Klaus-Martin Klein
In der (experimentellen) Gedächtnispsychologie ist es üblich geworden,verschiedene Gedächtnissubsysteme voneinander zu unterscheiden. Die populärste Unterscheidung stellt dabei wohl die Unterscheidung zwischen einem Kurzzeitgedächtnissystem und einem Langzeitgedächtnissystem dar (1). Diese Unterscheidung ist dabei alles andere als neu. Schon William James (1890, nach Kintsch 1982), Bruder des Schriftstellers Henry James, unterschied zwischen einem primären und einem sekundären Gedächtnis. Informationen im primären Gedächtnis sind bewußt, sie zu reproduzieren gelingt ohne Mühe; die Anzahl Items, die auf diese Weise im Gedächtnis gehalten werden können, ist dabei auf einige wenige begrenzt. Im sekundären Gedächtnis befindliche Informationen sind dagegen nicht bewußt, sie wiederzugeben setzt oft aktive Suchprozesse voraus; es gibt Evidenz dafür, daß die Kapazität dieses Gedächtnissystems "unbegrenzt" ist und daß dessen Gedächtnisinhalte -sieht man einmal von den Auswirkungen traumatischer Ereignissen etc. ab- nicht verlorengehen (vgl. Anderson 1988).
Ebbinghaus (1885) bemerkte ebenfalls, daß je nach Umfang des
zu lernenden Itemmaterials unterschiedliche Gedächtnisprozesse
abzulaufen schienen. Konnten sieben, aus
Konsonant-Vokal-Konsonant-Kombinationen zusammengesetzte "sinnlose"
Silben (KVK) nach lediglich einer Darbietung in jedem Fall
vollständig korrekt reproduziert werden, so gelang dies bei
einer 12 KVK-Silben umfassenden Liste höchstens noch für
wenige Silben:
"Man kann fragen: Wie groß ist diejenige Zahl von Silben,
welche unmittelbar nach einmaligem Durchlesen derselben gerade noch
fehlerlos hergesagt werden kann? Für mich beträgt diese
Anzahl ziemlich genau 7 Silben. Es gelingt zwar auch oft, 8 Silben
wiederzugeben, aber nur zu Anfang der betreffenden Versuche und im
ganzen in der großen Minorität der Fälle. Bei 6
Silben andererseits kommt sozusagen nie ein Fehler vor; bei ihnen ist
also ein aufmerksames einmaliges Durchlesen schon zuviel
Energieentfaltung für eine unmittelbar darauf folgende
Reproduktion. [...] Um Reihen von 6, 5, 4 usw. Silben
auswendig hersagen zu können, ist natürlich immer ein
einmaliges Durchlesen derselben erforderlich, aber dasselbe braucht
(für mich) nicht, wie bei 7 Silben, mit möglichst
gespannter Aufmerksamkeit zu geschehen, sondern kann immer
flüchtiger sein, um je weniger Silben es sich handelt."
(Ebbinghaus 1985, S. 40 f.).
Über die Anzahl Items hinaus, die nach einmaliger Darbietung korrekt reproduziert werden konnten, benötigte Ebbinghaus für jedes weitere zusätzliche Item etwa 2.4 Wiederholungen zum Erlernen der Liste (vgl. Abbildung 1) (2); Derks (1974) konnte zeigen, daß für serielle Reproduktion die Lernzeit am besten durch eine Potenzfunktion mit dem Exponenten 2.6 der Anzahl zu reproduzierender Items beschrieben werden kann (3).
Abbildung 1: Anzahl der in den Selbstversuchen Ebbinghaus' zum
Lernen einer Silbenliste notwendigen Wiederholungen in
Abhängigkeit von der Listenlänge (nach Ebbinghaus 1985, S.
40 f.).
Für die Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis zur Mitte der 50er Jahre ergaben sich von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die bei der Darstellung der Paradigmata des Kurzzeitgedächtnisses ausführlicher eingegangen werden soll, kaum Erkenntnisfortschritte; für die Kurzzeitgedächtnisforschung ab Mitte der 50er Jahre sind vor allem Erkenntnisse der experimentellen Neuropsychologie und das Aufkommen der Informationstheorie entscheidend geworden (vgl. hierzu zum Beispiel Ellis & Young 1993, Herrmann 1966, Hieden-Sommer 1972, Markowitsch 1992, Mecklinger 1992, Sala, Logie, Marchetti & Wynn 1991, Shimamura, Janowsky, & Squire 1990).
Die Grundfunktion des Langzeitgedächtnisses ist, um mit Klix (1977, S. 77) zu sprechen, "... in der zeitstabilen und störresistenten Einlagerung von Informationen, die aus äußeren oder inneren Rezeptorregionen in zentralen Abschnitten des Nervensystems eintreffen", zu sehen. Für diese daürhaften "Einlagerungen" von Gedächtnisinhalten im Cortex werden inter- und intrazelluläre Veränderungen als entscheidend angesehen: Es finden Veränderungen chemischer und/oder physiologischer Art an den Synapsen, aber auch im Zellinneren statt, hier beispielsweise durch vermehrte Bildung von RNS- Molekülen (Wendt 1989, S. 183; Klix 1977, S. 61, ausführlich auch Rohracher (1971) und Birbaumer & Schmidt 1991).
Solche Veränderungen benötigen Zeit. Hebb (1949) zufolge ist zur Gewährleistung solcher strukturellen Änderungen ein "Mechanismus" erforderlich, der die aufgenommenen Informationen durch organismusinterne Wiederholung (rehearsal) solange hält, bis diese Veränderungen eingetreten sind. Dieser Mechanismus entspricht dem Kurzzeitgedächtnis, als zugrundeliegende physiologische Strukturen werden dabei neuronale, sich selbst wiedererregende Kreisprozesse postuliert (5). Der Übertragungsvorgang vom Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis und damit die Bildung einer dauerhaften Gedächtnisspur wird als "Konsolidierung" bezeichnet (vgl. Birbaumer und Schmidt 1991, Hartje und Sturm 1982, Hauss, Dentler, Neidenbach, Stegemann & Völkel 1981), die gebildeten Gedächtnisspuren auch als "strukturelle Spuren" (structural trace), "Engramme" oder "Neurogramme" (vgl. Hauss et al. 1981, Dorsch 1987 oder Wendt 1989).
Der neuropsychologische Ansatz geht nun von der Annahme unterschiedlicher "Module" (physiologische Korrelate kognitiver Prozesse) im (menschl.) Gehirn aus, die -mehr oder weniger!- unabhängig voneinander arbeiten (klassisches Beispiel hierfür ist motorische vs. sensorische Aphasie). Demzufolge kann eine Hirnverletzung die Funktionsweise eines oder einiger solcher Module beeinflussen, während andere Module hierdurch völlig unbeeinflußt bleiben. Sollten sich also hirnverletzte Patienten finden lassen, die schlechte Leistungen im Kurzzeitgedächtnis und normale oder sogar gute Leistungen im Langzeitgedächtnis aufweisen, während sich bei anderen Patienten das genau umgekehrte Muster aufzeigen läßt, so gibt es, aus Sicht der Neuropsychologen, Evidenz für die Existenz zweier unabhängiger Gedächtnissubsysteme, möglicherweise auch für deren physiologisches Korrelat (6).
Weitgehende Übereinstimmung besteht darin, daß vor allem die bedeutendste Struktur innerhalb des limbischen Systems, die Hippocampus-Formation (Cornu ammonis, Subiculum und Fascia dendata), für die dauerhafte Speicherung in das Langzeitgedächtnis verantwortlich zu machen ist (vgl. Hartje & Sturm 1982, S.145 ff., Wendt 1989).
Berühmtestes Fallbeispiel ist der Patient H.M., der, an
schweren, medikamentös nicht oder kaum behandelbaren
epileptischen Anfällen leidend, siebenundzwanzigjährig
einer Operation unterzogen wurde, bei der bilateral die medialen
Teile des Temporallappens (vor allem Hippocampus, Gyrus
hippocampalis, Uncus und Nucleus amygdalä) unter Aussparung
neocorticaler Strukturen entfernt wurden, was tatsächlich zu
einer drastischen Reduzierung der Häufigkeit epileptischer
Anfälle führte (vgl. Milner 1970). Während
Sprachverständnis und Sprachproduktion auch nach der Operation
intakt blieben, bei den Intelligenztestleistungen -Indikator für
semantisches Gedächtnis- sogar eine Steigerung von 104 auf 118
Wechsler-IQ-Punkte zu konstatieren war (vgl. Milner 1970, Wickelgren
1968), zeigten sich massive Gedächtnisstörungen im Bereich
des episodischen Gedächtnisses, genaür: Bei intaktem
Kurzzeitgedächtnis (sowohl für verbales als auch für
nonverbales Itemmaterial) und weitgehend intaktem episodischem
Langzeitgedächtnis für Ereignisse vor der Operation konnten
neue Informationen nicht längerfristig behalten werden (Milner
1966, Baddeley und Warrington 1970):
"However, the main conclusion from our study, and from those of
others (e.g. Milner, 1966), was that patients suffering from the
amnesic syndrome may show normal STS coupled with grossly defective
LTS" (Baddeley 1990, S. 59; STS und LTS stehen für Short-
bzw. Long-Term-Store).
Natuerlich könnte aufgrund dieser Befundlage auch einfach der Schluß gezogen werden, daß Kurzzeitgedächtnisaufgaben leichter und durch traumatische Ereignisse weniger störbar sind als Aufgaben aus dem Bereich des Langzeitgedächtnisses. Tatsächlich ließ sich dieses Argument durch den Fall eines anderen Patienten, K.F., widerlegen. Bei diesem Patienten zeigten sich Gedächtnisspannen von zwei bis drei Zahlen (ähnliche Ergebnisse für Buchstaben und Wörter), während K.F.'s Leistungen im Paradigma der freien Reproduktion gute Leistungen im primacy-Bereich, jedoch stark beeinträchtigte Leistungen im recency-Bereich aufwies (vgl. Shallice & Warrington 1970, Baddeley 1990). Spätere Untersuchungen an diesem Patienten zeigten übrigens, daß die Kurzzeitgedächtnisleistungen vor allem bei auditiv dargebotenen verbalem Material beeiträchtigt waren, hingegen zeigte K.F. bei bedeutungsvollen Klängen oder Geräuschen wie Katzenmiauen oder Telephonklingeln normale Kurzzeitgedächtnisleistungen (vgl. Ellis & Young 1993).
Evidenz für die Existenz zweier (weitgehend) unabhängiger Gedächtnisspeichersysteme ergibt sich auch aus einer Fülle experimenteller Untersuchungen. Zu den stärksten Argumenten gehören die Befunde zum sogenannten recency-Effekt (Rezenzeffekt).
Was ist darunter zu verstehen? Probanden werden Listen von verbalem Itemmaterial dargeboten, die sie frei reproduzieren sollen. Typisches Ergebnis derartiger Untersuchungen ist dabei, daß die letzten Items der dargebotenen Liste, also diejenigen Items, welche mutmaßlich zumindest auch noch bewußt gehalten werden (7), am besten reproduziert werden -daneben gibt es auch einen Gedächtnisvorteil für die zuerst dargebotenen Items einer Liste, den sogenannten primacy-Effekt. Es fragt sich natürlich, auf welche Weise dieser Effekt als Effekt des Abrufs aus dem Kurzzeitspeicher nachgewiesen werden kann; es sollte dann möglich sein, experimentell nur die Reproduktion der jüngst dargebotenen Listenitems zu beeinflussen, diese Manipulation sollte jedoch keinerlei Einfluß auf die Reproduktion erster oder mittlerer Listenelemente haben. Tatsächlich ließ sich die Verzögerungszeit nach Listendarbietung als eine derartige Variable ausmachen. Glanzer und Cunitz (1966) konnten zeigen, daß bei mit einer Distraktortätigkeit gefüllten Verzögerung der freien Reproduktion sich diese lediglich auf die Reproduktionshäufigkeit der letzen Items auswirkt: Zeigt sich bei 0 Sekunden Verzögerung der typische recency-Effekt, so ist er bei einer Verzögerung der Reproduktion von 15 Sekunden deutlich gemindert und verschwindet nach einem Intervall von 30 Sekunden völlig; verschiedene Varianten dieser Technik, so die von Murdock (1963), Murdock (1965) oder die im Paradigma des Paarassoziationslernens durchgeführte Untersuchung von Tulving und Arbuckle (1963) bestätigen den referierten Befund, sollen hier aber nicht weiter besprochen werden.
Umgekehrt zeigten die gleichen Autoren (Glanzer & Cunitz, 1966), daß mit zunehmender Darbietungsdauer je Item die Reproduktionsleistung für die ersten Listenitems erhöht werden kann, während die Manipulation dieser Variablen keinen Effekt auf die "recency-Items" der Liste hat.
Weitere Evidenz für die Unterscheidung dieser zwei Gedächtnissubsysteme ergaben Untersuchungen zu sogenannten "Ähnlichkeiteffekten", die auf entsprechende Kodierungen bzw. Eigenschaften der Gedächtnisspuren als Resultat dieser Kodierungen verweisen. Eine Fülle von Untersuchungen konnte so die Hypothese unterstützen, daß -unabhängig von der Darbietungsmodalität- Versuchspersonen die ihnen dargebotenen Items bei kurzem Behaltensintervall phonetisch kodieren. So konnten Conrad und Hull (1964) zeigen, daß die Reproduktionsleistung auditiv ähnlicher Buchstaben wie P, D, C, T sehr viel geringer ausfiel als die auditiv unähnlicher Buchstaben wie K, Z, W, R, wobei Wickelgren (1965) zeigen konnte, daß die akustische Ähnlichkeit sich vor allem auf die Reproduktion der Reihenfolge (order) der dargebotenen Buchstaben auswirkt. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist vor allem ein Experiment von Baddeley (1966, Experiment I): Im Paradigma der unmittelbaren Gedächtnisspanne wurden den Probanden Listen phonologisch ähnlicher Worte (man, mad, can, cap, map) versus phonologisch unähnlicher Worte (day, bar, pen, sup, pit) respektive semantisch ähnliche Worte (big, broad, long, tall, huge) versus bedeutungsunähnlicher Worte (old, deep, foul, late, save, strong) dargeboten.
Abbildung 2: Der Einfluss akustischer Ähnlichkeit und
Bedeutungsähnlichkeit auf die Reproduktion im Paradigma der
unmittelbaren Gedächtnisspanne (nach Baddeley 1966, S. 362,
Experiment I).
Umgekehrt zeigte sich bei einer Langzeitgedächtnisuntersuchung (Baddeley 1966, Experiment III) (8), daß semantische Ähnlichkeit des Wortmaterials im Unterschied zu akustischer Ähnlichkeit einen stark negativen Einfluß auf die Reproduktionsleistung hatte, was Baddeley (1990, S. 55) zu folgender Schlußfolgerung veranlasst: "... these results suggested the simple generalization that the short-term store relies on a phonological code, while the long-term store is primarily concerned with meaning".
Der wohl bedeutendste Versuch, die Evidenzen für eine Separierung von Kurzzeit- und Langzeitspeicher in einem Modell zu integrieren, stammt -in Weiterentwicklung eines Gedächtnismodells von Broadbent (1958)- von Atkinson und Shiffrin (1968). Ihrem Modell zufolge werden "Umgebungsinformationen" zunächst parallel in einer Reihe von "sensorischen Registern" visueller, akustischer, haptischer Art etc. verarbeitet. Von hier aus werden die Informationen in einen Kurzzeitspeicher ("short-term store") mit begrenzter Kapazität -ähnlich einem Flaschenhals- überführt, in welchem die Items in einem recht "fragilen" Zustand gehalten werden. Seinerseits steht der Kurzzeitspeicher in Verbindung zu einem "permanenten" Speicher, dem Langzeitspeicher ("long-term store").
In dem modalen Gedächtnissystem von Atkinson und Shiffrin kommt dem Kurzzeitspeicher, den die Autoren übrigens bereits als "working memory" (Atkinson & Shiffrin 1968, zum Beispiel S. 90 oder S. 92) bezeichnen, entscheidende Bedeutung zu: Obgleich die Autoren die Möglichkeit offenlassen, daß ein Informationstransfer auch von den sensorischen Registern in den Langzeitspeicher erfolgen kann (vgl. Atkinson & Shiffrin 1968, S. 94), gelangen ihrem Modell zufolge Informationen nur über den Kurzzeitspeicher in den Langzeitspeicher. Über das Speichern von Informationen kommen dem Kurzzeitspeicher, wie auch aus der Abbildung 3 ersichtlich wird, gewisse Kontrollprozesse zu, was dieses Modell beispielsweise von dem von Waugh und Norman (1965) unterscheidet (vgl. hierzu auch Kintsch 1982). Einer dieser Kontrollprozesse ist das sogenannte "rehearsal", mit dessen Hilfe Informationen in diesem Speicher gehalten werden können; den Autoren zufolge steigt mit der Dauer, mit der Informationen im Kurzzeitspeicher gehalten werden können, die Wahrscheinlichkeit dafür an, daß diese Informationen entweder in den Langzeitspeicher transferriert oder aber kopiert werden (9). Items, die nicht memoriert werden, werden als Resultat einer Ersetzung durch neue Items oder Entfernung aus dem Speicher vergessen.
Abbildung 3: Das "modale Gedächtnissystem von Atkinson
und Shiffrin (1968). Abbildung nach Atkinson und Shiffrin (1968,
S.93) und Baddeley (1990, S. 60).
Kritik ist an den Mehrspeichermodellen -hiermit ist zum einen die grundsätzliche Zweiteilung unseres Gedächtnissystems in ein primäres respektive sekundäres Gedächtnis gemeint, zum anderen aber auch die auf dieser Zweiteilung aufbauenden Konzeptionen wie beispielsweise die von Atkinson und Shiffrin (1968)- aufgrund einer Fülle von Resultaten empirischer Untersuchungen erhoben worden.
Die eine Argumentationsstrategie richtet sich gegen die vermeintliche neuropsychologische Evidenz. So sollte eine Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses ebenfalls eine Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses nach sich ziehen, was, wie der schon bereits beschriebene Fall K.F. zeigt, widerlegt werden konnte. Auch sind die Beeinträchtigungen des H.M. keinesfalls so absolut, wie man lange Zeit glauben wollte, vielmehr zeigte sich bei Einsatz indirekter, also abrufsensitiver Gedächtnistests häufig, daß Gedächtnisleistungen vorhanden waren, wenn sich H.M. darüber auch nicht bewußt wurde (vgl. Milner 1970).
Die andere Argumentationsstrategie setzt die aus den experimentellen Befunden gezogenen Schlüsse in Frage. Hierfür ein Beispiel: Mehrspeicherkonzeptionen zufolge wird der recency-Effekt auf den Abruf aus dem primären (aber auch aus dem sekundären) Gedächtnis zurückgeführt. Eine Untersuchung von Bjork und Whitten (1974) zeigte jedoch, daß diese Interpretation anfechtbar ist: Sie boten ihren Probanden Wortlisten unter vier experimentellen Bedingungen dar: a) unmittelbare Reproduktion nach Listendarbietung, b) Reproduktion nach Distraktortätigkeit von 30 Sekunden, c) unmittelbare Reproduktion nach Darbietung, jedoch Lösen von Rechenaufgaben 12 Sekunden vor und nach Darbietung eines jeden Items und d) Reproduktion erst nach 30 Sekunden Distraktortätigkeit, ansonsten wie c). Die Distraktortätigkeit vor und nach Darbietung eines jeden Items sollte den Mehrspeicherkonzeptionen zufolge zum Zusammenbruch des recency-Effektes führen. Stattdessen zeigte sich sowohl unter Bedingung c) als auch d) ein deutlicher recency-Effekt, den die Autoren als Tendenz der Vpn interpretieren, die letzten dargebotenen Items als erste wiederzugeben, wenn man so will: ein "last-in-first-out-Prinzip".
Ganz ähnlich zeigte sich auch, daß die Untersuchungen
zu phonologischen versus semantischen Ähnlichkeitseffekten die
Realität zu sehr vereinfachten. Baddeley (1990, S. 64)
faßt die Ergebnisse hierzu wie folgt zusammen:
"Within laboratory tasks, it was becoming increasingly clear
that the nature of the task would determine whether or not a subject
would use semantic coding.[...] In short, subjects will
encode verbal material meaningfully if they can do in the time
available, and will reflect this by showing semantic similarity
effects. If not, they rely on phonological coding and show
phonological similarity effects."
Die Kritik kulminierte schließlich in dem von Craik und Lockhart (1972) propagierten levels-of-processing-Ansatz, demzufolge für die Behaltensleistung keinesfalls hypothetische Speicherstrukturen als vielmehr die Art und das Ausmaß der Elaboration des Itemmaterials ausschlaggebend sind (10). Beispielhaft sei hier eine Untersuchung von Hyde und Jenkins (1973) angeführt, nach der eine Gruppe eine Liste von Wörtern dahingehend zu überprüfen hatte (oberflächliche Verarbeitung), ob diese jeweils einen bestimmten Buchstaben enthalten oder nicht, während die andere Gruppe die gleichen Items in Bezug auf deren Angenehmheit zu überprüfen hatten (tiefere Verarbeitung). Tatsächlich zeigte sich eine bessere Reproduktionsleistung für das elaborierter verarbeitete Material (11).
"Graham Hitch and I decided to try and tackle this problem by asking the basic question of "What is STS for?" We decided that if the answer was that if merely served to keep experimental psychologists occupied, we would choose to occupy ourselves in other ways." Baddeley (1990, S. 68).
Bereits der Kurzzeitspeicher im modalen Gedächtnismodell Atkinsons und Shiffrins (1968) war als working memory konzipiert worden, dem bei einer Fülle kognitiver Aufgaben zentrale Bedeutung im Sinne eines zeitweiligen Haltens bzw. Veränderns von Informationen zugesprochen wurde. Hiervon ausgehend entwickelten Baddeley und Hitch (1974) bzw. Baddeley (1986, 1990) die Idee eines aus verschiedenen Subkomponenten zusammengesetzen Kurzzeitgedächtnisses im Sinne eines "work space" (Reisberg, Rappaport & O'Shaughnessy 1984, S. 203), das -im Unterschied zu dem statischen Modell Atkinsons und Shiffrins (1968)- in sehr dynamischer Weise Informationen verwaltet und verarbeitet, also nicht nur zur kurzfristigen Speicherung und Verarbeitung von Informationen bzw. als temporäres und selektives "Fenster" des Langzeitspeichers zu verstehen ist, sondern Raum für Prozesse wie Entscheidungen, Problemlösen etc. bietet.
Evidenz hierfür gaben eine Reihe von Untersuchungen im
dual-task-Paradigma, bei denen Vpn zum einen mit das
Kurzzeitgedächtnis belastenden und "ausfüllenden"
Gedächtnisspannenversuchen und gleichzeitig zum Beispiel mit
einer Entscheidungsaufgabe (o.ä.) konfrontiert wurden.
Interessanterweise führten solche Versuche keineswegs zu
katastrophalen Ergebnissen bei mindestens einer dieser Aufgaben, wie
nach dem modalen Gedächtnismodell zu erwarten gewesen wäre,
zwar stieg die Bearbeitungszeit deutlich in Abhängigkeit von der
in der Gedächtnisspannenaufgabe verwandten Anzahl von Items, die
Fehlerquote blieb konstant gering. Baddeley (1990, S. 68) beschreibt
das Vorgehen seiner Versuchspersonen so:
"We also began by presenting the digits, requiring the
reasoning or memory task, and then asking for digit recall. Under
these circumstances, however, we found the subjects tended to adopt a
strategy of rapidly rehearsing the digits, then switching attention
to the reasoning or learning task, before returning to pick up
whatever they could of the trace of the digits."
Klassische Mehrspeicherkonzeptionen weisen hier ein Erklärungsdefizit auf, müßte doch diesen Konzeptionen zufolge eine die Kapazität des Kurzzeitspeichers (fast) vollständig ausfüllende Anzahl von sechs oder acht Zahlen nur wenig oder aber auch gar keinen Raum mehr für die Bearbeitung zum Beispiel von Denksportaufgaben lassen. Baddeleys Konsequenz aufgrund dieser Befunde ist, die Idee eines einheitlichen Kurzzeitspeichers aufzugeben zugunsten eines aus mehreren Subkomponenten zusammengesetzten Systems, das er als Arbeitsgedächtnis (working memory) bezeichnet. Im Mittelpunkt dieser Konzeption steht eine "Zentrale Exekutive" ("central executive" Baddeley 1990, S. 71), eher ein Aufmerksamkeits- als ein Gedächtnissystem und das bislang am wenigsten erforschte Subsystem des Arbeitsgedächtnisses. Die Konzeption der zentralen Executive ist dem SAS-Modell von Norman & Shallice (1986) angelehnt. Seine Funktion besteht vornehmlich in der Kontrolle und Koordination -mindestens- zweier Subsysteme (vgl. Baddeley 1990, S. 71), nämlich einer "Phonologischen Schleife" ("phonological loop", a.g.O.), zuständig für sprachliche Information, und einem "visüll-räumlichen Skizzenblock" ("visual-spatial sketch pad", a.g.O.), zuständig fuer die Aufnahme und Verarbeitung visueller Information. Abbildung 4 zeigt eine vereinfachte Form des Arbeitsgedächtnismodells von Baddeley (1986, 1990) (12).
Abbildung 4: Das working-memory-Modell von Baddeley
(1986, 1990).
Dieses Subsystem des Arbeitgedächtnisses ist zur Zeit die am stärksten erforschte Komponente innerhalb Baddeleys Konzeption. Es enthält zwei Komponenten, nämlich einen "phonologischen Speicher" ("phonological store", Baddeley 1990, S. 72) und einen "artikulatorischen Kontrollprozeß" ("articulatory control process", Baddeley, a.g.O.), der auf innerem Sprechen basiert. Gedächtnisspuren innerhalb des phonologischen Speichers "verblassen" und sind nach einer Dauer, die Baddeley auf 1.5 bis 2 Sekunden schätzt, nicht wieder abrufbar, es sei denn, daß die Gedächtnisspur durch Einlesen in den artikulatorischen Kontrollprozeß -basierend auf subvokalem Wiederholen- und anschließendes erneutes Speichern "aufgefrischt" wird.
Evidenz für dieses System gibt es Baddeley zufolge aufgrund einiger empirischer Phönomene, die im folgenden skizziert werden sollen:
(1) Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß der Begriff "Kurzzeitgedächtnis" in der Gedächtnispsychologie keineswegs einheitlich gebraucht wird. So ist zu einer theoretischen Bedeutung, wie sie hier beschrieben wird, noch eine verfahrenstechnische hinzugekommen: Mit Kurzzeitgedächtnis ist in diesem Falle lediglich die Untersuchung von Gedächtnisphänomenen im Bereich kurzer, in der Regel nur einige Sekunden umfassende Behaltensintervalle gemeint; der Langzeitgedächtnisforschung werden dagegen Untersuchungen zugeordnet, die über diesen Bereich respektive einige wenige Minuten hinausgehen (vgl. Kintsch 1982). (zurück)
(2) Sowohl in der Ebbinghaus-Ausgabe von 1966 als auch in der von 1985 (S. 64 f. bzw. 40 f.) ist in der zur Abbildung zugehörigen Tabelle eine Silbenreihe von 26 angeführt, während in der Abbildung eine Silbenlänge von 36 eingetragen ist, ich habe mich bei der Erstellung der Graphik auf die Abbildung bezogen. (zurück)
(3) Zur Interpretation verschiedener Funktionen im Zusammenhang mit seriellem Lernen vgl. Derks (1974, S. 336). (zurück)
(4) Die meisten Schätzungen beziehen sich auf Kapazitätsschätzungen bezogen auf die Anzahl einzuprägender Informationen, nicht auf dessen zeitliche Kapazität, Ausnahme ist hier Rohracher, der die zeitliche Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses "mit Vorsicht [...] auf maximal 8 bis 10 Sekunden" (Rohracher 1984, S. 276) schätzt. (zurück)
(5) Zum Modell der Erregungskreise vgl. Sinz (1977, S. 218 f.); hier werden nicht nur experimentelle Befunde hierzu mitgeteilt, es wird auch die historische Vorstellung eines diesen Prozessen zugrundeliegenden "Mechanismus" kritisch diskutiert. (zurück)
(6) Häufig werden in diesem Zusammenhang auch Korsakoff-Patienten als "Beleg" genannt; allerdings sind die Resultate hier keinewegs so eindeutig interpretierbar wie die aus Untersuchungen an bsplsw. neurochirurgisch behandelten Patienten erzielten Ergebnisse (vgl. hierzu auch Ellis und Young 1993). (zurück)
(7) Waugh und Norman (1965) haben ein quantitatives Modell zur Trennung von primärem und sekundärem Gedächtnis entwickelt, auf das hier jedoch nicht eingegangen werden kann. Ein Merkmal dieses Modells ist, daß die Reproduktion eines Items sowohl aus dem primären Gedächtnis als auch aus dem sekundären Gedächtnis heraus erfolgen kann, die aus Experimenten gewonnenen Daten also niemals als reine "Kurzzeitspeicherleistung" betrachtet werden können. Experimentelle Evidenz findet sich hierfür unter anderem bei Buschke (1968), wir werden diesem Umstand aber auch bei der Diskussion um den "wahren" Umfang der unmittelbaren Gedächtnisspanne wiederbegegnen. (zurück)
(8) Der Versuchsplan läßt sich folgendermaßen skizzieren: Es wurden 10 Wörter umfassende Listen mit einer Darbietungsgeschwindigkeit von 3 Sekunden /Item und einem Interstimulusintervall (ISI) von etwa zwei Sekunden in jeweils vier Lerndurchgängen dargeboten, nach jedem trial wurde eine Zahlenseqünz vorgelesen, welche die Probanden in 8 Sekunden schriftlich wiederzugeben hatten, erst dann folgte die Reproduktion der Itemliste; die Probanden erhielten nach einem durch eine Distraktortätigkeit gefüllten Zeitintervall von 15 Minuten erneut Gelegenheit zur Reproduktion. (zurück)
(9) Ein Beispiel zur Charakterisierung des Kurzzeitspeichers (begrenzte Kapazität, Fragilität und "rehearsal") wird immer wieder genannt: das Merken von Telephonnummern. So können wir uns längere Telephonnummern (größer 6 oder 7 Ziffern) häufig nur sehr schwer merken, merken wir sie uns doch, so behalten wir die Informationen durch ständiges Wiederholen, wobei jedoch die kleinste Störung bereits zum kompletten Vergessen dieser Telephonnummer führen kann. (zurück)
(10) Sehr kritisch setzt sich auch Rohracher
(1984), übrigens vor (!) Craik und Lockhart (1972), mit dem
Begriff des Kurzzeitgedächtnisses auseinander und vertritt eine,
wie ich finde, ganz ähnliche Position wie diese Autoren, wenn er
schreibt:
"Vielleicht kann man mit dem Begriff der Einprägung den
Unterschied zwischen den beiden Gedächtnisarten am klarsten
darstellen: Kurzzeit-Gedächtnis ist Wiedergabe ohne
Einprägung,Langzeitgedächtnis ist Wiedergabe auf Grund von
Einprägung. Wenn man will, kann man statt von Einprägung
von Speicherung sprechen.[...] Der Begriff
Kurzzeit-Gedächtnis wäre entbehrlich, weil die Annahme
eines eigenen Kurz-Speichers mit begrenzter Kapazität nicht
bewiesen und überdies überflüssig ist. Man wird diesen
Begriff aber nicht mehr aus der Psychologie verbannen können -
halbrichtige verwirrende Begriffe mit Schlagwortcharakter halten sich
mit erstaunlicher Kraft. Wenn man ihn verwendet, dann am besten in
der Bedeutung Gedächtnis ohne Einprägung " (Rohracher 1984,
S. 276 f.; Kursivhervorhebung von Rohracher). Möglicherweise
läßt sich auch Ebbinghaus (1908, S. 81 f.) in diesem
Zusammenhang anführen, wenngleich hier stärker Abruf- als
Enkodierungsprozesse betont werden: "Einmal sind es die Erlebnisse
von starkem Gefühlswert, deren Reproduktion besonders
begünstigt ist. Ein glänzender Erfolg, aber ebenso eine
schwere Kränkung vergessen sich so leicht nicht; das
Bewußtsein von ihnen liegt sozusagen auf der Lauer, um bei der
geringfügigsten Veranlassung lebendig zu werden. Dabei
überwiegt [...] der Lustwert der Vorstellungen.
[...] Sodann ist die jeweilige Gesamterfüllung des
Bewußtseins maßgebend für die weitere Richtung des
Vorstellungsverlaufes: unter sonst gleichen Umständen wird am
leichtesten bewußt, was in der Gesamtheit der gegenwärtig
wirksamen Eindrücke die meisten Anknüpfungspunkte
hat". (zurück)
(11) Der levels-of-processing-Ansatz ist seinerseits ebenfalls in Kritik geraten, Grund hierfür war zum einen, daß bislang kein befriedigendes Maß für Verarbeitungstiefe gefunden werden kann (Zirkularitätsproblem), zum anderen aber auch, daß "tiefe" Verarbeitung nicht, wie nach diesem Ansatz zu fordern wäre, immer eine bessere Gedächtnisleistung nach sich zieht, sondern daß diese auch von der Art der Gedächtnisprüfung abhängig ist (vgl. hierzu auch Eysenck 1993); zudem ist dieser Ansatz noch weitaus weniger in der Lage, bestimmte neuropsychologische Phänomene zu erklären (vgl. Baddeley 1990). (zurück)
"that these slave systems [gemeint sind PL und VSSP, K.-M.Klein] are in fact activity-based strategic control processes, and not memories in strict sense". Um ihre Auffassung zu untermauern, zeigen sie, daß ein unabhängig von der artikulatorischen Schleife funktionierendes und keinerlei 'geistige Kapazität' beanspruchendes "slave system" wie beispielsweise eine "finger loop" eingesetzt werden kann, welches die Gedächtnisspannenleistung um bis zu 50 % zu steigern vermag. (zurück)
(13) Baddeley favorisiert in diesem Zusammenhang den Gebrauch des Begriffs "phonologische Schleife" gegenüber dem der "artikulatorischen Schleife". Dies wird folgendermaßen begründet: Der Begriff "artikulatorisch" deutet eine direkte Beziehung zu "Artikulation" an, tatsächlich konnte aber aufgrund einer Reihe von Studien gezeigt werden, daß Dysartrie-Patienten, also Menschen, die an einer zentralnervalen Koordinationsstörung der Aussprache leiden (im Unterschied beispielsweise zur Dyslalie), selbst in den schwersten Fällen und selbst dann, wenn diese Menschen von Geburt an daran leiden, über weitgehend normale Arbeitsgedächtnisfunktionen, inclusive des phonologischen Ähnlichkeits- oder des Wortlängeneffektes, verfügen (vgl. Baddeley 1990, Pschyrembel 1986). (zurück)
(14) Es kommt zu einer Verwechslung und nicht zu einer "Überschreibung" der Gedächtnisspuren. Diese Verwechslung wirkt sich nicht auf die Reproduktionsleistung "an sich" aus, sondern auf die Reproduktion in korrekter Reihenfolge (vgl. hierzu auch Wickelgren 1965). (zurück)
Quelle: http://www.psychologie.uni-bonn.de/allgm/projekte/dfg_arb/kzg.htm
(97-04-04)