I. Allgemeines zum Begriff "Kreativität"
Der Begriff "Kreativität" hat im Alltag eine unklare,
verschwommene Bedeutung, er wird geradezu inflationär mit
gänzlich beliebiger Bedeutung gebraucht, wobei es sogar in der
Fachliteratur teilweise gegensätzliche Definitionen gibt.
Oftmals wird Kreativität heute fälschlicherweise mit einem
"laissez-faire-Prinzip" gleichgesetzt oder gar als "Nichtstun"
bezeichnet und als gänzlich unfaßbar, nicht willentlich
beeinflußbar betrachtet. Diese Vorstellung fußt im
sogenannten "Kreativitätskult", einer anfänglichen
Vergötterung der Kreativität mit der damals weit
verbreiteten Ansicht, man dürfe speziell dem Verhalten des
Kindes keinerlei Grenzen setzen und müsse von jeglichen
"überkommenen Denkschemata" abkommen.
Heute geht man jedoch davon aus, daß ein gewisser Grad an
Autorität nötig ist und daß auch feste Schemata und
Fakten wichtige Voraussetzungen für Kreativität sind. Man
ist sich darüber einig, daß Kreativität nicht
gelegentliche, göttliche Inspiration, sondern beeinflußbar
und trainierbar ist und auf einem soliden Fachwissen beruht, das aus
der Anwendung herkömmlicher Lernleistungen resultiert (nach A.
Cropley, S.29).
Albert Einstein soll dazu gesagt haben: "Das Glück
begünstigt den wohlvorbereiteten Geist".
II. Geschichte und Entwicklung des Kreativitätsbegriffes
1. Historische Entwicklung
Das Phänomen der Kreativität (das man früher als
"das Schöpferische" bezeichnete) gilt zwar als so alt wie die
Menschheit selbst, wird jedoch erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts
wissenschaftlich betrachtet. Davor galt es als
"religiös-mystische Kategorie", als "Ausdruck göttlicher
Gnade oder Willkür" usw.(nach Th. Stocker, S.11).
Von der Antike bis zur Klassik galt der schöpferische Mensch als
nahezu vollkommen, als fast "gottähnliches Genie". Zur Zeit des
Realismus war vor allem der praktische Nutzen bedeutend, neben
Künstlern galten erstmals auch Wissenschaftler als "genial".
Erste psychologische Grundlagen für die Kreativitätsforschung wurden um 1900 durch den Funktionalismus (Angell, 1907) geschaffen, der später dann vom Behaviorismus (Stimulus - Response - Modelle; Versuch - Irrtum -Methoden) abgelöst wurde. Ab 1930 kamen auch einige Denk- und Persönlichkeitspsychologische Ansätze auf (z.B. von Woodsworth 1934, der in seinem "stimulus-organism-response"-Modell explizit die menschliche Aktivität berücksichtigte).
Die entscheidende Wende in der Kreativitätsforschung war jedoch der "Creativity" - Vortrag von Joy Paul Guilford 1950 in den USA. War zuvor das Phänomen der Kreativität eher "stiefmütterlich" behandelt worden ( von 1927 bis 49 waren von 121 000 psychologischen Arbeiten nur ca 186 Titel für die Kreativität relevant), so stieg das Interesse an der Kreativität und damit die Zahl der Publikationen nach diesem Vortrag explosionsartig an (vgl. Schaubild 1 im Anhang).
2. Gründe für den Kreativitätsboom
a) sozio-ökonomische Auslöser
Entscheidend war in diesem Bereich vor allem der durch den Start des ersten Satelliten in der UdSSR ausgelöste "Sputnikschock" in den USA, deren Position im weltpolitischen Konkurrenzkampf dadurch geschwächt schien. Man konzentrierte sich nun auf die Förderung neuer, nicht nur hochintelligenter, sondern vor allem kreativer Kräfte (Manager, Politiker, Wissenschaftler, usw.).
Bestimmend war auch der sogenannte "Zeitgeist" verschiedener
Institutionen, v.a. der Rüstungsindustrie und der amerikanischen
Luftwaffe, die das fragwürdige Ziel hatten, durch die
Wiedererlangung der alten Rüstungsüberlegenheit dem "Wunsch
nach Frieden" zu entsprechen.
Eine andere entscheidende Institution war und ist die Industrie, die
sich durch "brainstorming" und ähnliche Techniken eine bessere
Werbung und neue Verkaufsmöglichkeiten versprach, um damit den
Absatz zu steigern und den Gewinn zu erhöhen.
Außerdem kann man von einem "gesamtmenschlichen Bedürfnis" nach kreativen Ideen sprechen, um damit eventuell einen Ausweg aus einer sich andeutenden "Weltbedrohung" (durch Bevölkerungsexplosion, Umweltzerstörung, soziale Ungleichheit, nukleare Gefahr ) zu finden.
Aus heutiger Sicht läßt sich sagen, daß die Kreativität durch Rüstung und Industrie in den Dienst genommen wurde, daß sich aber die Hoffnung in die humanen Wirkkräfte noch nicht erfüllt hat.
b) wissenschaftliche Auslöser
Entscheidende Voraussetzungen waren hierbei die Überwindung der künstlerischen oder religiösen Mystifizierung, das Feststellen der Universalität kreativen Potentials und das Erkennen des größeren Spektrums der Kreativität gegenüber der Intelligenz.
Problematisch bei der Forschung war anfangs v.a. die Begrenztheit
des Behaviorismus auf das rein Beobachtbare, auf
Reiz-Reaktions-Verbindungen und auf Konditionierung, da kreatives
Denken zu komplex ist und so nicht erfaßt werden kann.
Auch bei einer testtechnischen Schematisierung (multiple-choice-Test
u.ä.) ist keine Kreativität möglich und
erfaßbar.
Es war also die Beseitigung dieser wissenschaftstheoretischen Barrieren und die Entwicklung neuer Methoden (z.B. Faktorenanalyse) nötig.
c) pädagogische Auslöser
Der Bedarfsdruck nach kreativem Verhalten bewirkte eine neue Bildungsvorstellung: Ziel der Bildung war nicht mehr der einseitig intelligente, gut angepaßte und konfliktfreie Mensch ("well-rounded-personality"), sondern die kreative, kritische und konfliktfähige Persönlichkeit.
Man wollte nun kreatives Verhalten fördern und zu diesem
Zweck eine starke Leistungsbetonung, einseitige Förderung
konvergenten Denkens und eine Bestrafung des
Nonkonformismus vermeiden.
Allerdings wiesen alle theoretischen Konzepte ein verkürztes
Verständnis von Kreativität auf und zielten von Anfang an
mehr auf eine selektive Hochbegabungsförderung ab.
Gisela Ulmann schreibt hierzu: "...Es war also von vornherein nur an
die Förderung einer kleinen Minderheit zur neuen Elite, die
Ablösung der 'high IQs' durch die 'Hoch-Kreativen' gedacht."
(aus Th. Stocker, S.21).
Hinderlich für wirkungsvolle Konzepte war teilweise sicherlich auch die Angst vor den "Folgen" der Kreativität, also vor systemkonträren, konfliktbereiten und daher "unbequemen" Menschen, die zu einem meist nur halbherzigen Interesse an der Kreativitätsförderung geführt hat.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß von den gehegten Hoffnungen einer reformfreudigen und liberalen Pädagogik nicht viel mehr als ein Trainingsziel übriggeblieben ist, das auf eine bestimmte "Form des Denkens" begrenzt bleibt.
III. Definitionsversuch/Begriffsbestimmung
Kreativität gilt als komplexes Phänomen, für das es
keine eindeutige, klärende Definition gibt. Der Wortursprung
liegt im lateinischen "creare", was "zeugen, gebären,
(er-)schaffen" bedeutet und auf einen Prozeß mit einer
bestimmten Dynamik (also mit Ursprung und Ziel) hinweist.
"Creativity" steht als eine Art Arbeitsbegriff, der verschiedene
frühere Begriffe vereint und der durch die seit 1950 stark
angewachsene experimentelle Forschung immer wieder einen neuen Sinn
erhält.
In der Kreativitätsforschung gibt es drei Hauptrichtungen,
wobei entweder beim kreativen Produkt, beim kreativen
Prozeß oder bei der kreativen Person angesetzt wird.
Mit Kreativität verbindet man meist Attribute wie "originell,
neu/trefflich, adäquat, ungewöhnlich, spontan, angemessen"
usw. oder auch Eigenschaften wie "Offenheit, Produktivität,
Flexibilität, Erfindungsgabe" u.ä.. Als Synonyme verwendet
man häufig die Begriffe Genialität und
Originalität.
Grundsätzlich stellt sich jedoch immer die Frage nach dem
jeweiligen Bezugsrahmen:
Für WEN ist etwas neu, originell, wertvoll, etc.? Für das
Individuum, für die Gesellschaft, für eine bestimmte Kultur
oder gar für die gesamte Menschheit?
A. Cropley weist darauf hin, daß neben Intelligenz und
Intellekt auch Wille und Selbstvertrauen nötig sind (also
motivationale und emotionale Faktoren). Er sieht Kreativität als
"Weg zur Wahrung der Menschenwürde" und betont die Abgrenzung
des Menschen zu Maschinen und Computern durch das kreative Denken (A.
Cropley, S.26).
Kreativität ist für ihn die "Fähigkeit, möglichst
viele Ideen zu bilden" (S.53) und wird
hauptsächlich durch vier Faktoren bestimmt (S.30):
solides Fachwissen, Begabung, Gelegenheit, Fleiß/Zielstrebigkeit
Nach Erika Landau gibt es eine gemeinsame Fähigkeit der verschiedenen kreativen Prozesse: "...die Fähigkeit, Beziehungen zwischen vorher unbezogenen Erfahrungen zu finden, die sich in der Form neuer Denkschemata als neue Erfahrungen, Ideen oder Produkte ergeben.... Dieses kreative Potential ist jedem Individuum gegeben und kann in jeder Lebenssituation angewandt werden" (E. Landau, S. 14).
H. Roth definiert speziell die "Kreativität des Alltags"
folgendermaßen:
"Wer zur rechten Zeit einen Zaun in eine Leiter zu verwandeln
versteht, einen Vorhang in ein Kleid, eine Kiste in einen Tisch,
einen Lappen in eine Puppe, ein Mikroskop in eine Waffe, handelt im
Augenblick kreativ" (in: Th. Stocker, S.28).
IV. Die kreative Person
Als charakteristisch für eine kreative Person gilt z.B. eine
offene Haltung der Umwelt gegenüber, Kritikfähigkeit,
Flexibilität, Begeisterungsfähigkeit, viel Initiative und
Originalität.
Sie ist im allgemeinen unkonventionell, energisch und mutig, hat eine
Vorliebe für Neues, arbeitet ausdauernd an Lösungen, ist
autonom, reif, emotional stabil und dominant.
Allerdings werden dem kreativen Menschen auch soziale
Introvertiertheit, weniger ausgeprägte soziale und
religiöse Werthaltungen und Aggressivität
nachgesagt.
Gisela Ulmann behauptet sogar, kreative Menschen wären
notwendigerweise "unsozialisierbar" und "asozial" (G. Ulmann,
S.44).
Erika Landau bezeichnet die kreative Person als unabhängiger
im Urteil, als selbstbewußter und narzistischer, sowie als
wehrhaft gegen Unterdrückung und Einschränkung. Sie spricht
ihr einen poetischen Sinn zu und betrachtet als motivationale
Faktoren
- einen angeborenen Drang
- unbefriedigte Bedürfnisse
- einen Kommunikationsdrang
- Neugier bzw. einen Drang zum Neuen (nach E. Landau,
S.16/17).
A. Cropley betont auch ein "Gespür für Komik" bzw. eine "Vorliebe für Humor" bei kreativen Menschen (aus: H.z.Oeveste, S.263).
V. Kreatives Denken
"Wir lernen, nach Guilfords Modell, indem wir Einheiten bzw. Klassen bilden, wir werden uns der Systeme durch Herstellung von Beziehungen bewußt und erreichen dadurch Transformationen des Erfahrenen. Kreatives Denken ist also Erkenntnis (cognition) der Beziehungen, die zwischen den Informationen bestehen" (E. Landau, S.34).
"Kreatives Denken" vereinigt alle Bedeutungen des Begriffes "Denken", wie z.B. erinnern, planen, etwas glauben, überlegen, meditieren oder vorstellen.
Erika Landau spricht von einer "bipolaren Aktivität zwischen Logik und Phantasie" (S.114/115; vgl. auch Schaubild 2 im Anhang).
Das größte Problem beim kreativen Denken ist, daß
zu viele Konventionen die Phantasie einschränken. Konformes
Denken gilt als sicher, bekannt und akzeptiert, kreatives hingegen
ist "unsicher". Aus konformem Denken kann jedoch leicht mechanisches
Denken, also Denken in Stereotypen werden, was zu Unlust und
Langeweile führen kann.
Ein weiteres Hindernis kann zu früh einsetzende Kritik sein,
denn "unzensiert aufkeimende Assoziationen" dienen als "Rohmaterial
für kreatives Denken" (E. Landau, S.115).
Auch zu starke Betonung der Originalität kann sich hemmend
auswirken, da evtl. ein nicht-kreativer Leistungsdrang entstehen
kann.
Wichtig für kreatives Denken ist eine bewußte intrapersonelle Kommunikation, die man durch die Anregung zu vielen unterschiedlichen Assoziationen erreichen kann, um dadurch die eigene Erlebnis- und Gefühlswelt zu erweitern und seine "Selbstaktualisierung" zu vollziehen, was letztlich zu Individuation und Autonomie führt.
VI. Das kreative Produkt
Guilford unterscheidet zwei Arten des kreativen Produktes:
- greifbare und von der Kultur anerkannte Produkte und
- "psychologische Produkte" (ausgedrückte oder auch nur
gedachte Ideen)
Für Brogden und Sprecher (1964) ist entscheidend für ideelle kreative Produkte, daß sie neu und der Realität angepaßt sind (Brauchbarkeit). Allerdings stellt sich auch hier wieder die Frage des Bezugsrahmens (nach E. Landau, S.18/19).
Laut Preiser liegt der "Angelpunkt einer
Kreativitätsdefinition...eindeutig beim Ergebnis, beim kreativen
Produkt,..., bei der sichtbaren oder erfahrbaren Idee" (in: Stocker,
S.22f.).
Produkte können übermittelt werden und sind nicht an die
Existenz des Produzenten gebunden.
Problematisch ist hierbei allerdings, daß sich für die
Neuheit und Brauchbarkeit eines Produktes kein allgemeingültiger
Bezugsrahmen finden läßt, damit keine Objektivität
erreicht werden kann und somit die produktorientierte Forschung
zwangsläufig unwissenschaftlich wird.
Man hält allerdings trotzdem an diesem Ansatz fest, da für
die nach Profit strebende Industrie (die ja ein Hauptauslöser
der Kreativitätsforschung war) eben das Produkt entscheidend
ist.
Stocker fordert zur Schaffung von mehr Objektivität die Einbeziehung konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse und geschichtlicher Hintergründe (v.a. um die Interessen der jeweiligen Institutionen klar herauszustellen).
Heutzutage ist man sich in der Kreativitätsforschung
weitgehend darüber einig, daß v.a. in der Schule nicht das
Produkt, sondern der Prozeß im Mittelpunkt stehen sollte.
Gisela Ulmann sagt hierzu: "Das Werk des Kindes muß als
Ausdruck seiner selbst verstanden werden und deshalb nicht - etwa
durch Zensuren - mit den Werken anderer Kinder verglichen werden."
(in: Stocker, S.29).
Es wird also eine Abkehr von fest formulierten Leistungszielen, von einer Erfolgs- und Ergebnisorientierung (mit entsprechender Fehlerbestrafung) gefordert, da diese die Entfaltung kreativen Verhaltens einschränken. Nicht die Produkte und ihr Nutzen für die Gesellschaft sollten entscheidend sein, sondern die Träger dieser Produkte und damit das Wohlergehen des Individuums.
Stocker fordert deshalb speziell von der anthropozentrischen Pädagogik, daß als Ziel nicht die Produktivitätssteigerung, sondern die allseitige Entwicklung und Ausbildung jeder einzelnen Persönlichkeit deklariert wird. Kreativität sollte den Menschen glücklicher machen (nach: Stocker, S.30/31).
VII. Kreativität und Intelligenz
Ein wesentlicher Anstoß für die moderne Kreativitätsforschung war die Entdeckung, daß das traditionelle, weitgehend am IQ orientierte Intelligenzkonzept nur einen Teil der intellektuellen Fähigkeiten abdeckt.
Auch wenn sich aus der Forschung heraus keine eindeutige
Korrelation zwischen Kreativität und Intelligenz feststellen
läßt, so kann man doch sagen, daß Kreativität
weit über den Intelligenzbegriff hinausgeht. Intelligenz alleine
ist keine hinreichende Voraussetzung für Kreativität. Beide
Begriffe sind Abkürzungen für jeweils sehr komplexe
Phänomene (die allerdings Querverbindungen aufweisen) und werden
voneinander unabhängig gebraucht.
Bei einem Vergleich lassen sich folgende Unterschiede feststellen:
(nach G. Ulmann, S104/105)
- Intelligenz soll nicht befähigen, Probleme zu
entdecken
- bei der Intelligenzforschung sollen die Probleme eine gewisse
Schwierigkeit haben
- bei der Intelligenz ist die Abstraktheit des Denkens
wichtig
- bei Intelligenztests wird nur eine richtige Lösung
gesucht (bei Kreativitätstest sucht man
mehrere gute Lösungen)
Als Gemeinsamkeiten lassen sich festhalten:
- Probleme verschiedenster Art sollen gelöst werden
- neue Wege sollen gegangen werden
- auf bereits vorhandene Probleme soll adäquat reagiert
werden (d.h.
ökonomisch,
zielgerichtet, sozial wertvoll).
VIII. Das Intelligenz-Struktur-Modell von Joy Paul Guilford
Das Hauptanliegen Guilfords war die Entwicklung einer einheitlichen Theorie, die die bekannten speziellen oder primären intellektuellen Fähigkeiten zu einem einzigen System zusammenfaßt (siehe Schaubild 3 im Anhang).
Das Modell weist drei Dimensionen auf:
- Denkoperationen (unterteilt in fünf Kategorien bzw.
Klassen)
- Denkinhalte (vier Kategorien)
- Denkprodukte (sechs Kategorien)
Alle diese einzelnen Faktoren sind beliebig miteinander kombinierbar, es gibt also 5x4x6=120 Kombinationen bzw. Intelligenzfaktoren. Jeder dieser Faktoren ist das Ergebnis des Zusammenwirkens der drei Dimensionen des Intellekts. Bis heute wurden allerdings erst ca. 100 Faktoren praktisch nachgewiesen.
Wichtig sind für Guilford vor allem die Funktionen der "divergenten Produktion" und der "Transformationen". Auch für Guilford heißt "kreativ denken" vor allem divergent denken (also finden einer Vielzahl von richtigen und angemessenen Lösungen zu einem Problem).
Kreatives Verhalten wird für ihn aber auch geprägt von
emotionalen, motivationalen und sozialen Faktoren sowie in gewissem
Maße auch von konvergentem Denken.
Guilford postulierte acht intellektuelle Fähigkeiten, die er als
entscheidend für Kreativität hielt:
1. Problemsensitivität (die Fähigkeit, Probleme zu
entdecken)
2. Flüssigkeit (möglichst viele Ideen in einer
bestimmten Zeit produzieren)
3. Flexibilität (verschiedene, v.a. ungewohnte Denkwege
gehen)
4. Originalität (ungewöhnliche und ausgefallene
Lösungsansätze finden)
5. Neudefinition (Objekte neu und ungewohnt interpretieren und
zu ganz neuen Zwecken benutzen)
6. Elaboration (Ideen durchdenken und einen konkreten Plan
ausarbeiten)
7. Analyse (komplexe Gegenstände in ihren Bestandteilen
erkennen)
8. Synthese (Teile zu einem Ganzen organisieren)
Obwohl Guilfords Modell einige methodische Mängel aufwies (z.B. einseitige Stichprobenauswahl, zu viel Gewicht auf Schnelligkeit bei der Aufgabenbearbeitung,...), hat er doch beachtliches geleistet. Er stellte das bisher umfassendste Konzept menschlicher Denkfähigkeiten auf, mit dem er weit über das bis dahin geltende eindimensionale Intelligenzverständnis hinauskam. Er räumte dem kreativen Denken einen expliziten Platz im Intellekt ein, und zwar als individuell variable, normalverteilte menschliche Eigenschaft.
Mit seinem konsequenten Versuch, die theoretisch deduzierten kreativen Fähigkeiten empirisch zu sichern, legte er die Grundlage für viele weitere Forschungen.
IX. Kreativitätsfördernde Methoden
Grundlage für kreatives Verhalten ist allgemein die Stimulation von Ideen. Hilfreiche Methoden können hierbei z.B. sein (nach A. Cropley, S.89ff.):
- synektisches Denken (durch Verfremdung von Bekanntem bzw.
Sich-Vertraut-Machen von Unbekanntem
können neue Zusammenhänge geschaffen werden)
- Umkehrung des Problems (Änderung der
Betrachtungsweise)
- Konzentration auf die dominante Idee
- Durchbrechung von Denkhemmungen (Bsp.: "Ei des Kolumbus")
Grundsätzlich wichtig ist dabei auch ein spielerischer Umgang
mit Ideen und eine gezielte Nutzung der Phantasie.
Spezielle Techniken können beispielsweise folgende sein:
- Speicherung von Ideen (Notizblock, Zettelkästen,
usw.; allerdings ohne Bewertung!)
- "Geräuschgeschichten" (schwer erkennbare Geräusche
vom Tonband sollen
in
Zeichnungen, Geschichten oder Bewegungen umgesetzt werden)
- Brainstorming (sich ein Problem vorstellen und lösen,
eventuell darüber
diskutieren; wichtig
ist auch hierbei ein Verzicht auf jegliche Bewertung)
- Verbesserung von Gegenständen
- Verwendungsmöglichkeiten ausdenken
- Ergänzen von Zeichnungen
- Erfinden von Symbolen für bestimmte Wörter
- Parodieren
- Phantasieapparaturen erfinden, usw.
Entscheidende Voraussetzung ist hierbei immer die grundsätzliche Fähigkeit, überhaupt Probleme erkennen zu können.
X. Fazit / Heutige Situation
Das Phänomen der Kreativität kann nur umschrieben, nicht
aber objektiv und eindeutig definiert werden, auch nicht unter dem
Aspekt des kreativen Produkts.
Kreativität ist ein allgemeines Gattungsmerkmal des Menschen und
womöglich der wesentliche Ausdruck der menschlichen Entwicklung.
Vor allem die humanistische Psychologie geht davon aus, daß
Kreativität "ein universell verbreitetes Grundbedürfnis der
menschlichen Gattung" ist (Stocker, S.225).
Solche Ansätze finden bis heute allerdings nur sehr geringe
praktische Beachtung und Anwendung. Es herrscht eine Dominanz des
neopositivistischen Konzepts vor, das um einer
Scheinobjektivität willen auf die gesellschaftliche und
historische Analyse verzichtet. Dadurch bleiben eventuelle
egoistische, mißbrauchende Interessen der Industrie und
Rüstung (Absatzsteigerung, weltpolitische
Überlegenheit,...) weitgehend unerkannt und wirken sich
unreflektiert auf die psychologische Kreativitätsforschung
aus.
Stocker spricht von einer "Indienstnahme des inneren Zwangs (nach
Kreativität) für externe Ziele" (S.228).
Nicht die spontane Flexibilität wird gewünscht und
gefördert, sondern die adaptive (d.h. unter Anweisung zu
produzieren).
Im pädagogischen Bereich spricht Stocker von einer
Resignation aufgrund der Wirkungslosigkeit der Kritik an Noten und
Erfolgsorientierung. Er beklagt den generellen Einflußmangel
der wissenschaftlichen und praktischen Pädagogik auf das
politisch bestimmte Bildungsgeschehen. Er wirft der Pädagogik
vor, keine wesentlichen eigenen Ansätze zur Aufarbeitung und
Klärung des Kreativitätsbegriffes entwickelt, sondern die
produktorientierten psychologischen Konzepte der amerikanischen
Forschung übernommen und integriert zu haben.
Ziel dieser Forschung sei, "Kreativität als Spezialleistung
ausgesuchter Individuen heranzuzüchten und in den Dienst
vorgegebener Ziele zu zwingen" (Stocker, S.235).
Stocker fordert deswegen, in der Kreativitätsforschung humane
und demokratische Zielsetzungen zu verwirklichen und den Menschen als
Ziel, nicht als Mittel zu sehen.
Nicht der "homo oeconomicus" sollte das Leitbild sein, sondern der
mündige, emanzipierte schöpferische Mensch
(S.263).
XI. Literaturliste
1. Thomas Stocker: "Die Kreativität und das Schöpferische", Brandes & Apsel-Verlag, Frankfurt, 1988
2. Erika Landau: "Kreatives Erleben", Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel, 1984
3. Gisela Ulmann: "Kreativität", Verlag J. Beltz,Weinheim, Berlin, Basel, 1968
4. Arthur J. Cropley: "Unterricht ohne Schablone - Wege zur Kreativität", Otto Maier Verlag, Ravensburg, 1978
5. H.z. Oeveste/W. Wieczerkowski: "Lehrbuch der Entwicklungspsychologie, Band 2", Pädagogischer Verlag, Schwann, 1982
6. Ulrich Beer/Willi Erl: "Entfaltung der Kreativität", Katzmann Verlag KG,Tübingen, 1972
7. Siegfried Preiser: "Kreativitätsforschung", Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1976
8. Joachim Sikora: "Handbuch der Kreativmethoden", Quelle & Meyer, Heidelberg, 1976
9. Brigitte Bodens: "Sozialisationsbedingungen für Kreativität", Bonn, 1972