Dieser Text wurde zwar für das Lernen in der Schule geschrieben, doch sind die Grundgedanken dieses Textes auch für das Lernen an der Universiät und im Bereich der Erwachsenenbildung bedenkenswert.
Diese Feststellung führt uns zur ersten Grundfrage,
nämlich: Was verstehen wir überhaupt unter lernen? Ist es
nur das Speichern von Wissensinhalten, wo wir doch in Kenntnis sind
darüber, daß sich dieses Wissen in nur wenigen Jahren
völlig überholt und das menschliche Faktenwissen immer
umfangreicher wird, oder ist lernen auch erkennen, begreifen,
erleben, einfach auch tun, kurz ein ganzheitlicher, umfassender,
permanenter und lebenslanger Prozeß, der alle Sinnesbereiche
mit einschließt?
Wir lernen mit Seele und Geist und wissen beispielsweise, daß
wir nur etwa 10 % von dem behalten, was wir lesen, jedoch 90 % von
dem, was wir tun. Außerdem: Man erkennt die Welt nicht, indem
man sie auswendig lernt.
Jedes Kind will von sich heraus lernen; Lernen im umfassenden Sinn
ist ein selbsttätiger, automatischer und lustvoller
Prozeß. Ein Kind mit sechs Jahren z. B. ist gierig darauf,
lernen zu dürfen und auch zu zeigen, was es kann. Wenn man es
eben läßt, zu seiner Zeit und wenn wir als Erwachsene es
nicht vorzeitig zu irgendwelchen Leistungen drängen. Menschen
sind unterschiedlich, von ihrer Herkunft, Anlage und
Entwicklungsgeschwindigkeit her. Ich stelle daher die zweite
Grundfrage: Warum müssen wir das Lernen lernen? Weil wir es
nicht erwarten wollen, bis die Kinder ihrer Eigenheit
gemäß so weit sind, weil wir unsere Leistungsvorstellung
unseren Kindern (vorzeitig) überstülpen, weil wir das
Lernen immer noch als einen in Noten meßbaren Vorgang
betrachten, der uns Erwachsenen Prestige bedeutet. Und, das
führt mich zu meiner dritten These
Ja, was verstehen wir in der Schule unter lernen?
Lernen wird in der Schule - als Gemeinschaft und Lebensraum
verstanden -
- miteinander zu sprechen, uns mitzuteilen und uns
zuzuhören?
- miteinander zu arbeiten, zu kooperieren und Konflikte
auszutragen?
Dies alles in einer Zeit der zunehmenden Vereinzelung. Insgesamt: mit
Menschen umzugehen? Lernen wir, auch sinnliche Erfahrungen machen zu
können, als ganze Menschen und nicht in von Leben abgetrennten
Gegenständen? Lernen wir verstehen zu können, Methoden
anzuwenden, anstatt Wissen zu speichern? Lernen wir Fehler machen zu
dürfen? Um ein lateinisches Zitat zu strapazieren: "Errando
discimus" - durch irren lernen wir? Lernen und erfahren wir so
beständige Ermutigung und Bestärkung in unseren
Fähigkeiten? Lernen wir, mit Wissen(schaft) umzugehen, ich meine
hier um mit Hartmut von Hentig zu sprechen, Wissenschaft als
gewisseste und neueste Form von Wissen und vieles mehr? Wenn wir aus
neuesten Untersuchungen wissen, daß die Freude an der Schule
nach der Volksschule beständig abnimmt, daß ein
erheblicher Prozentsatz von Schülern den Stoff schlicht und
einfach auswendig lernt, daß die Noten sich in der
Sekundarstufe kontinuierlich verschlechtern (während die
Arbeitszeit der Schüler kontinuierlich ansteigt) und daß
vor allem Schüler der Oberstufe in viel zu hohem Maß
Passivität und Resignation zeigen, so muß an dieser Stelle
ganz klar gesagt werden, daß die Verantwortung, daß
Lernen im umfassenden Sinne gelingen kann, auch ganz wesentlich die
Schule und die Lehrer trifft. Unser Schulsystem wird in Zukunft
insgesamt viel stärker Möglichkeiten schaffen müssen,
daß Lernen im umfassenden Sinn gelingen kann. Vor allem: Die
Mißerfolgsorientierung und Demotivation der Schüler sind
viel zu stark. Zu überdenken ist vor allem unsere Art zu
beurteilen und die Sitzenbleiber-Praxis. Das führt mich zu
meinem nächsten Punkt.
Lernen hat mit Beziehungen zu tun, vor allem auch mit der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. Wir wissen aus der Kommunikationspsychologie, daß der Beziehungsaspekt der Sachebene immer übergeordnet ist, das heißt, wenn es nicht gelingt, sich in positiver und annehmenderweise auf einander zu beziehen, dann wird es sehr schwer, sachlich etwas zu transportieren. Es ist vor allem die Verantwortung der Lehrer, den Lebensraum Schule beziehungsvoll zu gestalten und Lernprozesse so in Gang zu setzen, daß Schüler eigenverant-wortlich in der Lage sind, das Verlangte zu bewältigen. Das Ausmaß des Nachhilfeunwesens, von dem Lehrer zum Teil nicht einmal wissen, ist gelinde gesagt betrüblich. Ein Lehrer sollte ferner als pädagogischer Experte nach meinem Dafürhalten gut über lern- und kommunika-tionspsychologische Grundsätze Bescheid wissen und sich auch in seiner Rolle hinterfragen lassen.
Schüler müssen wenigstens ansatzweise wissen wozu und
wofür sie das oder jenes lernen sollen. Ein plumpes Speichern
von Wissen ist sinnlos und wird auch bald nach der Schule wieder
vergessen. Motivation kommt aus dem Lateinischen und hat mit
Beweggrund, Antrieb zu tun. Wir Erwachsenen handeln nie ohne Motiv
und wir meiden - wenn wir es können - Tätigkeiten, die uns
sinnlos erscheinen. Wenn wir als Erwachsene fragen, will dieser
Schüler nicht oder kann er nicht, dann lautet für mich die
Antwort als Psychologe stets: Er kann jetzt nicht, weil er eben nicht
will, heißt: er ist nicht ausreichend motiviert.
Für uns als Eltern heißt das: Geben wir unseren Kindern
eine Chance, selbstverantwortlich tätig werden zu können
und beziehen wird die Kinder so gut es geht in Entscheidungen
über die Schullaufbahn ein. Nicht wir gehen in die Schule,
sondern unser Kind. Setzen wir so oft es geht, konsequente Anreize
für das Wollen und lassen wir das ewige Bestrafungsdenken.
Hüten wir uns vor allzu hohen Erwartungen, die unsere Kinder
jetzt nicht erfüllen können. Unsere Kinder sind so wie sie
sind und nicht so, wie wir sie gerne hätten.
Sorgen wir als jene, die einen Erfahrungsvorsprung haben, für
gute Rahmenbedingungen hin-sichtlich der Lernorganisation. Es gibt
viele wertvolle Tips aus der Lernpsychologie, wie z.B. eine gute und
abwechslungsreiche Lerneinteilung in kleinen Portionen, nicht ein
Stoffgebiet bis zum Umfallen büffeln etc. oder Thema
Lernhemmungen: Wenn ich nach dem Vokabellernen z.B. einen
aufwühlenden Film ansehe, kann unter Umständen alles wieder
weg sein. Wissen sollten wir auch, daß Lernen wiederholen
heißt, dafür brauche ich einige Tage Zeit. Im
Langzeitgedächtnis verankertes Wissen ist auch in
Streßsituationen leichter abrufbar. Begreifen hat mit angreifen
zu tun, versuchen wir Wissensgebiete so plastisch und anschaulich wie
möglich zu gestalten. Last but not least: Schaffen wir gute
geistige und körperliche Voraussetzungen, wenn wir lernen
wollen, sonst ist es schade um die Zeit.
Kinder und Jugendliche brauchen Freiräume z.B. zum Spielen oder
ganz einfach für sich selbst. Lassen wir unsere Kinder leben und
erleben und engen wir sie nicht ständig durch unseren Ehrgeiz,
der in der Schule symptomatisch wird, ein. Lernen kann in der Schule
stattfinden, lernen dürfen wir aber vor allem durch das Leben
selbst und leben heißt für mich, sich auf andere zu
beziehen.