Dialektik

(griech. dialektike techne, Gesprächskunst).

D. ist ein häufig verwendeter, schwer zu handhabender und umstrittener philosopischer Begriff. Er hat im Lauf der Philosophiegeschichte erhebliche Bedeutungsveränderungen erfahren:

Systematisch tritt er zuerst bei Platon auf. Dialektik wird ausdrücklich an das Gespräch (den Dialog) gebunden. Sie meint eine Kunst der Gesprächsführung, die, so betont Platon gegen die Sophisten, im Dienst der Sache steht. Die ÐKunstð der Sophisten dagegen, jeder beliebigen Meinung zu widersprechen oder jede beliebige Meinung zu Ðbeweisenð, bestehe nur in Wortspielerei (Eristik). Dialektik ist für Platon eine Methode, Positionen zu problematisieren und schließlich durch die Bewegung des Gesprächs zwischen den Teilnehmern (Frage-Antwort) den Widerstreit der Meinungen zu überwinden; sie ist der Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit (der Ideen). Im weiteren bestimmt Platon die Dialektik als Disziplin, welche die Struktur der Wirklichkeit untersucht. Sie grenzt die verschiedenen Begriffe voneinander ab und hält sie zugleich unter allgemeineren, umfassenderen Begriffen zusammen.

Bei Aristoteles hat die Dialektik mit denjenigen Fragen zu tun, über welche die Meinungen kontrovers sind und die sich nur entscheiden lassen, indem Für und Wider dialektisch abgewogen werden. Dialektik ist danach eine Methode, diese Fragen durch Einbeziehung allgemeiner Gesichtspunkte (topoi) zu klären. Insofern kann die Dialektik als besonderer Teil der Logik aufgefaßt werden: als Topik im Gegensatz zur sog. Analytik der formalen klassischen Logik. So stellt sich im Anschluß an Aristoteles das Problem des Verhältnisses von Dialektik und Logik. In der scholastischen Philosophie des Mittelalters geht die Tendenz dahin, beides zu identifizieren.

Die Unterscheidung zwischen Analytik und Dialektik greift Kant wieder auf in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781). Aber im Gegensatz zu Aristoteles (und Platon) betrachtet er die Dialektik als "Logik des Scheins", d. h. als "Blendwerk"; Thema der Dialektik sind erklärbare, aber nicht auflösbare Widersprüche.
Wenn ein Vernunftbegriff (z. B. Ðdie Weltð) über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus zur Anwendung gelangt, entsteht der sog. "transzendentale Schein": Der Versuch, über das jenseits der Erfahrung Liegende Aussagen zu treffen, führt in Selbstwidersprüche (Antinomien). So kann man etwa sowohl die Behauptung (Thesis) "beweisen", daß die Welt in Raum und Zeit einen Anfang hat, wie auch ihre Gegenbehauptung (Antithesis), daß die Welt in Raum und Zeit keinen Anfang hat. Aufgabe der transzendentalen Dialektik ist es, solche Täuschung aufzudecken. Denn die menschliche Vernunft besitzt eine natürliche Neigung, sich darin zu verwickeln, weil sie nach der Erkenntnis unbedingter (absoluter) Einheit als Grundlage aller ihrer Erfahrungen strebt.

Kants Kritik der Dialektik der Vernunft bleibt bei dem Nachweis stehen, daß eine Reihe von Thesen und Antithesen gleichermaßen bewiesen werden kann, wenn die Vernunft die Grenzen des Erfahrbaren überschreitet. Die Möglichkeit einer Versöhnung - einer Synthese - der widerstreitenden Behauptungen gibt es für ihn nicht.

Fichte dagegen spricht von einem "synthetischen Verfahren", welches die Vereinigung der Gegensätze in einem Dritten gerade zum Zweck hat. Zu mehr als einer Methode wird die "Triade" (Dreiheit) von These-Antithese-Synthese beim jungen Schelling. Er behauptet, daß diese Dreiheit der Entwicklung in Natur und Geschichte entspricht.

Hegel wiederum lehnt bereits 1807 die Triade von These-Antithese-Synthese ab; es sei ein bloß "äußerliches lebloses Schema". (Die schon kurz nach Hegels Tod entstandene Ansicht, Hegels Dialektik baue auf dieser Triade auf, ist also ein Mythos.) Statt dessen sucht Hegel einen neuen Begriff der Dialektik zu entwickeln. Dazu geht er auf Platon zurück und betont, die Dialektik sei keineswegs bloße Scheinlogik, wie Kant glaubte. Zwar stimmt er Kant insofern zu, als dialektisches Denken der Vernunft entspringt; aber die von Kant für endgültig erklärten Vernunftwidersprüche lassen sich nach Hegel sehr wohl aufheben, und zwar in der spekulativen Dialektik Die (Selbst-)Widersprüche der Vernunft sind ihrerseits nur scheinbar; indem Kant bei ihnen stehenbleibt, behandelt er sie viel zu abstrakt. Er übersieht, daß sie Momente eines größeren Zusammenhangs sind, in dem sie aufgehoben (vermittelt) werden. Der konsequente Gebrauch der Vernunft jenseits des Bereichs von (Sinnes-)Erfahrung führt nicht (nur) zu Täuschungen. Er führt zur Einsicht in viele Strukturen und Formen, die gar nicht anders gedacht werden können und folglich aus eigentlicher Erkenntnis stammen müssen. Deshalb ist die Dialektik für Hegel - im Einklang mit Schelling - keine bloße Methode: Jene Unterschiede und Zusammenhänge, von denen nicht gedacht werden kann, daß sie anders sind, müssen notwendige (ontologische) Grundzüge der Sache selbst, der Wirklichkeit, sein. Eine solche Folge von vernünftigen notwendigen Unterschieden und Zusammenhängen bezeichnet Hegel gern als dialektische Bewegung, Prozeß oder Werden, ob diese Folge nun einen zeitlichen Verlauf hat oder nicht. Die Wirklichkeit insgesamt ist durch Unterschiede und Zusammenhänge strukturiert, und die spekulative Dialektik weist nach, wie sich solche Unterschiede und Zusammenhänge auseinander entwickeln. Durch den Gebrauch der Vernunft suchen wir die notwendigen Strukturen der Wirklichkeit zu begreifen; und die spekulative Dialektik läßt uns erkennen, daß unsere ersten, vorläufigen Begriffe von der Wirklichkeit zu derem widerspruchsfreien Begreifen keineswegs ausreichen. Dadurch werden wir zur Einsicht in neue und umfassendere Unterschiede und Zusammenhänge gebracht.

Ebenso wie Hegel geht Schleiermacher in den Vorlesungen aus den 1820er Jahren auf Platon zurück. Anders als Hegel betont er aber, daß Dialektik zunächst eine Theorie über Gesprächssituationen ist, also eine Kommunikationstheorie. Ihr Ziel besteht in der Überwindung der widerstreitenden Meinungen bei den Diskussionsteilnehmern. Allerdings hatte Schleiermachers Begriff von Dialektik auf die spätere Entwicklung kaum Einfluß. Im weiteren 19. und im 20. Jh. spielt die Frage, was Dialektik sei, bei den unterschiedlichsten Philosophen eine Rolle: bei Kierkegaard, Marx, Engels, Sartre, Merleau-Ponty und Adorno. Die Überlegungen nehmen ihren Ausgangspunkt jeweils bei Hegel; doch wird dessen Dialektik-Begriff durchweg abgewandelt oder gar verworfen.

Literatur
R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl (Hg.): Hermeneutik und Dialektik, Aufsätze I-II, 1970.
A.Diemer: Elementarkurs Philos.: Dialektik, 1976.
K. Dürr: Die Entwicklung der Dialektik von Plato bis Hegel. Dialectica 1, 1947.
H.-G. Gadamer: Hegels Dialektik, 1971.
W. Röd: Dialektische Philosophie der Neuzeit I-11, 1974.
Philosophielexikon/Rowohlt-Systhema


©opyright Werner Stangl, Linz 1998.
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