Klaus-Martin Klein

Das Kurzzeitgedächtnis


Zur Geschichte des Konzeptes "Kurzzeitgedächtnis"

In der (experimentellen) Gedächtnispsychologie ist es üblich geworden,verschiedene Gedächtnissubsysteme voneinander zu unterscheiden. Die populärste Unterscheidung stellt dabei wohl die Unterscheidung zwischen einem Kurzzeitgedächtnissystem und einem Langzeitgedächtnissystem dar (1). Diese Unterscheidung ist dabei alles andere als neu. Schon William James (1890, nach Kintsch 1982), Bruder des Schriftstellers Henry James, unterschied zwischen einem primären und einem sekundären Gedächtnis. Informationen im primären Gedächtnis sind bewußt, sie zu reproduzieren gelingt ohne Mühe; die Anzahl Items, die auf diese Weise im Gedächtnis gehalten werden können, ist dabei auf einige wenige begrenzt. Im sekundären Gedächtnis befindliche Informationen sind dagegen nicht bewußt, sie wiederzugeben setzt oft aktive Suchprozesse voraus; es gibt Evidenz dafür, daß die Kapazität dieses Gedächtnissystems "unbegrenzt" ist und daß dessen Gedächtnisinhalte -sieht man einmal von den Auswirkungen traumatischer Ereignissen etc. ab- nicht verlorengehen (vgl. Anderson 1988).

Ebbinghaus (1885) bemerkte ebenfalls, daß je nach Umfang des zu lernenden Itemmaterials unterschiedliche Gedächtnisprozesse abzulaufen schienen. Konnten sieben, aus Konsonant-Vokal-Konsonant-Kombinationen zusammengesetzte "sinnlose" Silben (KVK) nach lediglich einer Darbietung in jedem Fall vollständig korrekt reproduziert werden, so gelang dies bei einer 12 KVK-Silben umfassenden Liste höchstens noch für wenige Silben:
"Man kann fragen: Wie groß ist diejenige Zahl von Silben, welche unmittelbar nach einmaligem Durchlesen derselben gerade noch fehlerlos hergesagt werden kann? Für mich beträgt diese Anzahl ziemlich genau 7 Silben. Es gelingt zwar auch oft, 8 Silben wiederzugeben, aber nur zu Anfang der betreffenden Versuche und im ganzen in der großen Minorität der Fälle. Bei 6 Silben andererseits kommt sozusagen nie ein Fehler vor; bei ihnen ist also ein aufmerksames einmaliges Durchlesen schon zuviel Energieentfaltung für eine unmittelbar darauf folgende Reproduktion. [...] Um Reihen von 6, 5, 4 usw. Silben auswendig hersagen zu können, ist natürlich immer ein einmaliges Durchlesen derselben erforderlich, aber dasselbe braucht (für mich) nicht, wie bei 7 Silben, mit möglichst gespannter Aufmerksamkeit zu geschehen, sondern kann immer flüchtiger sein, um je weniger Silben es sich handelt." (Ebbinghaus 1985, S. 40 f.).

Über die Anzahl Items hinaus, die nach einmaliger Darbietung korrekt reproduziert werden konnten, benötigte Ebbinghaus für jedes weitere zusätzliche Item etwa 2.4 Wiederholungen zum Erlernen der Liste (vgl. Abbildung 1) (2); Derks (1974) konnte zeigen, daß für serielle Reproduktion die Lernzeit am besten durch eine Potenzfunktion mit dem Exponenten 2.6 der Anzahl zu reproduzierender Items beschrieben werden kann (3).



Abbildung 1: Anzahl der in den Selbstversuchen Ebbinghaus' zum Lernen einer Silbenliste notwendigen Wiederholungen in Abhängigkeit von der Listenlänge (nach Ebbinghaus 1985, S. 40 f.).


Bei der also offensichtlich begrenzten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses bleibt zu fragen, worauf diese Begrenzung zurückzuführen ist (4). Wundt (1905) zufolge hängt die Kapazitätsbegrenzung, die er, nach einmaliger Darbietung, ebenfalls bei etwa 6 Items festmacht, vor allem von der Anzahl bzw. Organisation der Items, jedoch nicht von deren Umfang oder -mit einem für Wundt unbekannten Begriff- Informationsgehalt ab (vgl. hierzu auch Miller 1956):
"[...] Da nun aber auch noch eine Anzahl zeitlich aufeinander folgender Eindrücke, wenn sie hinreichend klein ist, unmittelbar, gleich einem simultan gegebenen Ganzen, von der Aufmerksamkeit erfaßt werden kann, so lassen sich solche Bestimmungen des Aufmerksamkeitsumfanges leicht auch bei zeitlichen Vorstellungen, speziell Gehörvorstellungen, unter geeigneten Bedingungen, namentlich bei geeigneter Schnelligkeit der Zeitfolge, ausführen. Die auf solche Weise ausgeführten Versuche ergeben für den Umfang der Aufmerksamkeit einen unter diesen wechselnden Bedingungen sehr konstanten Maximalwert von sechs einfachen Eindrücken, für den des Bewußtseins in dem oben angedeuten relativen Sinne dagegen einen solchen, der zwischen 6 und 40 einfachen Eindrücken, je nach der Zusammensetzung und Gliederung der zum Maße dienenden Gesamtvorstellung, variiert" (Wundt 1905, S.255).
"Diese Versuche sowie die analogen mit aufeinander folgenden Gehörseindrücken lehren, daß jener Umfang nur dann bei gleichbleibender maximaler Spannung der Aufmerksamkeit eine konstante Größe ist, wenn die Eindrücke nicht zu zusammengesetzteren verbunden sind, wie isolierte Linien, Ziffern, Buchstaben oder rhythmisch nicht gegliederte Taktschläge. Auch für den Tastsinn scheint derselbe Maximalumfang 6 zu gelten, mit dem Unterschied, daß bei ihm nur die einfachsten dieser Eindrücke, die Punkte, günstigstenfalls in der Sechszahl zusammengefaßt werden können, eine Eigenschaft, von der offenbar die Punktschrift der Blinden praktischen Gebrauch macht" (Wundt 1905, S. 256; das Beispiel mit den Taktschlägen wird bei Wundt (1905) auf S. 260 f. ausführlich erläutert).

Für die Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis zur Mitte der 50er Jahre ergaben sich von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die bei der Darstellung der Paradigmata des Kurzzeitgedächtnisses ausführlicher eingegangen werden soll, kaum Erkenntnisfortschritte; für die Kurzzeitgedächtnisforschung ab Mitte der 50er Jahre sind vor allem Erkenntnisse der experimentellen Neuropsychologie und das Aufkommen der Informationstheorie entscheidend geworden (vgl. hierzu zum Beispiel Ellis & Young 1993, Herrmann 1966, Hieden-Sommer 1972, Markowitsch 1992, Mecklinger 1992, Sala, Logie, Marchetti & Wynn 1991, Shimamura, Janowsky, & Squire 1990).

Neuropsychologische Evidenz

Die Grundfunktion des Langzeitgedächtnisses ist, um mit Klix (1977, S. 77) zu sprechen, "... in der zeitstabilen und störresistenten Einlagerung von Informationen, die aus äußeren oder inneren Rezeptorregionen in zentralen Abschnitten des Nervensystems eintreffen", zu sehen. Für diese daürhaften "Einlagerungen" von Gedächtnisinhalten im Cortex werden inter- und intrazelluläre Veränderungen als entscheidend angesehen: Es finden Veränderungen chemischer und/oder physiologischer Art an den Synapsen, aber auch im Zellinneren statt, hier beispielsweise durch vermehrte Bildung von RNS- Molekülen (Wendt 1989, S. 183; Klix 1977, S. 61, ausführlich auch Rohracher (1971) und Birbaumer & Schmidt 1991).

Solche Veränderungen benötigen Zeit. Hebb (1949) zufolge ist zur Gewährleistung solcher strukturellen Änderungen ein "Mechanismus" erforderlich, der die aufgenommenen Informationen durch organismusinterne Wiederholung (rehearsal) solange hält, bis diese Veränderungen eingetreten sind. Dieser Mechanismus entspricht dem Kurzzeitgedächtnis, als zugrundeliegende physiologische Strukturen werden dabei neuronale, sich selbst wiedererregende Kreisprozesse postuliert (5). Der Übertragungsvorgang vom Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis und damit die Bildung einer dauerhaften Gedächtnisspur wird als "Konsolidierung" bezeichnet (vgl. Birbaumer und Schmidt 1991, Hartje und Sturm 1982, Hauss, Dentler, Neidenbach, Stegemann & Völkel 1981), die gebildeten Gedächtnisspuren auch als "strukturelle Spuren" (structural trace), "Engramme" oder "Neurogramme" (vgl. Hauss et al. 1981, Dorsch 1987 oder Wendt 1989).

Der neuropsychologische Ansatz geht nun von der Annahme unterschiedlicher "Module" (physiologische Korrelate kognitiver Prozesse) im (menschl.) Gehirn aus, die -mehr oder weniger!- unabhängig voneinander arbeiten (klassisches Beispiel hierfür ist motorische vs. sensorische Aphasie). Demzufolge kann eine Hirnverletzung die Funktionsweise eines oder einiger solcher Module beeinflussen, während andere Module hierdurch völlig unbeeinflußt bleiben. Sollten sich also hirnverletzte Patienten finden lassen, die schlechte Leistungen im Kurzzeitgedächtnis und normale oder sogar gute Leistungen im Langzeitgedächtnis aufweisen, während sich bei anderen Patienten das genau umgekehrte Muster aufzeigen läßt, so gibt es, aus Sicht der Neuropsychologen, Evidenz für die Existenz zweier unabhängiger Gedächtnissubsysteme, möglicherweise auch für deren physiologisches Korrelat (6).

Weitgehende Übereinstimmung besteht darin, daß vor allem die bedeutendste Struktur innerhalb des limbischen Systems, die Hippocampus-Formation (Cornu ammonis, Subiculum und Fascia dendata), für die dauerhafte Speicherung in das Langzeitgedächtnis verantwortlich zu machen ist (vgl. Hartje & Sturm 1982, S.145 ff., Wendt 1989).

Berühmtestes Fallbeispiel ist der Patient H.M., der, an schweren, medikamentös nicht oder kaum behandelbaren epileptischen Anfällen leidend, siebenundzwanzigjährig einer Operation unterzogen wurde, bei der bilateral die medialen Teile des Temporallappens (vor allem Hippocampus, Gyrus hippocampalis, Uncus und Nucleus amygdalä) unter Aussparung neocorticaler Strukturen entfernt wurden, was tatsächlich zu einer drastischen Reduzierung der Häufigkeit epileptischer Anfälle führte (vgl. Milner 1970). Während Sprachverständnis und Sprachproduktion auch nach der Operation intakt blieben, bei den Intelligenztestleistungen -Indikator für semantisches Gedächtnis- sogar eine Steigerung von 104 auf 118 Wechsler-IQ-Punkte zu konstatieren war (vgl. Milner 1970, Wickelgren 1968), zeigten sich massive Gedächtnisstörungen im Bereich des episodischen Gedächtnisses, genaür: Bei intaktem Kurzzeitgedächtnis (sowohl für verbales als auch für nonverbales Itemmaterial) und weitgehend intaktem episodischem Langzeitgedächtnis für Ereignisse vor der Operation konnten neue Informationen nicht längerfristig behalten werden (Milner 1966, Baddeley und Warrington 1970):
"However, the main conclusion from our study, and from those of others (e.g. Milner, 1966), was that patients suffering from the amnesic syndrome may show normal STS coupled with grossly defective LTS" (Baddeley 1990, S. 59; STS und LTS stehen für Short- bzw. Long-Term-Store).

Natuerlich könnte aufgrund dieser Befundlage auch einfach der Schluß gezogen werden, daß Kurzzeitgedächtnisaufgaben leichter und durch traumatische Ereignisse weniger störbar sind als Aufgaben aus dem Bereich des Langzeitgedächtnisses. Tatsächlich ließ sich dieses Argument durch den Fall eines anderen Patienten, K.F., widerlegen. Bei diesem Patienten zeigten sich Gedächtnisspannen von zwei bis drei Zahlen (ähnliche Ergebnisse für Buchstaben und Wörter), während K.F.'s Leistungen im Paradigma der freien Reproduktion gute Leistungen im primacy-Bereich, jedoch stark beeinträchtigte Leistungen im recency-Bereich aufwies (vgl. Shallice & Warrington 1970, Baddeley 1990). Spätere Untersuchungen an diesem Patienten zeigten übrigens, daß die Kurzzeitgedächtnisleistungen vor allem bei auditiv dargebotenen verbalem Material beeiträchtigt waren, hingegen zeigte K.F. bei bedeutungsvollen Klängen oder Geräuschen wie Katzenmiauen oder Telephonklingeln normale Kurzzeitgedächtnisleistungen (vgl. Ellis & Young 1993).

Experimentelle Evidenz

Evidenz für die Existenz zweier (weitgehend) unabhängiger Gedächtnisspeichersysteme ergibt sich auch aus einer Fülle experimenteller Untersuchungen. Zu den stärksten Argumenten gehören die Befunde zum sogenannten recency-Effekt (Rezenzeffekt).

Was ist darunter zu verstehen? Probanden werden Listen von verbalem Itemmaterial dargeboten, die sie frei reproduzieren sollen. Typisches Ergebnis derartiger Untersuchungen ist dabei, daß die letzten Items der dargebotenen Liste, also diejenigen Items, welche mutmaßlich zumindest auch noch bewußt gehalten werden (7), am besten reproduziert werden -daneben gibt es auch einen Gedächtnisvorteil für die zuerst dargebotenen Items einer Liste, den sogenannten primacy-Effekt. Es fragt sich natürlich, auf welche Weise dieser Effekt als Effekt des Abrufs aus dem Kurzzeitspeicher nachgewiesen werden kann; es sollte dann möglich sein, experimentell nur die Reproduktion der jüngst dargebotenen Listenitems zu beeinflussen, diese Manipulation sollte jedoch keinerlei Einfluß auf die Reproduktion erster oder mittlerer Listenelemente haben. Tatsächlich ließ sich die Verzögerungszeit nach Listendarbietung als eine derartige Variable ausmachen. Glanzer und Cunitz (1966) konnten zeigen, daß bei mit einer Distraktortätigkeit gefüllten Verzögerung der freien Reproduktion sich diese lediglich auf die Reproduktionshäufigkeit der letzen Items auswirkt: Zeigt sich bei 0 Sekunden Verzögerung der typische recency-Effekt, so ist er bei einer Verzögerung der Reproduktion von 15 Sekunden deutlich gemindert und verschwindet nach einem Intervall von 30 Sekunden völlig; verschiedene Varianten dieser Technik, so die von Murdock (1963), Murdock (1965) oder die im Paradigma des Paarassoziationslernens durchgeführte Untersuchung von Tulving und Arbuckle (1963) bestätigen den referierten Befund, sollen hier aber nicht weiter besprochen werden.

Umgekehrt zeigten die gleichen Autoren (Glanzer & Cunitz, 1966), daß mit zunehmender Darbietungsdauer je Item die Reproduktionsleistung für die ersten Listenitems erhöht werden kann, während die Manipulation dieser Variablen keinen Effekt auf die "recency-Items" der Liste hat.

Weitere Evidenz für die Unterscheidung dieser zwei Gedächtnissubsysteme ergaben Untersuchungen zu sogenannten "Ähnlichkeiteffekten", die auf entsprechende Kodierungen bzw. Eigenschaften der Gedächtnisspuren als Resultat dieser Kodierungen verweisen. Eine Fülle von Untersuchungen konnte so die Hypothese unterstützen, daß -unabhängig von der Darbietungsmodalität- Versuchspersonen die ihnen dargebotenen Items bei kurzem Behaltensintervall phonetisch kodieren. So konnten Conrad und Hull (1964) zeigen, daß die Reproduktionsleistung auditiv ähnlicher Buchstaben wie P, D, C, T sehr viel geringer ausfiel als die auditiv unähnlicher Buchstaben wie K, Z, W, R, wobei Wickelgren (1965) zeigen konnte, daß die akustische Ähnlichkeit sich vor allem auf die Reproduktion der Reihenfolge (order) der dargebotenen Buchstaben auswirkt. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist vor allem ein Experiment von Baddeley (1966, Experiment I): Im Paradigma der unmittelbaren Gedächtnisspanne wurden den Probanden Listen phonologisch ähnlicher Worte (man, mad, can, cap, map) versus phonologisch unähnlicher Worte (day, bar, pen, sup, pit) respektive semantisch ähnliche Worte (big, broad, long, tall, huge) versus bedeutungsunähnlicher Worte (old, deep, foul, late, save, strong) dargeboten.



Abbildung 2: Der Einfluss akustischer Ähnlichkeit und Bedeutungsähnlichkeit auf die Reproduktion im Paradigma der unmittelbaren Gedächtnisspanne (nach Baddeley 1966, S. 362, Experiment I).


Wie die Abbildung 2 verdeutlicht, beeinträchtigt die akustische Ähnlichkeit die Reproduktionsleistung ganz massiv, während semantische Ähnlichkeit die Gedächtnisleistung nur unwesentlich schmälert. Allerdings weist Baddeley (1966) selbst darauf hin, daß hier die akustische Ähnlichkeit mit formaler Ähnlichkeit -ähnlich klingende Wörter haben gewisse Buchstaben gemein- konfundiert ist, weshalb in einem Folgeexperiment (ebenfalls Baddeley 1966) die Auswirkungen akustischer Ähnlichkeit bei relativer Unähnlichkeit der Buchstabenstruktur (sort, taut, wart etc.) sowie formaler Ähnlichkeit bei realtiv unähnlicher Aussprache (rough, through, bough etc.) einer Liste aus Kontrollwörtern gegenüber untersucht wurden. Auch hier zeigte sich, daß akustische Ähnlichkeit die stärksten Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistungen zur Folge hatten, war die Beeinträchtigung mit 36.5 % auch nicht so massiv wie die im Ausgangsexperiment. Der Reproduktionsleistung für formal ähnliche Worte von 55.8 % stand eine Leistung von 63.5 % bei den Kontrollwörtern gegenüber.

Umgekehrt zeigte sich bei einer Langzeitgedächtnisuntersuchung (Baddeley 1966, Experiment III) (8), daß semantische Ähnlichkeit des Wortmaterials im Unterschied zu akustischer Ähnlichkeit einen stark negativen Einfluß auf die Reproduktionsleistung hatte, was Baddeley (1990, S. 55) zu folgender Schlußfolgerung veranlasst: "... these results suggested the simple generalization that the short-term store relies on a phonological code, while the long-term store is primarily concerned with meaning".

Das "modale Gedächtnismodell" von Atkinson und Shiffrin (1968)

Der wohl bedeutendste Versuch, die Evidenzen für eine Separierung von Kurzzeit- und Langzeitspeicher in einem Modell zu integrieren, stammt -in Weiterentwicklung eines Gedächtnismodells von Broadbent (1958)- von Atkinson und Shiffrin (1968). Ihrem Modell zufolge werden "Umgebungsinformationen" zunächst parallel in einer Reihe von "sensorischen Registern" visueller, akustischer, haptischer Art etc. verarbeitet. Von hier aus werden die Informationen in einen Kurzzeitspeicher ("short-term store") mit begrenzter Kapazität -ähnlich einem Flaschenhals- überführt, in welchem die Items in einem recht "fragilen" Zustand gehalten werden. Seinerseits steht der Kurzzeitspeicher in Verbindung zu einem "permanenten" Speicher, dem Langzeitspeicher ("long-term store").

In dem modalen Gedächtnissystem von Atkinson und Shiffrin kommt dem Kurzzeitspeicher, den die Autoren übrigens bereits als "working memory" (Atkinson & Shiffrin 1968, zum Beispiel S. 90 oder S. 92) bezeichnen, entscheidende Bedeutung zu: Obgleich die Autoren die Möglichkeit offenlassen, daß ein Informationstransfer auch von den sensorischen Registern in den Langzeitspeicher erfolgen kann (vgl. Atkinson & Shiffrin 1968, S. 94), gelangen ihrem Modell zufolge Informationen nur über den Kurzzeitspeicher in den Langzeitspeicher. Über das Speichern von Informationen kommen dem Kurzzeitspeicher, wie auch aus der Abbildung 3 ersichtlich wird, gewisse Kontrollprozesse zu, was dieses Modell beispielsweise von dem von Waugh und Norman (1965) unterscheidet (vgl. hierzu auch Kintsch 1982). Einer dieser Kontrollprozesse ist das sogenannte "rehearsal", mit dessen Hilfe Informationen in diesem Speicher gehalten werden können; den Autoren zufolge steigt mit der Dauer, mit der Informationen im Kurzzeitspeicher gehalten werden können, die Wahrscheinlichkeit dafür an, daß diese Informationen entweder in den Langzeitspeicher transferriert oder aber kopiert werden (9). Items, die nicht memoriert werden, werden als Resultat einer Ersetzung durch neue Items oder Entfernung aus dem Speicher vergessen.



Abbildung 3: Das "modale Gedächtnissystem von Atkinson und Shiffrin (1968). Abbildung nach Atkinson und Shiffrin (1968, S.93) und Baddeley (1990, S. 60).


Das Modell von Atkinson und Shiffrin erlaubt eine Reihe überraschender, zuweilen sogar kontraintuitiver Prognosen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. hierzu Atkinson und Shiffrin 1968, S. 147 ff.; Kintsch 1982).

Kritik der Mehrspeicherkonzeptionen

Kritik ist an den Mehrspeichermodellen -hiermit ist zum einen die grundsätzliche Zweiteilung unseres Gedächtnissystems in ein primäres respektive sekundäres Gedächtnis gemeint, zum anderen aber auch die auf dieser Zweiteilung aufbauenden Konzeptionen wie beispielsweise die von Atkinson und Shiffrin (1968)- aufgrund einer Fülle von Resultaten empirischer Untersuchungen erhoben worden.

Die eine Argumentationsstrategie richtet sich gegen die vermeintliche neuropsychologische Evidenz. So sollte eine Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses ebenfalls eine Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses nach sich ziehen, was, wie der schon bereits beschriebene Fall K.F. zeigt, widerlegt werden konnte. Auch sind die Beeinträchtigungen des H.M. keinesfalls so absolut, wie man lange Zeit glauben wollte, vielmehr zeigte sich bei Einsatz indirekter, also abrufsensitiver Gedächtnistests häufig, daß Gedächtnisleistungen vorhanden waren, wenn sich H.M. darüber auch nicht bewußt wurde (vgl. Milner 1970).

Die andere Argumentationsstrategie setzt die aus den experimentellen Befunden gezogenen Schlüsse in Frage. Hierfür ein Beispiel: Mehrspeicherkonzeptionen zufolge wird der recency-Effekt auf den Abruf aus dem primären (aber auch aus dem sekundären) Gedächtnis zurückgeführt. Eine Untersuchung von Bjork und Whitten (1974) zeigte jedoch, daß diese Interpretation anfechtbar ist: Sie boten ihren Probanden Wortlisten unter vier experimentellen Bedingungen dar: a) unmittelbare Reproduktion nach Listendarbietung, b) Reproduktion nach Distraktortätigkeit von 30 Sekunden, c) unmittelbare Reproduktion nach Darbietung, jedoch Lösen von Rechenaufgaben 12 Sekunden vor und nach Darbietung eines jeden Items und d) Reproduktion erst nach 30 Sekunden Distraktortätigkeit, ansonsten wie c). Die Distraktortätigkeit vor und nach Darbietung eines jeden Items sollte den Mehrspeicherkonzeptionen zufolge zum Zusammenbruch des recency-Effektes führen. Stattdessen zeigte sich sowohl unter Bedingung c) als auch d) ein deutlicher recency-Effekt, den die Autoren als Tendenz der Vpn interpretieren, die letzten dargebotenen Items als erste wiederzugeben, wenn man so will: ein "last-in-first-out-Prinzip".

Ganz ähnlich zeigte sich auch, daß die Untersuchungen zu phonologischen versus semantischen Ähnlichkeitseffekten die Realität zu sehr vereinfachten. Baddeley (1990, S. 64) faßt die Ergebnisse hierzu wie folgt zusammen:
"Within laboratory tasks, it was becoming increasingly clear that the nature of the task would determine whether or not a subject would use semantic coding.[...] In short, subjects will encode verbal material meaningfully if they can do in the time available, and will reflect this by showing semantic similarity effects. If not, they rely on phonological coding and show phonological similarity effects."

Die Kritik kulminierte schließlich in dem von Craik und Lockhart (1972) propagierten levels-of-processing-Ansatz, demzufolge für die Behaltensleistung keinesfalls hypothetische Speicherstrukturen als vielmehr die Art und das Ausmaß der Elaboration des Itemmaterials ausschlaggebend sind (10). Beispielhaft sei hier eine Untersuchung von Hyde und Jenkins (1973) angeführt, nach der eine Gruppe eine Liste von Wörtern dahingehend zu überprüfen hatte (oberflächliche Verarbeitung), ob diese jeweils einen bestimmten Buchstaben enthalten oder nicht, während die andere Gruppe die gleichen Items in Bezug auf deren Angenehmheit zu überprüfen hatten (tiefere Verarbeitung). Tatsächlich zeigte sich eine bessere Reproduktionsleistung für das elaborierter verarbeitete Material (11).

Die Konzeption eines Arbeitsgedächtnis (working memory)

"Graham Hitch and I decided to try and tackle this problem by asking the basic question of "What is STS for?" We decided that if the answer was that if merely served to keep experimental psychologists occupied, we would choose to occupy ourselves in other ways." Baddeley (1990, S. 68).

Bereits der Kurzzeitspeicher im modalen Gedächtnismodell Atkinsons und Shiffrins (1968) war als working memory konzipiert worden, dem bei einer Fülle kognitiver Aufgaben zentrale Bedeutung im Sinne eines zeitweiligen Haltens bzw. Veränderns von Informationen zugesprochen wurde. Hiervon ausgehend entwickelten Baddeley und Hitch (1974) bzw. Baddeley (1986, 1990) die Idee eines aus verschiedenen Subkomponenten zusammengesetzen Kurzzeitgedächtnisses im Sinne eines "work space" (Reisberg, Rappaport & O'Shaughnessy 1984, S. 203), das -im Unterschied zu dem statischen Modell Atkinsons und Shiffrins (1968)- in sehr dynamischer Weise Informationen verwaltet und verarbeitet, also nicht nur zur kurzfristigen Speicherung und Verarbeitung von Informationen bzw. als temporäres und selektives "Fenster" des Langzeitspeichers zu verstehen ist, sondern Raum für Prozesse wie Entscheidungen, Problemlösen etc. bietet.

Evidenz hierfür gaben eine Reihe von Untersuchungen im dual-task-Paradigma, bei denen Vpn zum einen mit das Kurzzeitgedächtnis belastenden und "ausfüllenden" Gedächtnisspannenversuchen und gleichzeitig zum Beispiel mit einer Entscheidungsaufgabe (o.ä.) konfrontiert wurden. Interessanterweise führten solche Versuche keineswegs zu katastrophalen Ergebnissen bei mindestens einer dieser Aufgaben, wie nach dem modalen Gedächtnismodell zu erwarten gewesen wäre, zwar stieg die Bearbeitungszeit deutlich in Abhängigkeit von der in der Gedächtnisspannenaufgabe verwandten Anzahl von Items, die Fehlerquote blieb konstant gering. Baddeley (1990, S. 68) beschreibt das Vorgehen seiner Versuchspersonen so:
"We also began by presenting the digits, requiring the reasoning or memory task, and then asking for digit recall. Under these circumstances, however, we found the subjects tended to adopt a strategy of rapidly rehearsing the digits, then switching attention to the reasoning or learning task, before returning to pick up whatever they could of the trace of the digits."

Klassische Mehrspeicherkonzeptionen weisen hier ein Erklärungsdefizit auf, müßte doch diesen Konzeptionen zufolge eine die Kapazität des Kurzzeitspeichers (fast) vollständig ausfüllende Anzahl von sechs oder acht Zahlen nur wenig oder aber auch gar keinen Raum mehr für die Bearbeitung zum Beispiel von Denksportaufgaben lassen. Baddeleys Konsequenz aufgrund dieser Befunde ist, die Idee eines einheitlichen Kurzzeitspeichers aufzugeben zugunsten eines aus mehreren Subkomponenten zusammengesetzten Systems, das er als Arbeitsgedächtnis (working memory) bezeichnet. Im Mittelpunkt dieser Konzeption steht eine "Zentrale Exekutive" ("central executive" Baddeley 1990, S. 71), eher ein Aufmerksamkeits- als ein Gedächtnissystem und das bislang am wenigsten erforschte Subsystem des Arbeitsgedächtnisses. Die Konzeption der zentralen Executive ist dem SAS-Modell von Norman & Shallice (1986) angelehnt. Seine Funktion besteht vornehmlich in der Kontrolle und Koordination -mindestens- zweier Subsysteme (vgl. Baddeley 1990, S. 71), nämlich einer "Phonologischen Schleife" ("phonological loop", a.g.O.), zuständig für sprachliche Information, und einem "visüll-räumlichen Skizzenblock" ("visual-spatial sketch pad", a.g.O.), zuständig fuer die Aufnahme und Verarbeitung visueller Information. Abbildung 4 zeigt eine vereinfachte Form des Arbeitsgedächtnismodells von Baddeley (1986, 1990) (12).



Abbildung 4: Das working-memory-Modell von Baddeley (1986, 1990).


Mit Hilfe eines derartigen Modells sind oben erwähnte empirische Befunde erklärbar, hängt doch der Gedächtnisspannenumfang von der "Kapazität" der phonologischen Schleife ab, nicht jedoch von anderen Komponenten, die demnach für die Bearbeitung anderer Aufgaben zur Verfügung stehen. Etwas ausführlicher soll an dieser Stelle auf die phonologische Schleife eingegangen werden, da diese Komponente des Arbeitsgedächtnisses im Rahmen dieser Arbeit eine durchaus zentrale Rolle spielt.

Phonologische Schleife (13)

Dieses Subsystem des Arbeitgedächtnisses ist zur Zeit die am stärksten erforschte Komponente innerhalb Baddeleys Konzeption. Es enthält zwei Komponenten, nämlich einen "phonologischen Speicher" ("phonological store", Baddeley 1990, S. 72) und einen "artikulatorischen Kontrollprozeß" ("articulatory control process", Baddeley, a.g.O.), der auf innerem Sprechen basiert. Gedächtnisspuren innerhalb des phonologischen Speichers "verblassen" und sind nach einer Dauer, die Baddeley auf 1.5 bis 2 Sekunden schätzt, nicht wieder abrufbar, es sei denn, daß die Gedächtnisspur durch Einlesen in den artikulatorischen Kontrollprozeß -basierend auf subvokalem Wiederholen- und anschließendes erneutes Speichern "aufgefrischt" wird.

Evidenz für dieses System gibt es Baddeley zufolge aufgrund einiger empirischer Phönomene, die im folgenden skizziert werden sollen:

Wortlängeneffekt
Die Gedächtnisspanne wird durch die Zeit bestimmt, die dargebotenes Itemmaterial beim Sprechen benötigt. So können im allgemeinen einsilbige Wörter schneller gelesen werden als fünfsilbige Wörter, für einsilbige Wörter resultiert daraus eine höhere Gedächtnisspanne im Vergleich zu der fünfsilbiger Wörter. Aus den Ergebnissen verschiedener Untersuchungen, auf die in anderem Zusammenhang noch etwas genauer einzugehen ist, folgert Baddeley (1990, S. 74),
"that memory span represents the number of items of whatever length that can be uttered in about two seconds. As one might expect from this, there is a correlation between the rate at which a subject speaks and his or her memory span" (die Angabe von zwei Sekunden bezieht sich auf die "Zerfallszeit" innerhalb des phonologischen Speichers).
Natürlich könnte man einwenden, daß dieser Befund noch nicht als eine Evidenz für das working-memory-Modell anzusehen ist, da doch dieser Befund einfach auf die Anzahl der Silben und nicht auf die Sprechdauer zurückgeführt werden könne. Tatsächlich konnte jedoch gezeigt werden, daß bei der Verwendung von Wörtern gleicher Silbenzahl aber unterschiedlicher Sprechdauer in Gedächtnisspannenversuchen für die Wörter mit kürzerer Artikulationsdauer höhere Leistungen resultierten.
Artikulatorische Unterdrückung
Dieser Effekt besagt, daß die phonologische Schleife durch die Artikulation eines irrelevanten Items, wie zum Beispiel der andauernden Wiederholung eines irrelevanten Wortes wie "the" gestört wird, was, unabhängig vom Präsentationsmodus, eine Verminderung der Gedächtnisspannenleistung zur Folge hat. Im Rahmen der Baddeleyschen Theorie heißt dies, daß die Artikulation des irrelevanten Items den artikulatorischen Kontrollprozeß beherrscht, so daß dessen "eigentliche" Aufgaben nicht wahrgenommen werden können. Der mögliche Einwand, daß der artikulatorische Unterdrückungseffekt in Wahrheit ein Effekt der Aufmerksamkeitsbeanspruchung sei, kann unter anderem dadurch widerlegt werden, daß vergleichbar Aufmerksamkeit beanspruchende Leistungen wie "auf den Tisch klopfen" keinen Einfluß auf die Leistung im Gedächtnisspannenversuch haben (Baddeley, Lewis & Vallar 1984). Interessanterweise interagiert dieser Effekt zudem mit einem anderen, dem phonologischen Ähnlichkeitseffekt, dergestalt, daß der Ähnlichkeitseffekt im Falle visuell dargebotenen Itemmaterials verschwindet, vermutlich -so Baddeley (1990)- deshalb, weil aufgrund der artikulatorischen Unterdrückung der visuelle Code nicht in einen phonologischen übersetzt werden kann.
Phonologischer Ähnlichkeitseffekt
Das bereits beschriebene Phänomen wird innerhalb der Baddeleyschen Konzeption folgendermaßen erklärt: Der phonologische Speicher basiert auf einem phonologischen Code, so daß phonologisch ähnliche Items einen ähnlichen Code bekommen. Die Reproduktion der Items erfordert eine Unterscheidung zwischen den Gedächtnisspuren; da ähnliche Spuren schwerer voneinander unterscheidbar sind, resultiert daraus eine niedrigere Gedächtnisspannenleistung (14).
Chase (1977, nach Schweickert, Guentert & Hersberger 1990) fand, daß Versuchspersonen phonologisch ähnliche Items langsamer aussprechen als phonologisch unähnliche Items. So gesehen wäre der phonologische Ähnlichkeitseffekt als "Spezialfall" des Wortlängeneffektes zu betrachten. Hierfür spricht auch ein von Baddeley et al. (1975) mitgeteiltes Ergebnis, demzufolge sowohl der Wortlängen- als auch der phonologische Ähnlichkeitseffekt bei artikulatorischer Unterdrückung im Falle auditorischer Darbietung des Itemmaterials auftritt, nicht jedoch im Falle visüller Darbietung (beide Effekte sind hier nicht nachweisbar). Allerdings kommen Schweickert et al. (1990, S. 74) aufgrund einer eigenen Untersuchung zu dem Schluß, daß beide Faktoren unterschiedliche Komponenten betreffen: "In the equation s = rt, span equals pronunciation rate times trace duration, word length affects r while phonological similarity affects t".


Fußnoten

(1) Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß der Begriff "Kurzzeitgedächtnis" in der Gedächtnispsychologie keineswegs einheitlich gebraucht wird. So ist zu einer theoretischen Bedeutung, wie sie hier beschrieben wird, noch eine verfahrenstechnische hinzugekommen: Mit Kurzzeitgedächtnis ist in diesem Falle lediglich die Untersuchung von Gedächtnisphänomenen im Bereich kurzer, in der Regel nur einige Sekunden umfassende Behaltensintervalle gemeint; der Langzeitgedächtnisforschung werden dagegen Untersuchungen zugeordnet, die über diesen Bereich respektive einige wenige Minuten hinausgehen (vgl. Kintsch 1982). (zurück)

(2) Sowohl in der Ebbinghaus-Ausgabe von 1966 als auch in der von 1985 (S. 64 f. bzw. 40 f.) ist in der zur Abbildung zugehörigen Tabelle eine Silbenreihe von 26 angeführt, während in der Abbildung eine Silbenlänge von 36 eingetragen ist, ich habe mich bei der Erstellung der Graphik auf die Abbildung bezogen. (zurück)

(3) Zur Interpretation verschiedener Funktionen im Zusammenhang mit seriellem Lernen vgl. Derks (1974, S. 336). (zurück)

(4) Die meisten Schätzungen beziehen sich auf Kapazitätsschätzungen bezogen auf die Anzahl einzuprägender Informationen, nicht auf dessen zeitliche Kapazität, Ausnahme ist hier Rohracher, der die zeitliche Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses "mit Vorsicht [...] auf maximal 8 bis 10 Sekunden" (Rohracher 1984, S. 276) schätzt. (zurück)

(5) Zum Modell der Erregungskreise vgl. Sinz (1977, S. 218 f.); hier werden nicht nur experimentelle Befunde hierzu mitgeteilt, es wird auch die historische Vorstellung eines diesen Prozessen zugrundeliegenden "Mechanismus" kritisch diskutiert. (zurück)

(6) Häufig werden in diesem Zusammenhang auch Korsakoff-Patienten als "Beleg" genannt; allerdings sind die Resultate hier keinewegs so eindeutig interpretierbar wie die aus Untersuchungen an bsplsw. neurochirurgisch behandelten Patienten erzielten Ergebnisse (vgl. hierzu auch Ellis und Young 1993). (zurück)

(7) Waugh und Norman (1965) haben ein quantitatives Modell zur Trennung von primärem und sekundärem Gedächtnis entwickelt, auf das hier jedoch nicht eingegangen werden kann. Ein Merkmal dieses Modells ist, daß die Reproduktion eines Items sowohl aus dem primären Gedächtnis als auch aus dem sekundären Gedächtnis heraus erfolgen kann, die aus Experimenten gewonnenen Daten also niemals als reine "Kurzzeitspeicherleistung" betrachtet werden können. Experimentelle Evidenz findet sich hierfür unter anderem bei Buschke (1968), wir werden diesem Umstand aber auch bei der Diskussion um den "wahren" Umfang der unmittelbaren Gedächtnisspanne wiederbegegnen. (zurück)

(8) Der Versuchsplan läßt sich folgendermaßen skizzieren: Es wurden 10 Wörter umfassende Listen mit einer Darbietungsgeschwindigkeit von 3 Sekunden /Item und einem Interstimulusintervall (ISI) von etwa zwei Sekunden in jeweils vier Lerndurchgängen dargeboten, nach jedem trial wurde eine Zahlenseqünz vorgelesen, welche die Probanden in 8 Sekunden schriftlich wiederzugeben hatten, erst dann folgte die Reproduktion der Itemliste; die Probanden erhielten nach einem durch eine Distraktortätigkeit gefüllten Zeitintervall von 15 Minuten erneut Gelegenheit zur Reproduktion. (zurück)

(9) Ein Beispiel zur Charakterisierung des Kurzzeitspeichers (begrenzte Kapazität, Fragilität und "rehearsal") wird immer wieder genannt: das Merken von Telephonnummern. So können wir uns längere Telephonnummern (größer 6 oder 7 Ziffern) häufig nur sehr schwer merken, merken wir sie uns doch, so behalten wir die Informationen durch ständiges Wiederholen, wobei jedoch die kleinste Störung bereits zum kompletten Vergessen dieser Telephonnummer führen kann. (zurück)

(10) Sehr kritisch setzt sich auch Rohracher (1984), übrigens vor (!) Craik und Lockhart (1972), mit dem Begriff des Kurzzeitgedächtnisses auseinander und vertritt eine, wie ich finde, ganz ähnliche Position wie diese Autoren, wenn er schreibt:
"Vielleicht kann man mit dem Begriff der Einprägung den Unterschied zwischen den beiden Gedächtnisarten am klarsten darstellen: Kurzzeit-Gedächtnis ist Wiedergabe ohne Einprägung,Langzeitgedächtnis ist Wiedergabe auf Grund von Einprägung. Wenn man will, kann man statt von Einprägung von Speicherung sprechen.[...] Der Begriff Kurzzeit-Gedächtnis wäre entbehrlich, weil die Annahme eines eigenen Kurz-Speichers mit begrenzter Kapazität nicht bewiesen und überdies überflüssig ist. Man wird diesen Begriff aber nicht mehr aus der Psychologie verbannen können - halbrichtige verwirrende Begriffe mit Schlagwortcharakter halten sich mit erstaunlicher Kraft. Wenn man ihn verwendet, dann am besten in der Bedeutung Gedächtnis ohne Einprägung " (Rohracher 1984, S. 276 f.; Kursivhervorhebung von Rohracher). Möglicherweise läßt sich auch Ebbinghaus (1908, S. 81 f.) in diesem Zusammenhang anführen, wenngleich hier stärker Abruf- als Enkodierungsprozesse betont werden: "Einmal sind es die Erlebnisse von starkem Gefühlswert, deren Reproduktion besonders begünstigt ist. Ein glänzender Erfolg, aber ebenso eine schwere Kränkung vergessen sich so leicht nicht; das Bewußtsein von ihnen liegt sozusagen auf der Lauer, um bei der geringfügigsten Veranlassung lebendig zu werden. Dabei überwiegt [...] der Lustwert der Vorstellungen. [...] Sodann ist die jeweilige Gesamterfüllung des Bewußtseins maßgebend für die weitere Richtung des Vorstellungsverlaufes: unter sonst gleichen Umständen wird am leichtesten bewußt, was in der Gesamtheit der gegenwärtig wirksamen Eindrücke die meisten Anknüpfungspunkte hat". (zurück)

(11) Der levels-of-processing-Ansatz ist seinerseits ebenfalls in Kritik geraten, Grund hierfür war zum einen, daß bislang kein befriedigendes Maß für Verarbeitungstiefe gefunden werden kann (Zirkularitätsproblem), zum anderen aber auch, daß "tiefe" Verarbeitung nicht, wie nach diesem Ansatz zu fordern wäre, immer eine bessere Gedächtnisleistung nach sich zieht, sondern daß diese auch von der Art der Gedächtnisprüfung abhängig ist (vgl. hierzu auch Eysenck 1993); zudem ist dieser Ansatz noch weitaus weniger in der Lage, bestimmte neuropsychologische Phänomene zu erklären (vgl. Baddeley 1990). (zurück)

"that these slave systems [gemeint sind PL und VSSP, K.-M.Klein] are in fact activity-based strategic control processes, and not memories in strict sense". Um ihre Auffassung zu untermauern, zeigen sie, daß ein unabhängig von der artikulatorischen Schleife funktionierendes und keinerlei 'geistige Kapazität' beanspruchendes "slave system" wie beispielsweise eine "finger loop" eingesetzt werden kann, welches die Gedächtnisspannenleistung um bis zu 50 % zu steigern vermag. (zurück)

(13) Baddeley favorisiert in diesem Zusammenhang den Gebrauch des Begriffs "phonologische Schleife" gegenüber dem der "artikulatorischen Schleife". Dies wird folgendermaßen begründet: Der Begriff "artikulatorisch" deutet eine direkte Beziehung zu "Artikulation" an, tatsächlich konnte aber aufgrund einer Reihe von Studien gezeigt werden, daß Dysartrie-Patienten, also Menschen, die an einer zentralnervalen Koordinationsstörung der Aussprache leiden (im Unterschied beispielsweise zur Dyslalie), selbst in den schwersten Fällen und selbst dann, wenn diese Menschen von Geburt an daran leiden, über weitgehend normale Arbeitsgedächtnisfunktionen, inclusive des phonologischen Ähnlichkeits- oder des Wortlängeneffektes, verfügen (vgl. Baddeley 1990, Pschyrembel 1986). (zurück)

(14) Es kommt zu einer Verwechslung und nicht zu einer "Überschreibung" der Gedächtnisspuren. Diese Verwechslung wirkt sich nicht auf die Reproduktionsleistung "an sich" aus, sondern auf die Reproduktion in korrekter Reihenfolge (vgl. hierzu auch Wickelgren 1965). (zurück)


(geringfügig modifizierter) Auszug aus: Klein, K.-M. (1995). Experimentelle Untersuchungen zu zwei Invarianzhypothesen des Kurzzeitgedächtnisses. Bonn: Pace.


Quelle: http://www.psychologie.uni-bonn.de/allgm/projekte/dfg_arb/kzg.htm (97-04-04)