THOMAS KRAMAR

Zuwenig neue Zellen im Hirn - Seepferdchen als Ursache für Depression?

Neuronen wachsen doch nach - das weiß man erst seit kurzem. Ein radikal neuer Ansatz will nun Depressionen durch eine Störung dieser Neubildung von Zellen im Gehirn erklären.

Noch vor kurzem herrschte die Meinung vor, daß sich im Gehirn von Erwachsenen keine neuen Nervenzellen (Neuronen) mehr bilden: Ein Verlust, etwa durch Vollräusche, sei durch nichts mehr gutzumachen, das war (und ist) geradezu Volksweisheit. Es war eine kleine Sensation, als dieses "Keine-neuenNeuronen-Dogma" vor zwei Jahren zu wanken begann. Die - unter anderem auch durch Arbeiten mit Zellen abgetriebener Föten erzielten - Ergebnisse in Kürze: Auch bei erwachsenen Menschen können sich neue Neuronen bilden, ob durch simple Zellteilung oder mit Hilfe neuronaler Stammzellen, ist noch unklar. Und solche Neubildung findet nachweisbar in einem wegen seiner Form Hippocampus (Seepferdchen) genannten Hirnareal statt, das eine wesentliche Rolle für das Lernen und das Gedächtnis spielt und vermutlich auch mit Stimmungen zu tun hat.

Genau diese Hirnregion ist bei signifikant vielen Depressiven unterdurchschnittlich groß: "Es ist völlig klar, daß länger andauernde schwere Depressionen mit einer Verringerung des Volumens des Hippocampus einhergehen", erklärt der US-Neurologe Robert Sapolsky in Science (290, S. 258). Eine neuere Arbeit ergab, daß bei Depressiven auch im präfrontalen Cortex, der unter anderem bei Emotionen mitspielt, die Neuronen weniger dich gepackt sind als normal. Und es gibt Indizien dafür, daß einige erfolgreiche Antidepressiva - etwa das vor allem in den USA inflationär verwendete Prozac (Fluoxetin), aber auch Lithium - das Wachstum von Neuronen ankurbeln.

Streß als Auslöser

Im Fall von Prozac ist ein kausaler Zusammenhang gut vorstellbar: Es wirkt, indem es die Menge des Neurotransmitters Serotonin zwischen den Neuronen vergrößert - und von Serotonin ist bekannt, daß es zumindest in der Embryonalentwicklung das Zellwachstum fördert. Ähnlich über Erhöhung des Serotonin-Spiegels wirkt übrigens auch körperliches Training, das bei leichten Depressionen oft eine erfolgreiche Therapie ist.

Etliche Neurowissenschaftler vermuten nun, daß mangelndes Zellwachstum bei Depressionen mit der Auswirkung von Streß auf das Gehirn zu tun haben. Streß ist ja ein häufiger Auslöser für Depressionen, und er wirkt sich in gesteigerter Produktion von Glucocorticoiden (etwa Cortisol) aus, Hormonen, die im Sinne einer Alarmfunktion unter anderem den Herzrhythmus beschleunigen - allerdings auf Kosten von energieaufwendigen Vorgängen wie der Zellteilung. Im Normalfall sorgt ein hormoneller Feedback-Mechanismus dafür, daß die Streßreaktion nicht überhand nimmt dieser Mechanismus funktioniert laut Arbeiten am MaxPlanck-Institut für Psychiatrie in München bei Depressiven nicht.

Ob nun tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen gestörter Neubildung von Neuronen und Depressionen besteht, ist umstritten. Es könnte sich ja auch um zwei parallel auftretende Symptome handeln. Es ist schließlich noch völlig ungeklärt, welche Neuronen nachwachsen und wie diese Neurogenese reguliert wird. Eine Arbeit an Finken ergab jüngst, daß das Absterben von Neuronen direkt das Neuwachstum induziert: Das scheint aber nur für Hirnregionen zu gelten, die mit der Gesangskunst der Vögel zu tun haben.

Viren unter Verdacht

Überhaupt ist in der Forschung über die Ursachen von Depressionen noch fast alles offen: Es gibt erbliche Formen, doch darüber, welche Gene beteiligt sein könnten, existieren bisher nur vage Indizien. Man muß sich auch fragen: Sollten Gen-Varianten, die Depressionen begünstigen, nicht längst "ausgestorben sein? Eine originelle Antwort lautet, daß Depressionen einst in besonders argen Lebenslagen einen gewissen Vorteil geboten haben: In freier Wildbahn sei es manchmal besser, handlungsunfähig zu sein.

Für Aufsehen sorgte vor vier Jahren eine Publikation von Berliner Forschern, laut der Borna-Viren - die Nervenzellen befallen und bei Pferden, Kühen und Katzen Apathie und andere Verhaltensstörungen erzeugen - an der Entstehung von Depressionen zumindest als Kofaktoren beteiligt sein sollen. Einschlägige Studien - auch darüber, ob das Anti-Virus-Medikament Amantadin gegen Depression hilft - laufen noch, man hat aber schon länger keine Ergebnisse gehört. "Depressive haben zu oft Scheu, zum Arzt zu gehen", meinte die an diesen Arbeiten beteiligte Liz Bode: "Aber Depression ist eine körperliche Erkrankung. Da hilft keine Psychoanalyse." Das mag ja stimmen - doch auch bei den medikamentösen Therapien dürfte sich die Medizin noch lange auf unsicherem Boden bewegen.


Quelle: Die Presse Spectrum 25.11.2000, S. IX