Stefan Moises
1. Grundsätzliche Überlegungen zur Auswertung
Ein entscheidendes Problem der Auswertung narrativer Interviews besteht im Anspruch der Vergleichbarkeit massenhaften Materials und der Kontrollierbarkeit (Schütze). Deshalb sollte der Strategie der Durchführung von Interviews besondere Aufmerksamkeit zukommen.Schütze geht davon aus, daß narrative Erzähltexte eine formale Grundstruktur aufweisen, die es schon in der Interviewführung einzuleiten und zu festigen gilt, so daß schon die Interviewsituation einheitlich festgelegt ist. Er unterscheidet hierbei Erzähl-, Beschreibungs- und Argumentationstexte, die unauflösbar miteinander verflochten sind und vom Interpreten abgegrenzt werden müssen.
Folgende Arbeitsschritte sind hier durchzuführen:
2. Vorteile und Nachteile des narrativen Interviews
a) Vorteile
b) Nachteile
Es gilt also, einen Kompromiß zu finden zwischen der Originalität der Erzählung und dem methodischen Postulat der Vergleichbarkeit. Beim narrativen Interview handelt es sich um eine sehr subtile Technik, die die subjektive Erlebniswelt des Befragten nicht nur öffentlich, sondern auch verfügbar machen und die die Interviewten zum Teil überraschen und verwirren kann.
Um einen gewissen Grad an Zuverlässigkeit und Gültigkeit zu erreichen ist es unumgänglich, die Ausgangsfaktoren und Bedingungsdimensionen aus dem Zusammenhang der Interviewsituation sowie der die Forschung begleitenden Leitgedanken offenzulegen und zugänglich zu machen. Neben einer hochwertigen Transkription und einer linguistischen Perspektive ist es auch wichtig, möglichst viele Textelemente, Ausdrücke (sprachliche Form), Ereignisse etc., also Interpretationsebenen, zu berücksichtigen.
Kontext und Grundlage der Interpretation müssen zugänglich sein. Eine Interpretation kann sich nicht mit einem ÑDurchgangì durch das Material begnügen, sondern muß in weiteren theoretischen und textgebundenen Arbeitsschritten Muster aus Gemeinsamkeiten, Unterschieden und tendentiellen Analogien konstruieren.
Grundlage der Interpretation sollte zunächst nicht mehr als der Fragebogen und die Interview-Interaktion sein; Vermutungen über außerhalb der Interviewsituation liegende Daseinsbedingungen sollten möglichst unterlassen werden.
Der Interviewer sollte sich auch bewußt sein, daß die
Interviewsituation als in die Beantwortung der Frage
einfließend betrachtet werden muß (allerdings wird dies
nicht als absolut unterstellt - man geht nicht davon aus, daß
der Befragte in anderen Situationen ganz anders antworten oder den
Interviewer bewußt täuschen würde).
Ein schwerwiegendes Problem ist das der Maßstäbe des
Auswerters selbst. Selbst bei weitgehend deskriptiver Form
fließen in die Auswertung Bewertungen ein.
3. Die Praxis der Auswertung
Als Muster einer Auswertung hat sich folgendes, mehrstufiges Verfahren herausgebildet:
1.Stufe:
Beim ersten Durchlesen werden alle Textstellen markiert, die spontan
ersichtlich Antworten auf die entsprechenden Fragen des Leitfadens
sind. Hier werden vor allem objektive Fakten und evtl. auch besonders
ausgeprägte Verarbeitungsformen/-strategien registriert.
2.Stufe:
Beim zweiten Durchlesen wird der Text in das bestehende, im Vorfeld
erstellte Kategorienschema eingeordnet, wobei dieses zugleich
erweitert wird; Informationen werden in ein Codierschema
übertragen, um sowohl objektive als auch subjektive Dimensionen
zu erfassen. Das Interview wird also zerlegt, Einzelinformationen
werden extrahiert
3.Stufe:
Zwischen den Einzelinformationen wird wieder eine Logik hergestellt,
besonders prägnante Passagen der subjektiven Verarbeitung sollen
identifiziert werden. Informationen werden untereinander
abgewägt, bedeutungsgleiche ebenso wie sich widersprechende.
4.Stufe:
Formulierung eines Textes, der den Prozeß der Verarbeitung /
der Verarbeitungslogik darstellt; Abschluß der inhaltlichen,
interpretativen Auswertung.
5.Stufe:
Erstellung der Auswertung mit Text und Interviewausschnitten und
letzter Vergleich mit der
gesamten Transkription
6.Stufe:
Darstellung der Auswertung
4. Anmerkungen zur Methodologie des Interviews
Die Motivstruktur der Teilnehmer im Interview ist asymmetrisch.
Während der Interviewer ein Interesse an möglichst
gültigen/verläßlichen Daten hat, empfindet der
Befragte die Situation wahrscheinlich als künstlich und ist sich
im Unklaren, welche Ziele die Untersuchung verfolgt und was mit den
Ergebnissen geschieht.
Der Prozeß der Datenerzeugung ist keine einseitige Beobachtung
des Forschers, sondern eine interaktive Beziehung zwischen zwei
Teilnehmern. Beobachtungssätze (Basissätze) sind von der
kommunikativen Struktur des Interviews abhängig. Der Befragte
muß bereit sein, eine Rolle zu übernehmen und sich auf die
daraus entstehenden Verpflichtungen einzulassen.
Die Antwort des Interviewten ist eine Funktion des sprachlichen
Stimulus, der Person des Interviewers und der vergangenen Erfahrung
in vergleichbaren Situationen.
Weiterhin ist zu bedenken, daß die Gültigkeit
(Verläßlichkeit) eines Meßinstruments mit
wechselnden Fragern/Befragten und in wechselnden Situationen variiert
und es kein gültiges Instrument Ñan sichì gibt.
Man kann also nicht behaupten, daß ein offenes Interview
grundsätzlich gültiger und ein geschlossenes Interview
prinzipiell zuverlässiger sei.
Über die Auswahl der Meßinstrumente entscheidet die
Zielgruppe, die Themenstellung und der kulturelle Kontext.
Gültigkeit und Zuverlässigkeit können unabhängig
voneinander variieren. Ein Meßverfahren kann zuverlässige
Daten liefern, ohne deshalb gültig zu sein, z.B. wenn durch das
Instrument systematisch Mißtrauen, Angst, Abwehr und
Verstellung hervorgerufen werden und die Befragten sich auf
Stereotype zurückziehen. Auch die Zuverlässigkeit kann
verletzt werden, wenn Unklarheiten in der Dateninterpretation
bestehen und die Codierung nicht klar definiert ist.
Eine entscheidende Frage ist die nach den Ergebnissen des
Interviews, nach den Beobachtungssätzen des Forschers. Dies sind
nämlich nicht Sätze, die der Forscher über soziale
Erscheinungen formuliert, sondern Beobachtungssätze, die der
Interviewte über sich selbst ausspricht, wodurch das Interview
vom Meßinstrument des Forschers zum Instrument der
Selbstmessung des ÑObjektesì wird. Die hierbei
formulierten Tatsachen sind oftmals vom Forscher nicht
nachprüfbar.
Ein weiteres Problem ist, daß das Interview nur eine
Verhaltensstichprobe von allen möglichen liefert, die der
Befragte in wechselnden Situationen hervorbringt, also daß man
nicht weiß, ob diese Stichprobe für das Verhaltenssystem
(Einstellungen, Wissensbestände) des Interviewten repräsentativ ist.
Bei der Auswertung eines narrativen Interviews sollte man sich auch
des folgenden Dilemmas bewußt sein: das Interview als soziale
Situation strukturiert die Informationshorizonte situationsgebunden,
durch die Transkription werden aber situationsunabhängige
Informationen erzeugt; zudem wird hierbei der
Interaktionszusammenhang wesentlich komplexer dargestellt als er in
der verbalen Datenbasis vorliegt.