Über das, was im Gehirn passiert, wenn wir vergessen, gibt es im Wesentlichen zwei Theorien.
Wenn die Gedächtnisspur, wie die erste Theorie behauptet, irgendwann einmal abgebaut würde, dann sollte man umso mehr vergessen, je mehr Zeit seit dem zu erinnernden Ereignis vergangen ist. Dies konnte bisher jedoch nicht gezeigt werden. Im Gegenteil:
Ein holländischer Gedächtnisforscher wiederlegte die Theorie in einem Selbstversuch. Er notierte seine Erlebnisse täglich auf Karteikarten. Sechs Jahre späer fragte ihn seine Sekretärin nach den Ereignissen jedes Tages. Manchmal brauchte er starke Hilfen, um sich zu erinnern. Zum Beispiel verriet sie ihm, mit wem er an einem bestimmten Tag gesprochen hatte. Dann konnte er sich gut an den Gesprächsinhalt erinnern. So konnte der Wissenschaftler sich an jeden Tag der vergangenen sechs Jahre erinnern. Keine einzige Gedächtnisspur war also ausgelöscht.
Die Theorie von der Überlagerung oder Störungen durch neue Informationen scheint das Vergessen besser zu erklären. Wir vergessen demnach bestimmte Ereignisse und Dinge, weil sie von interessanteren, wichtigeren Dingen überlagert werden.
Die meisten Menschen führen einen ständigen Kampf gegen das Vergessen. Ob es die Telefonnummer ist oder ein Name, an den man sich nicht mehr erinnert, das Gedächtnis scheint sehr unzuverlässig zu sein. Dabei gibt es meist einen einfachen Grund für unsere Alltagsvergeßlichkeit: Unsere Lebensweise. Streß ist der größte Risikofaktor für Vergeßlichkeit. Wer andauernd zuviele Eindrücke aufnehmen und speichern muß, der ist anfälliger dafür, einiges davon zu vergessen.
Neben dieser eher psychologischen Ursache gibt es eine weitere Erklärung für den Erinnerungsverlust. Zu hohe Konzentrationen des Streßhormons Cortisol schädigen wahrscheinlich die Nervenzellen im Gehirn. Die Produktion des Cortisols geht im Gehirn von einer ganz bestimmten Hirnregion aus, dem Hypothalamus. Ein Botenstoff signalisiert der Nebenniere, Cortisol auszuschütten. Das Streßhormon hat eine wichtige Funktion: In einer Gefahrensituation bereitet es den Körper darauf vor, entweder zu kämpfen oder zu fliehen. Damit es nicht zum Dauerstreß kommt, wirkt das Streßhormon auf den Hypothalamus zurück und stoppt damit seine eigene Produktion.
Was passiert, wenn diese Kontrolle nicht funktioniert, zeigt sich zum Beispiel bei Menschen, die Depressionen haben. Bei ihnen reagiert der Hypothalamus nicht mehr auf das Cortisol. Die Folge: Immer mehr Cortisol im Gehirn und damit Dauerstreß - mit negativen Auswirkungen auf das Gedächtnis. Vor allem bei älteren Menschen mit Depressionen können die Gedächtnisleistungen stark abnehmen. Diese Entwicklung ist allerdings umkehrbar - sind die Depressionen weg, funktioniert auch das Gedächtnis wieder so wie vorher.
Daß Streß wirklich vergeßlich macht, das haben Forscher des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie an Mäusen gezeigt. Durch einen gentechnischen Eingriff ist im Gehirn der Mäuse die Streßregulation ausgefallen - und sie sind deshalb extrem vergeßlich. Das konnten die Wissenschaftler durch einen Gedächtnistest zeigen: Sie füllten ein rundes Becken mit Wasser und stellten eine Plattform an eine ganz bestimmte Stelle. Normale Mäuse erinnerten sich nach einigen Trainingsrunden daran, wo die Plattform war - sie schwammen sofort darauf zu. Anders die Streß-Mäuse: Auch nach vielen Übungsrunden fanden sie die Plattform höchstens zufällig.Außer Menschen mit Depressionen gibt es noch eine andere Gruppe, die erhöhte Streßwerte hat: Marathonläufer. Anscheinend ist vor allem bei älteren Läufern durch die ständige körperliche Belastung der Cortisolspiegel im Gehirn höher als normal. Bei Gedächtnistests schnitten diese älteren Läufer deutlich schlechter ab als Vergleichspersonen - ein weiterer Hinweis über den Zusammenhang von Streß und Gedächtnis.
Eine interessante Studie des Londoner Neuropsychologen Neil Martin zeigte die Wirkung verschiedener Düfte auf die Gehirnaktivität des Menschen. Möglicherweise kann durch Riechen an bestimmten Aromastoffen die Gedächtnisleistung beeinflußt werden.
Ältere Menschen klagen häufig über ein nachlassendes Gedächtnis und mangelnde Aufmerksamkeit. Sie haben vor allem Schwierigkeiten beim Einprägen neuer Informationen. Die Gedächtnisstörungen sind ein Teil des normalen Alterungsprozesses und individuell sehr verschieden. Die Ursache ist noch unklar. Es wird vermutet, daß entweder die Inhalte nicht tief genug verarbeitet werden oder daß alte Menschen die Fähigkeit verlieren, unbewußt Gedächtnistricks anzuwenden.
Der Abbau des Gedächtnisses im Alter könnte eine Anpassung an die sich wandelnden Aufgaben sein, die das Gedächtnis in verschiedenen Lebensabschnitten erfüllen muß. In jungen Jahren sind Gedächtnisfähigkeiten wie das schnelle Aufnehmen und Behalten von Informationen wichtig, denn Kinder müssen viel Neues lernen - vom Erkennen der Eltern über die Nahrung bis hin zum Schreiben, Lesen oder Binden von Schnürsenkeln. Und hierfür brauchen die Heranwachsenden einen möglichst schnellen Speicher mit viel Platz. Im Laufe des Lebens nimmt die Erfahrung im Umgang mit neuen Eindrücken zu. Jetzt werden mehr und mehr Strategien angewendet, die dazu dienen, Informationen zu filtern und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Der Erwachsene ist in der Lage, aus der Fülle der auf ihn einströmenden Eindrücke und Situationen diejenigen auszuwählen und abzuspeichern, die er für wesentlich erachtet - sein Gedächtnis nutzt die Lebenserfahrung.
Wissenschaftler der Universität Potsdam untersuchen den Altersabbau bei ganz speziellen Gedächtnisleistungen und versuchen herauszufinden, ob sich der Altersabbau durch Training stoppen läßt.
Zum Beispiel bei Pianisten: Ein Konzertpianist kann ein Musikstück in verschiedenen Variationen spielen, indem er die Lautstärke und die Abfolge einzelner Töne von Variation zu Variation verändert. Diese verschiedenen Interpretationen ein- und desselben Stückes kann er mühelos wiedergeben, denn sein Gedächtnis hat sie zuverlässig gespeichert. Diese Fähigkeit nimmt jedoch mit dem Alter ab. Ältere Konzertpianisten spielen bei jeder Wiederholung etwas anders, weil sie die Variationen nicht mehr so exakt gespeichert haben - eine Folge des Abbaus des Klaviergedächtnisses" im Alter.
Aber - das haben die Potsdamer Wissenschaftler in ihrer Klavier-Studie herausgefunden - durch regelmäßiges Üben können die älteren Konzertpianisten genauso gut bleiben wie die jungen. Sie können dann ein kompliziertes Stück zweimal exakt gleich spielen - genau wie die jungen Kollegen. Nur durch diese Art Gedächtnistraining konnte ein Meister wie Wladimir Horowitz noch in hohem Alter virtuose Stücke spielen, vermutet man.
Das zweite Beispiel: Schachspieler. Großmeister wie etwa der Russe Gari Kasparov sind nicht deshalb so erfolgreich, weil sie besonders viele Spielzüge im Voraus berechnen können. Vielmehr haben sie den Verlauf bereits gespielter Schachpartien im Kopf. Man schätzt, daß ein Spieler wie Kasparov über mehrere einhunderttausend Spielsituationen abgespeichert hat. Während einer Partie vergleicht er die Stellung der Figuren auf dem Brett mit alten Spielen seines Gegners, die er im Kopf gespeichert hat. Er erkennt so, was sein Gegner vorhat. Je mehr Spielsituationen des Gegners er gelernt hat, also je besser sein "Schachgedächtnis" ist, desto eher erkennt er die Strategie des Gegners und kann entsprechend reagieren. Alternde Schachspieler aber vergessen nach und nach immer mehr Spielsituationen. Aber auch hier läßt sich durch Training der Gedächtnisabbau aufhalten - wie bei den Klavierspielern. Spieler wie Victor Kortschnoi können deshalb in hohem Alter immer noch 25-jährige Großmeister schlagen.
Auch der Verlust der Merkfähigkeit im Alter läßt sich durch Training ausgleichen. Dies wurde im Rahmen einer Studie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin gezeigt. Die Versuchspersonen mußten sich 30 Begriffe merken, zum Beispiel Hahn, Salami, Kellner oder Hund. Diese Worte wurden ihnen in Zwei-Sekunden Abständen genannt. Ungeübte ältere Teilnehmer konnten meist nicht mehr als drei Begriffe in der richtigen Reihenfolge nennen. Doch mit wenigen Trainingsstunden konnten sie fast ein Dutzend Begriffe richtig wiedergeben. Was in jungen Jahren ohne Übung geht, bedarf jedoch im Alter einiger Tricks. Den älteren Versuchsteilnehmern wurde in den Trainingsstunden die Methode der Orte (siehe Kap. 4. Besser behalten) beigebracht.
Mit solchen Gedächtnishilfen können ältere Menschen zwar mit jungen untrainierten Menschen mithalten. Aber: Wenn die jungen Menschen ebenfalls mit Tricks arbeiten, haben ältere Menschen keine Chance.
Mit höherem Lebensalter kann es zu krankhaften Störungen des Gedächtnisses und des Denkens kommen, zur sogenannten Demenz. In Deutschland leidet jeder dritte Mensch über achtzig Jahren an irgendeiner Form der Demenz. Die Alzheimersche Krankheit ist die häufigste Form. Sie macht zwei Drittel aller Demenzen aus. Aber auch andere Abbauprozesse im Gehirn (wie bei Parkinson- oder Huntington-Patienten oder Gehirninfarkte und Stoffwechselstörungen) können zu krankhaften Hirnleistungsstörungen führen.
Aber nicht jeder Mensch wird in hohem Alter zwangsläufig dement. Dies zeigt eine kürzlich in der Fachzeitschrift "Lancet" veröffentlichte Studie. Zwar steigt die Zahl der krankhaften Gehirnstörungen mit dem Alter stark an, aber dieser Anstieg scheint sich nach dem 80sten Lebensjahr stark zu verlangsamen. Etwa die Hälfte der über 95-jährigen scheint demnach immun gegenüber Hirnleistungstörungen zu sein. So auch gegenüber der Alzheimerschen Krankheit.
Neben Alzheimer können auch Depressionen Ursache sein für den krankhaften Gedächtnisverlust im Alter (siehe auch "Streß und Gedächtnisverlust", S. X). Etwa fünf Prozent der Fälle lassen sich auf Depressionen zurückführen. Im Unterschied zu Alzheimer ist dieser Gedächtnisverlust umkehrbar; verschwinden die Depressionen, beispielsweise durch eine Psychotherapie, dann verbessert sich auch die Gedächtnisleistungen wieder.