. Die Ständige Konferenz der Kultusminister (alte Bundesländer) hat mit ihren Empfehlungen vom 20.4.1978 diese Auffassung vertreten. In der damaligen DDR hingegen war die Legasthenie, dort - bezogen auf einige LRS-Klassen - als LRS bezeichnet, als Folge von Teileistungsschwächen anerkannt (KOSSOW, 1972).

Die Notwendigkeit, die Legastheniker von anderen Kindern mit Lese-Rechtschreibschwächen zu unterscheiden, ergibt sich vor allem aus der Tatsache, daß sie gleichzeitig als und als ªschlechte´ Schüler in Erscheinung treten. Die Diskrepanzen zwischen ihrer unzureichenden Lese-Rechtschreibfertigkeit einerseits und ihren deutlich besseren Begabungen andererseits führen zu Fehleinschätzungen hinsichtlich ihrer geistigen Leistungsfähigkeit. Es kommt in Elternhaus und Schule zu Schuldzuweisungen und entsprechenden seelischen Belastungen. Damit steht nicht nur der Erwerb der Schriftsprache, sondern eine begabungsgerechte Schullaufbahn und damit die Entwicklung zu körperlicher, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit in Frage.

Etwa 15 % aller Schüler des 2. und 3. Grundschuljahres haben Schwierigeiten beim Erlernen der Schriftsprache. Sie alle muß die Schule berücksichtigen. Etwa die Hälfte dieser Kinder ist im Sinne der Definition als legasthenisch einzustufen. Wiederum die Hälfte dieser Gruppe leidet (unter Anlegen kritischer diagnostischer Maßstäbe) an einer schweren Legasthenie.

In den alten Bundesländern blieben und bleiben (mit regionalen Unterschieden) Kinder, die an einer Legasthenie leiden, häufig unerkannt, bis sie das 3. und 4. Schulbesuchsjahr absolviert haben, die schulische Laufbahn zu scheitern droht oder gescheitert ist, durch mehrfaches Wiederholen bzw. die Einweisung in die Sonderschule. Zu diesem Zeitpunkt machen zunehmende Verhaltensprobleme und/oder emotionale bzw. psychosomatische Auffälligkeiten außerschulische Hilfen erforderlich. Die aus diesem Anlaß durchgeführte medizinisch-psychologische Diagnostik identifiziert nachträglich die bis dahin ignorierte partielle Lernbehinderung als Ursache für den schulischen Mißerfolg und die seelische Fehlentwicklung.

Die notwendige, aber versäumte frühzeitige Erkennung und Förderung hat nicht stattgefunden. Besonders problematisch ist, daß das Versäumte kaum aufgeholt werden kann. Vor allem die seelischen Belastungen können die Persönlichkeitsentwicklung bis weit in das Erwachsenenalter hinein prägen.

Die Situation kennzeichnet einen anhaltenden und offenkundigen Mißstand, der Kinder in Deutschland im internationalen Vergleich benachteiligt, erhebliche soziale Bedeutung hat und durch politische Fehlentscheidungen festgeschrieben wurde. Eine Neuorientierung im Bereich der Schulgesetzgebung ist dringend geboten, zumal auf Grund des derzeitigen Wissensstandes eine Früherkennung von Kindern, die mit einem Risiko für das spätere Auftreten einer Lese-Rechtschreibschwäche belastet sind, möglich ist und eine spezifische Förderung bereits vor Eintritt in die Schule oder spätestens mit Schulbeginn erfolgen könnte.

Umso wichtiger sind unter dieser Voraussetzung die Klärung der Situation, die Übernahme gesicherten Wissens in den bildungspolitischen Raum und deren Umsetzung in angemessene Förderrichtlinien bzw. Maßnahmen.

Frühe Anzeichen für das Risiko einer späteren Legasthenie

Eine wachsende Zahl längsschnittlich angelegter Verlaufsuntersuchungen vom Säuglings- und Kleinkindalter bis ins mittlere Schulalter und teils bis ins Erwachsenenalter hat gezeigt, daß zwischen identifizierbaren Auffälligkeiten in der frühen Entwicklung und dem späteren Auftreten einer Legasthenie Zusammenhänge bestehen (KLACKENBERG 1980, SILVA et.a1. 1987, MANN und DITTUNO, 1989, SHAPIRO et.al. 1990):

Störungen der frühen Sprachentwicklung waren bereits im Alter von 3 Jahren unterscheidbar als Störungen des Wortverständnisses, des sprachlichen Ausdrucks und als allgemeine Verzögerung der Sprachentwicklung. Alle drei Formen korrelierten signifikant mit einer Störung der Lesefähigkeit im Alter von 7 und 9 Jahren. Frühe Störungen des Wortverständnisses und allgemeine Entwicklungsstörungen waren außerdem im Schulalter mit einer Häufung von Verhaltensstörungen belastet.

Frühe Auffälligkeiten der sensomotorischen Entwicklung korrelierten dann mit einer späteren Legasthenie, wenn der frühe Entwicklungsprozeß, d . h. die Reihenfolge und Integration motorischer Entwicklungsschritte, für die Korrelation herangezogen wurden (SHAPIRO et.al. 1990). Die genauere phonologische Analyse von Auffälligkeiten der Sprachentwicklung im Vorschulalter identifizierte Probleme im Erkennen von Wortstrukturen (z.B. Silbenzählen) und des Wortfolgedächtnisses, die mit einer Entwicklungsverzögerung der Lesefähigkeit in direktem Zusammenhang standen (MANN und DITTUNO 1989).

Es steht somit außer Frage, daß die Legasthenie nicht bei Schuleintritt oder im 2. Schulbesuchsjahr ªaus heiterem Himmel´ in Erscheinung tritt. Sie hat Vorläufer in der frühen Entwicklung von Sensomotorik und Sprache, die als Risiken vor Erreichen des Schulalters identifizierbar sind, aber meist nicht als bedeutsam erkannt werden.

Nicht bei allen in ihrer frühen Entwicklung in der dargestellten Weise auffälligen Kindern manifestiert sich später eine Lese-Rechtschreibschwäche. Alle auffälligen Kinder profitieren jedoch von Hilfen mehr, wenn diese früh einsetzen. Sofern jedoch Früherkennung und -förderung im Vorschulalter unterblieben sind, sollten sie spätestens im 1. Schulbesuchsjahr stattfinden, um die ªletzte Möglichkeit´ zur Vermeidung von Sekundärschäden zu nutzen.

Formen der Früh- bzw. Späterkennung

Es werden 3 Stufen der Erkennung der Legasthenie unterschieden (DUMMER 1987):

  1. Erfassung beeinträchtigter Leselernvoraussetzungen im letzten Jahr vor Schuleintritt (vorschulische Früherfassung)
  2. Erfassung beginnenden Versagens im Leselernprozeß durch Diagnostik im ersten Schulbesuchsjahr (schulische Früherfassung).
  3. Spätdiagnose der Legasthenie nach bereits eingetretenem Versagen und der Entwicklung sekundärer seelischer Schäden.

zu 1.

Früherfassung soll mit zuverlässigen Verfahren Merkmale beschreiben, die hohe Spezifität für die später zu erwartende Schwäche besitzen (Prädiktor-Variablen).

Aus den zitierten prospektiv angelegten Verlaufsstudien lassen sich Variablen der Sensomotorik und der Sprache beschreiben, die bereits vor Ablauf des 4. Lebensjahres zuverlässig erfaßt werden können. Die Vorhersagekraft reicht aus, um ein signifikantes Risiko festzustellen. Konkret ausgedrückt bedeutet dies, daß ein geistig normal entwickeltes 4jähriges Kind, dessen sensomotorische Entwicklung bestimmte Auffälligkeiten aufwies und/oder dessen Sprachentwicklung verzögert verlief, als Risikokind für eine LeseRechtschreibschwäche anzusehen ist.

Ein solches Kind hat ohnehin Anspruch auf angemessene Förderung. Die mögliche falsch-positive Einordnung als Risikokind für eine Legasthenie ist unerheblich, da eine entsprechende Frühförderung dem Kind in keiner Weise schaden kann. Über Erfahrungen zur präventiven Wirkung einer Frühintervention bei Kindern, auf denen das beschriebene Risiko lastet, wurde von BREUER und WEUFFEN (1986) berichtet. Präventivwirkungen durch die anschließende Frühförderung wurden erzielt. Vergleichbare Früherkennungsansätze sind z.Z. Gegenstand der Forschung (SKOWRONEK et.a1., BECK 1986).

Besondere Bedeutung kommt in dieser Hinsicht dem letzten Jahr vor Schuleintritt zu. Zuverlässige diagnostische Verfahren stehen zur Verfügung: Neben der Differenzierungsprobe von BREUER und WEUFFEN sind der Heidelberger Sprachentwicklungstest, der Lautbildungs- und Lautunterscheidungstest für das Vorschulalter und der Frostig-Entwicklungstest und andere zu nennen.

Notwendige ärztliche Untersuchungen erfolgen mit entwicklungsneurologischen, kinderpsychiatrischen, pädaudiologischen und augenärztlichen Schwerpunkten.

zu 2.

Spätestens in der zweiten Hälfte des 1. Schulbesuchsjahres sollten Kinder identifiziert werden, die im Leselernprozeß stagnieren (ªspäte Früherfassung´). Für diesen diagnostischen Schritt, in dem auch die Voraussetzungen für den Leselernprozeß abgeklärt werden müssen, stehen neben der Intelligenzdiagnostik eine Reihe ausreichend erprobter Verfahren zur Verfügung.

Auf diesem Wege sind sowohl entwicklungsbedingte Anfangsprobleme als auch schwere Formen der Legasthenie zu einem Zeitpunkt zu erfassen, zu dem eine intensive und spezifische Förderung sekundärsymptomatische Entwicklungen noch verhindern kann. Die Prävention besteht für Kinder mit bloßen ªAnfangsschwierigkeiten´ darin, ihnen durch eine intensive Förderung im Leselernprozeß den Anschluß an den Klassenstand zu ermöglichen.

Bei ªechten Legasthenikern´ ist ein wichtiger Gesichtspunkt der schulischen Prävention, daß sie erkannt werden, bevor sie beginnen, ihr Versagen zu überspielen. Dadurch nämlich würden ihre partiellen Schwächen lange unerkannt bleiben und wichtige Zeit für die spezifische Förderung verlorengehen.

zu 3.

Um kein Kind mit einem Lernversagen beim Erwerb der Schriftsprache zu übersehen, sollten alle Kinder mit Lese- und/oder Rechtschreibproblemen auch im Verlauf der zweiten Klasse (Späterkennung) mit entsprechenden diagnostischen Verfahren überprüft werden. Dafür stehen die Diagnostische Bilderliste für das Ende der ersten bzw. den Beginn der zweiten Klasse (DBL-1) sowie der Zürcher Lesetest und gegen Ende der zweiten Klasse der Diagnostische Rechtschreibtest (DRI 2) zur Verfügung.

Wird eine Legasthenie erst nach dem 4. Schulbesuchsjahr erkannt, sind erhebliche Beeinträchtigungen der Schullaufbahn, der angemessenen beruflichen Ausbildung und Eingliederung und - nicht zuletzt - der Persönlichkeitsentwicklung fast ausnahmslos die Folge. Von den Betroffenen mit überdurchschnittlicher Gesamtbegabung erreichen nur wenige das Abitur.

Die Ergebnisse von Verlaufs- und Katamneseuntersuchungen belegen eine ungünstige Prognose, was die Legasthenie betrifft. Die häufig vorhandenen Begleitstörungen wie dissoziales Verhalten und emotionale Störungen zeigen ebenfalls eine hohe Persistenz (STREHLOW et.al. 1992, ESSER und SCHMIDT). Ab der 6. Jahrgangsstufe werden Kinder mit einer Legasthenie im öffentlichen Schulsystem weitgehend ihrem Schicksal überlassen, d.h. einem Konkurrenzkampf, den sie trotz normaler bis überdurchschnittlicher Gesamtbegabung nicht bestehen können. Diese Kinder brauchen schulische und außerschulische Hilfen, Schutz vor unverschuldeten Versagenserlebnissen, spezifische Förderung durch Übungsbehandlungen und Psychotherapie.

Empfehlungen

Aus dem Gesagten leitet der Wissenschaftliche Beirat die folgenden Empfehlungen und Forderungen ab:

  1. Voraussetzung für dringend notwendige Verbesserungen der unbefriedigenden Situation von Kindern, die an Legasthenie leiden, ist die Verständigung über die Natur der Störung und über das Ziel der notwendigen Maßnahmen: legasthenischen Kindern wie allen anderen eine begabungsgerechte Schullaufbahn zu ermöglichen! Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesverbandes Legasthenie e.V. fordert die Ständige Konferenz der Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland auf, die 1978 erlassenen Empfehlungen dem aktuellen Wissensstand anzupassen.
  2. Realisierbare Nahziele sind die schulische Früherkennung und die entsprechende Förderung. Die erforderlichen Tests können bei allen Erstkläßlern von Lehrern durchgeführt werden.
  3. Die Förderung soll durch speziell weitergebildete Lehrer in Förderkursen erfolgen. Die Weiterbildung muß u.a. Verständnis für Teilleistungsschwächen und kompensatorische Fördermethoden vermitteln.
  4. Kinder, die erst zu Beginn der 2. Klasse oder später wegen zunehmender Schwierigkeiten beim Lesenlernen auffallen, benötigen eine umfangreiche Diagnostik, die durch dafür speziell ausgebildete Lehrer, den Schulpsychologischen Dienst oder durch außerschulische Fachleute (Kinder- und Jugendpsychiater, Diplom-Psychologen) durchgeführt werden kann.
  5. Die notwendige Förderung erfolgt innerschulisch und als spezifische Übungsbehandlung bzw. schulbegleitend durch entsprechende Fachkräfte/Therapeuten. Empfohlen wird das Vorgehen nach dem Muster der für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern erlassenen Richtlinien. Alternativ zu bestehenden LRS-Klassen, die erhalten bleiben sollten, haben sich in Schleswig-Holstein Intensiv-Lesekurse bewährt, in die extrem leseschwache Kinder für etwa drei Monate aufgenommen werden, um danach in ihre Klassen zurückzukehren. Anschließend ist eine weitere Förderung notwendig, die aber schulintern erfolgen kann.
  6. Kinder mit schweren Formen der Legasthenie, die trotz einer spezifischen Übungsbehandlung eine Angleichung ihrer Lese- und Rechtschreibleistung an die Leistungen ihrer Altersgruppe nicht erreichen, bedürfen des ªNotenschutzes´ als Nachteilsausgleich. Das bedeutet die Freistellung von der Benotung der Rechtschreibleistung und von der Mitbewertung der Rechtschreibung in allen schriftlichen Arbeiten. Dies muß gegebenenfalls bis zum Abitur möglich sein. Darüber hinaus bedürfen sie der angemessenen schulischen Förderung in den Bereichen, in denen sie auf Grund ihrer Begabungen leistungsfähig sind.
  7. Ein realisierbares Fernziel ist die Früherfassung von Kindern im Vorschulalter, die ein Risiko für das spätere Auftreten einer Legasthenie tragen. Der derzeitige Stand des Wissens berechtigt zu der Empfehlung, im Kindergarten und anläßlich der ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern ab dem 4. Lebensjahr besonderes Augenmerk auf Sprachentwicklungsstörungen, Sehfehler, Hörbehinderungen und Verhaltensauffälligkeiten zu richten und bei Verdacht auf das Vorliegen von Verzögerungen und Störungen eingehende fachliche Untersuchungen zu veranlassen und gegebenenfalls Fördermaßnahmen einzuleiten.

 

Prof. Dr. Joest Martinius, München

Dr. Lisa Dummer-Smoch, Bordesholm

für den Wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes Legasthenie

Außerdem haben mitgearbeitet:

Prof. Dr. Dr. hc. Helmut Breuer, Greifswald

Prof. Dr. Wolfgang Eichler, Oldenburg

Dr. med. Inge Flehmig, Hamburg

Prof. Dr. W.D. Schäfer, Würzburg

Dr. med. Rüdiger Schönfeld, Oldenburg

Prof. Dr. med. Friedrich Specht, Göttingen


1) Entsprechend ist Legasthenie (Dyslexie, umschriebene Lese-Rechtschreibschwäche) unter Ziffer 315.0 in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten von 1979 (ICD 9) und im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders von 1980 (DSM 111) definiert.

 


Quelle: http://www.legasthenie.net/leg-definition.html (00-10-04)