Die wissenschaftliche wie die alltägliche Orientierung in der
Umwelt geschieht nicht durch bloße Abbildung von Realität
sondern als interaktive Gestaltung derselben mithilfe von
Modellen. In der Regel begnügt sich die Wissenschaft
allerdings nicht allein mit der Abbildung der Realität, vielmehr
versucht sie, Eigenschaften von Objekten, Beziehungen zwischen
Objekten in irgendeiner Weise quantitativ zu erfassen.
Sowohl historisch als auch methodisch gesehen, kann Messung als eine
der Grundlagen von Wissenschaft angesehen werden.
Auch die Psychologie hat schon in den Anfängen - wie andere
Human- und Sozialwissenschaften auch - versucht, psychische Merkmale
einer Quantifizierung zuzuführen. Erst relativ spät jedoch
- etwa seit den fünfziger Jahren - wurden auch Anstrengungen
unternommen, eine Theorie des Messens zu entwickeln. Schon
bald zeigte sich, daß Messung einen wesentlich komplexeren
Sachverhalt darstellt, als bis dahin angenommen worden war. Denn eine
Realität an sich mag existieren oder nicht, unsere
möglichen Wahrnehmungen, Beobachtungen und Messungen betreffen
immer Merkmale der Interaktion eines wahrnehmenden, beobachtenden
oder messenden Subjektes mit der Realität. Daraus ergibt
sich, daß Messungen in einem psychologischen Bereich immer
einen Eingriff in diesen Bereich darstellen.
Bei der Konstruktion von psychologischen Modellen kann man sich
verschiedener Medien bedienen. Meßmodelle in der Psychologie
verwenden im allgemeinen mathematische oder numerische
Systeme. Diese Systeme sind allerdings nicht von vornherein
gegenstandsbezogen, sondern sie werden erst durch das forschende
Subjekt zu einem System für einen bestimmten Bereich
gemacht. Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung - Messung sei
einfach die Abbildung von empirischen Objekten auf Zahlen
gemäß einer Vorschrift - vertritt GIGERENZER (1977, 1981)
in seiner Implikationsthese den Standpunkt, daß die
Anwendung eines numerischen Systems auf einen psychologischen
Gegenstandsbereich eine psychologische Theorie über diesen
Gegenstandsbereich bereits voraussetzt.
Damit wird die Trennung von Meß- und Skalierungsmodellen
einerseits und psychologischer Theorienbildung andererseits
aufgegeben. Das Modell von GIGERENZER (1981, S. 31) enthält
fünf Komponenten:
* das Subjekt,
* die Zielsetzung,
* einen Gegenstandsbereich,
* ein numerisches System,
* ein empirisches System.
Ein Modell psychologischer Messung muß diese fünf
Komponenten enthalten, jedoch ergeben sich zusätzlich noch die
Relationen zwischen diesen Komponenten, die ebenfalls definiert
werden müssen, denn strenggenommen kann man nur dann von einem
Modell sprechen, wenn sowohl die Komponenten als auch die zwischen
diesen bestehenden Beziehungen berücksichtigt werden.
So stehen Gegenstandsbereich, numerisches System und empirisches
System in einem interaktiven Zusammenhang, sodaß Messung, d. h.
Modellbildung mit numerischen Systemen, nur dann möglich ist,
wenn die spezifischen Strukturen dieser drei Systeme
übereinstimmen.
Der Gegenstand der Meßtheorie sind die
Gesetzmäßigkeiten, welche notwendig und hinreichend
für eine homomorphe Abbildung eines empirischen Systems auf ein
bestimmtes numerisches System sind. Die Annahme einer homomorphen
Abbildung stellt schon eine Abschwächung dar, denn die
prinzipiell notwendige Isomorphie stellt für psychologische
Messungen eine weitgehend irreale Forderung dar.
In der Praxis begnügt man sich damit, einer bestimmten
Ausprägung eines Merkmals mehrere Personen zuzuordnen, ohne
diese noch weiter hinsichtlich dieses Merkmals zu differenzieren. Im
Alltag begnügen sich Menschen meist mit viel gröberen
"Skalierungsverfahren", und es stellt sich schon hier die Frage, ob
die mit manchen Meßverfahren gewonnenen exakteren Ergebnisse
nicht bloß eine Scheingenauigkeit widerspiegeln, die
möglicherweise sogar die "Realität" übertrifft. Es
besteht in vielen Fällen die Vermutung, daß die
psychologische Realität und ihre Systeme weniger differenziert
strukturiert sind, als mancher Wissenschaftler anzunehmen bereit ist.
Da das in dieser Arbeit zu entwickelnde Modell in gleicher Weise
für wissenschaftliches als auch alltägliches Handeln gelten
soll, wird sich auch aufgrund der pragmatisch-phänomenologischen
Orientierung eine Anlehnung an die Meßgenauigkeit der
Realität als notwendig erweisen.
Meines Erachtens kommen vor allem kognitivistisch orientierte Modelle
menschlichen Verhaltens, die sich naturgemäß in
sprachlichen Mustern bzw. sprachlich formulierten Denkmustern
"abbilden", in die Gefahr, die apriorisch eingebrachte Struktur als
Beweis für eine wie auch immer geartete Realität empirisch
nachzuweisen, die letztendlich doch nur sprachlicher Natur ist.
Das Repräsentationsproblem betrifft die Frage nach den notwendigen und hinreichenden Gesetzmäßigkeiten für eine bestimmte Repräsentation. Eine oder mehrere relationale Strukturen des Gegenstandsbereiches müssen sich durch Zahlen abbilden lassen. Es betrifft kurz gesagt die Frage, ob Messung überhaupt möglich ist.
Das Eindeutigkeitsproblem betrifft die Frage, welche Transformationen im numerischen System möglich sind, ohne die homomorphe Abbildung zu verletzen. Nur bei Beachtung des Eindeutigkeitstheorems ist gewährleistet, daß die Relationen der empirischen Struktur im numerischen Bereich erhalten bleiben.
Das Bedeutsamkeitsproblem betrifft schließlich die Frage, welche Operationen (z. B. Statistiken) auf einer gegebenen numerischen Zuordnung zulässig und welche daraus abgeleiteten empirischen Aussagen bedeutsam sind.
Die Lösung des Bedeutsamkeitsproblems setzt die Beantwortung
des Eindeutigkeitsproblems voraus, und diese wiederum die
Beantwortung des Repräsentationsproblems. Weiters ist die
Bedeutsamkeit einer empirischen Aussage zu trennen von der
inhaltlichen Bedeutsamkeit, die man ihr zumißt. Beide
Bedeutungen können divergieren.
Darüberhinaus stellen sich noch praktische Probleme wie z. B.
das Ökonomieproblem und das Problem der Handhabbarkeit. Diese
Fragen stehen aber nur in einem mittelbaren Zusammenhang mit der
Lösung der drei genannten Probleme.
Die triadische Grundeinheit psychologischer Messung
Die triadische Grundeinheit Individuum-Objekt-Merkmal ist
konstitutiv für den Gegenstand der empirischen Psychologie.
Dieses empirische System entsteht dadurch, daß das forschende
Subjekt das untersuchte Individuum mit bestimmten
Bedeutungsträgern und Bedeutungskomponenten konfrontiert und das
Individuum auf diese reagiert. Die Trennung in forschendes Subjekt
und untersuchtes Individuum ist deshalb von besonderer Bedeutung,
weil beide Modellbildung betreiben, allerdings verwendet in
der Regel nur das forschende Subjekt numerische Systeme.
So nehmen fast alle klassischen Verfahren zur Einstellungsmessung an,
daß die Orientierung der Versuchspersonen nur auf einer Pro-
und Kontra-Dimension stattfindet. Man hat sich daran gewöhnt,
daß den Versuchspersonen vom Skalenkonstrukteur Art und Anzahl
der Einstellungsdimensionen gewissermaßen aufgezwungen werden
(vgl. FEGER 1974, S. 243). Eine Ausschaltung dieser Fehlerquelle
erfordert allerdings in der Regel aufwendigere Meß- und
Skalierungsverfahren als sie bisher üblich sind. Vgl. hier vor
allem die Modelle der nicht-metrischen mehrdimensionalen
Skalierung.
Nach Ansicht neopositivistischer Wissenschaftstheoretiker ist aber
gerade die Trennung zwischen dem Wissenschaftler als Subjekt und der
Versuchsperson als Erkenntnisobjekt
("Subjekt-Objekt-Trennung") auf einer forschungspragmatischen
und erkenntnistheoretischen Ebene konstitutives Merkmal von
Wissenschaftlichkeit (vgl. MERTENS & FUCHS 1978, S. 33f).
Allerdings wird in diesem Zusammenhang weitgehend übersehen,
daß diese Trennung (im Sinne von Kontrolle der experimentellen
Bedingungen durch den Experimentator) zu einer äußerst
einseitigen Sichtweise führen muß: ein wesentlicher Teil
der Systemrelationen wird aus den Betrachtungen ausgeklammert. Dieser
Ansatz übersieht, daß sich die Zielgerichtetheit, die
hierarchische Organisation und Regulation menschlichen Handelns nicht
einfach "abstellen" läßt, zumindest nicht in einseitiger
Weise beim Erkenntnisobjekt.
In letzter Konsequenz muß das zu einer neuen Strategie
führen, die davon ausgeht, daß prinzipiell kein
Unterschied zwischen der Strategie einer Versuchsperson bei der
Bewältigung der experimentellen Problemsituation und der
Strategie des Wissenschaftlers besteht. Man muß den
Versuchspersonen genau wie dem Experimentator grundsätzlich die
gleichen Fähigkeiten zur Erklärung und Beherrschung der
Versuchssituation zubilligen (vgl. PASK 1962, S. 185, SEEGER 1977, S.
48).
Dieser Qualitätssprung in der Betrachtungsweise führt zu
der wichtigen Feststellung, daß die "gewöhnliche",
alltägliche Erkenntnistätigkeit zum Modell wird, an dem die
wissenschaftlich-psychologische Erkenntnistätigkeit sich
orientiert (vgl. SEEGER 1977, S. 48). Der Zugang zu dieser
alltäglichen Erkenntnistätigkeit ist meines Erachtens
phänomenologisch zu finden.
Die Verwendung eines bestimmten numerischen Systems als semantisches
Modell impliziert entsprechende empirische Relationen mit
entsprechenden Gesetzmäßigkeiten im empirischen System.
Diese sind als Axiome in einem Meßmodell formuliert. Diese
Axiome sind zunächst nicht-empirische Aussagen. Sobald
das numerische System als semantisches Modell für ein
empirisches Modell verwendet wird, erhalten Axiome die Funktion
empirischer Aussagen über das empirische System (vgl. GIGERENZER
1981, S. 82). Axiome werden daher zu empirisch prüfbaren
Gesetzmäßigkeiten.
Erst nach der Prüfung dieser Primärhypothesen
(Modellprüfung,) folgt die sekundäre Zielsetzung, die
Prüfung von Hypothesen über psychologische
Gesetzmäßigkeiten.