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Pointiert rechnet John Dewey in seinem Werk von 1929, "Suche nach Gewißheit", mit dem Hauptstrom okzidentalen Denkens ab. Die Kritik, die die Philosophie der Aufklärung an der Religion geübt hat, wird darin auf die Philosophie selbst ausgeweitet. 

Das Pathos der Praxis

Von Wolfgang Müller-Funk

Wenn man den Auguren der Zeitläufte Glauben schenken darf, dann trudeln wir gegenwärtig durch philosophisch dürftige Zeiten. Das traditionelle Territorium der Philosophie ist abgegrast, und der Triumph der Skepsis läßt den Geist des deutschen Idealismus wie den Szientismus des Wiener Kreises als anachronistisch erscheinen. Vor diesem Hintergrund muß man den Versuch betrachten, jene geistige Strömung wiederzubeleben, die kontinentaleuropäisch kaum Spuren hinterlassen hat. 

Die Rede ist vom amerikanischen Pragmatismus, um dessen Reaktivierung sich in jüngster Zeit vor allem der postmoderne Philosoph Richard Rorty bemüht hat. Während diese Strömung durch Denker wie Charles Sanders Peirce (1839 bis 1914), William James (1842 bis 1910), George Herbert Mead (1863 bis 1931) und eben John Dewey (1859 bis 1952) in den Vereinigten Staaten zu einer geistigen Großmacht avancierte und der spezifisch US-amerikanischen kulturellen Befindlichkeit theoretischen Ausdruck verlieh, ist er von Friedrich Nietzsche bis Martin Heidegger, von Edmund Husserl bis Jean-Paul Sartre in Europa stets im Schatten anderer philosophischer Strömungen gestanden. 

Nicht erst seit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno stand die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus unter dem ideologiekritischen Verdacht, eine bloß instrumentelle und flache Vernunft zu sein, die keinen kritischen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit eröffnet. Richtig daran ist, daß die Philosophie Deweys von der Emphase von Aufklärung und technischem Fortschritt durchdrungen ist. Deweys sozialreformerischer und pädagogischer Impuls, der ihn zeitweilig zum Praeceptor Americae machte, zeigt deutlich die sozialkritischen Implikationen seines Denkens. Der Name "Pragmatismus" (von griechisch pragma: Tat, Handlung) enthält das Versprechen der gesellschaftlichen Veränderung. 

Nach "Kunst und Erfahrung" und "Erfahrung und Natur" legt der Suhrkamp Verlag nun ein weiteres Hauptwerk des einflußreichen Philosophen Dewey vor: "Die Suche nach Gewißheit" (1929). Zwei Jahre nach Heideggers epochalem Opus "Sein und Zeit" (1927) erschienen, lassen sich kaum zwei Werke ausmachen, die sich in Duktus, Sprache, Diktion mehr voneinander unterschieden - und das, obwohl beide auf einen Rundumschlag gegen die gesamte abendländische Denktradition abzielen. Pointiert und kompromißlos rechnet Dewey in der "Suche nach Gewißheit" mit dem Hauptstrom okzidentalen Denkens ab, insbesondere mit der Feindschaft der Philosophie gegen die Praxis: "Nachdem eine typische Intellektuellenklasse entstanden war, eine Klasse, die Muße hatte und weitgehend gegen die ernsteren Gefahren geschützt war, welche die Masse der Menschheit bedrohten, gingen ihre Mitglieder dazu über, ihre eigenen Aufgaben zu glorifizieren." 

Eine gewisse Nähe zu marxistischen Positionen ist hier kaum zu übersehen, auch wenn Dewey Karl Marx mit keinem Wort erwähnt: der Hinweis etwa auf die Klassenprivilegiertheit der Intellektuellen, die Abneigungen gegen die Muße, das Pathos der Praxis, die Feindschaft gegen die Glorifizierung des Denkens als eines Selbstzwecks. Die Kritik, die die Philosophie der Aufklärung an der Religion geübt hat, wird nun auf die Philosophie selbst ausgeweitet. Sie erzeugt, so lautet das polemische Diktum, ein Pantheon ewiger dogmatischer Wahrheiten, die von ihrer sozialen Umgebung abgelöst sind. Wie die aufklärerische Philosophie der institutionell verfaßten Religion ein Ende bereiten wollte, so zielt auch das pragmatistische Projekt auf ein spezifisches Ende der Philosophie, auf ein Denken, das bodenlos im schlechten Sinn des Wortes ist. Diese Bodenlosigkeit hingegen war es - so die Pointe von Deweys Überlegungen - , die ihr Prestige ausmachte. Denn in einer materiell wie geistig unsicheren Welt versprach sie Unwandelbarkeit und Unveränderlichkeit, eine trügerische Gewißheit, wie sie zuvor Religion und Mythos versprochen hatten. Bei der Lektüre der "Suche nach Gewißheit" mag einem die berühmte These von Marx über Ludwig Feuerbach in den Sinn kommen, daß die Philosophen nur die Welt interpretiert hätten, daß es aber darauf ankäme, sie zu verändern. 

Aber trotz dieser verblüffenden Parallele zwischen Marx und Dewey (die wohl damit zusammenhängt, daß beide dem Sozialen und der Gesellschaft Vorrang einräumen) weicht Deweys Konzept an entscheidender Stelle vom Marxschen Materialismus ab. In Deweys Augen stellt nämlich auch die Interpretation der Philosophie der Wirklichkeit eine Praxis dar, eine "Praxis der Erkenntnis", obwohl das die klassische Philosophie nie hat wahrhaben wollen. Deshalb sind ihre Interpretationen, gemessen am jeweiligen sozialen Kontext, unzulänglich geblieben. Das griechische Denken war vornehmlich ein "Augenspiel", kontemplativ und anschaulich, das heißt auch: am tätigen Eingriff desinteressiert.

Erst mit den neuzeitlichen Wissenschaften tritt ein Denken zutage, das programmatisch Praxis ist. Es begreift sich zum einen selbst - ähnlich wie die Künste und das Handwerk - als operational und experimentell und setzt sich zum anderen der Gefahr des Scheiterns und des Irrtums aus. Gerade hier zeigt sich, daß Dewey in seinem zuversichtlichen Blick auf Mensch, Geschichte und Technik einem sehr traditionellen Denken verhaftet ist. Er folgt der großen "Erzählung" (Lyotard) des technischen Fortschritts, die Technik als ein essentielles ethisches Tun begreift. Die Naturwissenschaft beschert dem Menschen durch ihre Ergebnisse und Anwendungen zum ersten Mal in der Geschichte ein gewisses Maß an Sicherheit und läßt die Pseudosicherheit der letzten Wahrheiten der Philosophie als illusorisch erscheinen. Der Fortschritt in Gestalt der neuen Wissenschaften besitzt selbst eine normative Qualität. Deshalb möchte Deweys rigoroser Antidogmatismus alle ethischen Fragen aus einem abstrakten Normenkatalog herauslösen und als gesellschaftliche Operation betrachten und bewerten. An diesem Punkt trifft sich der Pragmatismus mit der angelsächsischen utilitaristischen Ethik. Es ist schwer vorstellbar, daß man - nach den Erfahrungen mit der heutigen Waffen- und Großtechnologie - der pragmatistischen Ethik wird folgen können. Wogegen und wofür man im Streit um Großtechnologien ist, hängt augenscheinlich davon ab, ein wie "abstraktes" Bild man vom Menschen hat. Der Handlungsbegriff, dem der Pragmatismus verpflichtet ist, bleibt überraschend vage. Er wird als gegebene Größe vorausgesetzt, als jener Begriff, der eine Alternative zwischen Idealismus und Materialismus eröffnet. Dabei ist die von Dewey formulierte Einsicht, die Mathematik nicht bloß - wie Ernst Cassirer - als symbolische Form zu begreifen, sondern sie als eine symbolische Handlung zu bestimmen, das heißt: als ein Nicht- Handeln, das ein Handeln darstellt und impliziert, überaus bedenkenswert. Da er aber an keiner Stelle eine phänomenale Analyse des Handelns und der Handlung vornimmt, gelingt es Dewey nicht, das Spezifische philosophischen "Handelns" genauer zu bestimmen. 

So entläßt Deweys Buch von 1929 den deutschsprachigen Leser von 1998 mit einem zwiespältigen Gefühl. Unzeitgemäßes und überraschend Zeitgemäßes kreuzen einander. Philosophiegeschichtlich erstaunlich ist, daß Dewey 1929 ein umfangreiches Werk vorlegen konnte, das sich kritisch mit "der modernen Philosophie" befaßte, ohne sich jemals mit anderen philosophischen Strömungen seiner Zeit - etwa der Phänomenologie, der Lebensphilosophie im Gefolge von Nietzsche und Bergson oder mit der Psychoanalyse - auseinanderzusetzen. So tritt uns ein auch historisch allwissender Autor gegenüber, der noch einmal im Gestus und in der Diktion Vicos oder Condorcets in großen Linien über "den Menschen" philosophiert, einer, der genau weiß, was es mit der Welt auf sich hat. 

Aus kontinentaleuropäischem Blickwinkel liegt der Verdacht nahe, daß das Buch schon 1929 zu spät erschienen ist. Das betrifft auch die Inkonsequenz, trotz aller Kritik an der abendländischen Philosophie, traditionelle Kategorien wie Subjekt, Objekt oder Gegenstand fortzuschreiben, anstatt sie im Einklang mit der Hauptthese von der Prozessualität der Welt zu modifizieren und zu "dekonstruieren". Deweys Beobachtung, daß Kant nicht eine kopernikanische Wende bezeichne, sondern eine ptolemäische (weil die Welt sich ganz auf das Erkenntnisvermögen eines transzendenten Subjekts einengt), ist zwar feinsinnig, die Bezugnahme auf das Handeln stellt sich indes als ungeeignetes Instrumentarium heraus, über Kant hinauszugelangen. 

Richard Rortys runderneuerter ironisch-postmoderner Pragmatismus hat diese Mängel des klassischen Pragmatismus eher unter der Hand behoben. So kann heute der amerikanische Pragmatismus einen postmodernen Denkrahmen speziell für einen Linksliberalismus abgeben, den der Idealismus des Habermasschen Denkens ebenso irritiert wie die Verstiegenheiten eines Dekonstruktivismus, dem jedweder soziale Weltvollzug abhanden gekommen zu sein scheint. Zwar rückt im vorliegenden Buch die Welt der Kunst und des Ästhetischen kaum ins Blickfeld, nicht zuletzt, weil Dewey der ästhetischen Weltentfernung, etwa im griechischen Denken, die Habhaftigkeit und Welthaltigkeit der modernen Naturwissenschaften gegenüberzustellen sucht. Aber letztlich ist das ästhetische Experimentieren in der Welt der Metaphern, Signifikanten, Symbole und Ideogramme, wie es die Avantgarden vorgeführt haben, mit dem pragmatischen Weltbild vereinbar (wenn dabei auch deren Unglückserfahrung ausgespart wird). 

Sogar ein extrem antipragmatistischer Denker wie Theodor W. Adorno hat - in der "Ästhetischen Theorie" - Deweys Kategorie des Ungewissen ein positives Moment abzugewinnen vermocht. Das Verhältnis des Pragmatismus zum Denken bleibt zwiespältig. Seine latent protestantische Abneigung gegen das L'art pour l'art der Philosophie, sein Ressentiment gegen die Muße und den Luxus des "reinen" Denkens läuft auf die Reduzierung einer wichtigen Dimension des Philosophischen hinaus; indem er aber das Denken - in Analogie zu den Künsten - als einen schöpferischen und konstruktiven Akt des Handelns interpretiert, bereichert er das Denken um eine prozessurale, wenn man so will, um eine erotische Dimension. Daß der Pragmatismus Deweys untragisch ist, teilt er mit der Hauptströmung des Postmodernismus. Seine Absage an die Wahrheit(en) der Philosophie, sein Plädoyer für Offenheit und Kontingenz schließt im Falle Deweys den gesellschaftspolitischen Einsatz mit ein. 

Immer zielt ein Denken, das den falschen Gewißheiten der Philosophie entsagt und sich mit den relativen der Wissenschaften begnügt, den Ehrgeiz mit ein, Probleme im Konkreten zu lösen. Der merkwürdig unterbelichtete Handlungsbegriff, auf den Dewey rekurriert, ist ein normativer, nicht so sehr ein epistemologischer Bezugspunkt. Er trägt positive Konnotationen in sich so wie der Marxsche Begriff von "Praxis". Das macht ihn für politisch denkende Menschen, denen die Radikalität des Marxismus hohl vorkommt, so anziehend. Deweys Konzept des Handelns, das die Künste als symbolische Ersatzhandlungen integriert, bezieht die nicht mehr ganz so moderne Ästhetik in das nüchterne Pathos von Sozialphilosophie und "fortschrittlicher" gesellschaftlicher Ethik ein. 

Selten zuvor ist ästhetischer, ökonomischer und sozialer Fortschritt so nahtlos aufeinander bezogen worden wie im Oeuvre John Deweys. 

John Dewey
Die Suche nach Gewißheit 
Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, 320 S., geb., S 496, Euro 35,9 (Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main)


Quelle: Die Presse vom Samstag, 7. November 1998
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