Die Psychologie des Jugendalters - Ein historischer Überblick *)

Das Jugendalter - wie wir es heute kennen und definieren - stellt kein universales Phänomen dar, das sich überall und zu allen Zeiten in ähnlichem Verhalten und Handeln von jungen Menschen zeigt. Diese Periode der menschlichen Entwicklung ist vielmehr abhängig von familiären, gesellschaftlichen und ökonomischen Einflußfaktoren.

Das Jugendalter gibt es als eigenständige Phase der Entwicklung des Menschen etwa seit der Zeit der Industrialisierung zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Die bis dahin übliche Kinderarbeit und eher unqualifizierte Arbeit von Erwachsenen wird mehr und mehr ersetzt durch eine systematische Ausbildung der Fähigkeiten und Fertigkeiten von Jugendlichen und - damit einhergehend - auch der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht und einer berufsschulischen Ausbildung. Vor dieser Periode (vor dem 19. Jahrhundert) gab es praktisch keine eigenständige Periode des Jugendalters. Bis dahin regelten Übergangsrituale (Initiationsriten) den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter, die bis heute bei sogenannten primitiven Kulturen zu beobachten sind. Durch diese Rituale wurde die Rollenübernahme des Einzelnen unterstützt und zum Teil sogar erst gewährleistet. Nicht das individuelle Verhalten sondern vielmehr die gesellschaftlich-tradierten Regeln ermöglichten einen reibungslosen Übergang von der undifferenzierten Kindheit in das differenzierte Erwachsenenalter.
Schon seit längerer Zeit zeigt sich eine Ausweitung des Zeitabschnittes des Jugendalters. Das hängt vor allem mit den allgemein gesteigerten Bedürfnissen nach systematischer beruflicher und schulischer Ausbildung zusammen, andererseits zeigt sich auch eine geschärfte Wahrnehmung der Öffentlichkeit für Jugendliche und ihre Probleme. In Werbung und Massenmedien nehmen Jugendliche eine besondere Stellung ein, an der auch die Wissenschaft nicht vorübergehen konnte. Jede Art von wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Psychologie der Entwicklung im Jugendalter ist aber auch von nichtwissenschaftlichen Determinanten abhängig. Grob gesprochen lassen sich drei Hauptphasen der Beschäftigung mit dem Jugendalter unterscheiden: Der philosophische Abschnitt reicht von der Antike bis etwa zum Beginn des 19. Jahrhunderts, der geisteswissenschaftliche bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts und der naturwissenschaftliche bis zur Gegenwart (mit Überschneidungen).

Die philosophische Tradition

Das Jugendalter war in der Betrachtungsweise der Antike eine vorbereitende Phase für das eigentliche Lebensalter, nämlich die Erwachsenenzeit. Erste Zeugnisse für eine Psychologie des Jugendalters finden sich bei Platon (Der Staat), Aristoteles (Über die Seele). In der hellenistischen und römischen Zeit finden sich allerdings nur indirekte Ausführungen über das Jugendalter, denn hier werden rechtliche, gesellschaftliche, politische und familiäre Bindungen und Bezüge unterstrichen, über die der Jugendliche seine Rolle in der Gesellschaft erhält. Dabei werden die Übergangsrituale hervorgehoben, die bis heute bei sogenannten primitiven Kulturen zu beobachten sind. Zwar gibt es bis ins 18. Jahrhundert kaum Ausführungen über die Entwicklung im Jugendalter, dennoch gibt es zahlreiche indirekte Vorschriften für Verhaltensweisen eines jungen Mannes, eines Ritters, eines Pagen, eines Knappen. Hier geht es um standesmäßige regelhafte Vorschriften für Verhalten, das sich seinerseits auf den bestehenden Kanon von gesellschaftlichen Übereinkünften bezieht. Das Jugendalter bedeutet in diesem Zusammenhang lediglich eine Phase der Vorbereitung, der Selbstprüfung und des Unfertigseins. Dabei spielen psychische Bedürfnisse, individuelles Verhalten und Handeln noch keine Rolle.

Die geisteswissenschaftliche Tradition

Diese Tradition datiert aus der Zeit der Aufklärung. Rousseaus Romane "Emile" und "Héloise" beschreiben die Entwicklung eines Jungen und eines Mädchens während der Pubertät. Allerdings steht hier die erzieherische und nicht die psychologische Betrachtung im Vordergrund. Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" und "Wilhelm Meister" sind typische Beispiele für Bildungsromane, die den individuellen Werdegang eines jungen Menschen beschreiben. Im Sinne von Dilthey kann man beim Bildungsroman von einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung sprechen, denn im Mittelpunkt steht das Verstehen und nicht die Analyse, die Betrachtung und nicht die Empirie.
Das generelle Interesse am Studium der menschlichen Natur etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts führte zu vielfältigen Bemühungen, eine möglichst exakte wissenschaftliche Betrachtung von biologischen, physikalischen, chemischen und anderen Gesetzmäßigkeiten vorzunehmen. Einen Höhepunkt stellen die Erkenntnisse von Darwin auf dem Gebiet der natürlichen Entwicklung dar. Diese Untersuchungen haben einen großen Einfluß auch auf die psychologische Betrachtung der menschlichen Entwicklung. Phasen und Stufen der Naturentwicklung werden übertragen auf die Prozesse der Entwicklung des Menschen. Ernst Haeckels berühmt gewordenes Rekapitulationsgesetz (Biogenetisches Grundgesetz: Die Keimesgeschichte ist ein Auszug der Stammesgeschichte) in bezug auf die ontogenetische und phylogenetische Entwicklung bildet einen Grundstein für die darauffolgende Entwicklung einer ersten Psychologie des Jugendalters. Allerdings haben neuere Forschungen ergeben, daß Haeckels Zeichnungen auf keinen Fall von echten Embryonen stammen könnten, vielmehr liege hier eine der gar nicht so seltenen wissenschaftlichen Fälschung vor, die lange Zeit unentdeckt geblieben sind.

Bezogen auf die Darwin'sche Theorie läßt sich das Jugendalter nun nicht mehr als bloße Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter betrachten, sondern als Vorstufe zum Homo sapiens, dem Erwachsenenalter der Menschheit. Es ergeben sich vollkommen andere Perspektiven, wenn das Jugendalter der Menschheit als eine Phase des Übergangs vom tierischen zum eigentlichen menschlichen Verhalten angesehen wird. Aus diesem Geist heraus veröffentlicht Stanley Hall seine "Psychologie des Jugendalters". Darin beschäftigt er sich mit einer Grundlegung der Entwicklungspsychologie sowie mit jenen zusätzlichen Faktoren, die das Verhalten von Jugendlichen bedingen. Sie ist das erste wissenschaftliche Werk auf diesem Gebiet. Man kann Halls Werk als den Höhepunkt und den Abschluß der geisteswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Jugendalter ansehen.
Einen weiteren Höhepunkt bildet Eduard Sprangers "Psychologie des Jugendalters", denn dieses Werk hat großen Einfluß auf die verschiedensten Richtungen vor allem auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft gehabt. Spranger gründet seine Überlegungen auf eine kultur-pädagogische Betrachtungsweise. Dabei differenziert er bei Jugendlichen (d. h. bei ihm dem bürgerlich-männlichen Jugendlichen) zwischen unterschiedlichen Typen, die sich in Verhalten und Handeln unterscheiden. Auch wenn Sprangers Psychologie des Jugendalters heute mehr in den Hintergrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerückt ist, so deutet sich doch darin zum ersten Mal eine typologische Ausdifferenzierung an. Bei ihm steht nicht nur der Jugendliche im Mittelpunkt, sondern unterschiedliche Ausprägungen von Individuen. Dadurch verbreitert sich die Sichtweise auf diejenige die auch heute die Diskussion beherrscht, wenn z. B. von Jugendkulturen die Rede ist.

Die naturwissenschaftliche Tradition

Die heutige Psychologie sieht sich vorwiegend in der Tradition einer naturwissenschaftlichen Forschungsrichtung. Dabei werden mit wissenschaftlicher Methodik systematisch empirisch gewonnene Daten über unterschiedliche Aspekte des Verhaltens und Handelns untersucht. Experimentelles Vorgehen und statistische Auswertung stehen im Vordergrund. Es interessieren besonders die quantifizierbaren Dimensionen des menschlichen Verhaltens und dessen Entwicklung.
Schon in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zeigt sich gerade im Bereich der Entwicklungspsychologie auch eine Ausrichtung auf die Feldforschung. Dabei werden Jugendliche in ihrer natürlichen Umgebung beschrieben, erfaßt und analysiert. Dimensionen wie abweichendes Verhalten, Kriminalität, Delinquenz, Gruppenbildung usw. werden untersucht. Diese empirisch-experimentelle Vorgehensweise erreichte in den letzten Jahrzehnten einen Höhepunkt. Vor allem die Jugendbewegung der 68er Jahre forderte die sozialwissenschaftliche Erklärung und Theorienbildung für diese Phänomene.

Seit etwa 15 Jahren kommt es in der Entwicklungspsychologie zu einer Ausweitung auf die gesamte Lebensspanne, und auch das Erwachsenenalter und das hohe Alter treten in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Erörterung. Dennoch läßt sich gerade in letzter Zeit wieder eine verstärkte Zuwendung zur Periode des Jugendalters erkennen. Vor allem große demoskopische Untersuchungen (Shell-Studie, Sinus-Studie), die hauptsächlich von Schelsky initiiert wurden, werden regelmäßig fortgesetzt und zeigen die Einbindung von Jugendlichen in die gegenwärtige Jugendkultur und die Gesamtgesellschaft. Gerade im Begriff der Jugendkultur deutet sich an, daß die Gruppe der Jugendlichen als eigenständiger Bestandteil der Gesellschaft betrachtet wird. Es wird zum ersten Mal versucht, auch die subjektive Befindlichkeit jugendlichen Verhaltens zu untersuchen. Jugendliche sind in diesen neueren Arbeiten nicht so sehr Objekte oder Träger von wissenschaftlichen Daten, sondern vielmehr eigenständig Handelnde in einer sich wandelnden Gesellschaft.


* Nach SCHURIAN, W. (1989). Psychologie des Jugendalters. Opladen: Westdeutscher Verlag.
©opyright Werner Stangl, Linz 1997.
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