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Österreichische Hochschulzeitung, 1988, XI, 11-12.
Ein Hauptproblem empirischer Wissenschaften stellt die Frage dar, inwieweit es Menschen überhaupt möglich ist, auf Grund von Wahrnehmungen und Beobachtungen "Abbildungen" oder "Repräsentationen" der Umwelt zu "erhalten", die eine sichere Grundlage für individuelles Handeln bilden.
Die Psychologie wird vorwiegend als nomologische Wissenschaft betrieben, das heißt, sie geht davon aus, daß es prinzipiell möglich ist, auf Grund von Beobachtungen und Beschreibungen in rationaler Weise durch Induktion zu Theorien mit universell gültigen Gesetzen zu gelangen, aus denen dann durch Deduktion Erklärungen und Prognosen für menschliches Handeln abgeleitet werden können. Dieser "naive" Induktivismus-Deduktivismus stößt allerdings auf einige grundlegende Schwierigkeiten:
Die erste Schwierigkeit besteht darin, daß Beobachtungsaussagen stets in der "Sprache" irgendeiner Theorie abgefaßt werden müssen, so vage diese auch sein mag. Auch bei trivialen Beobachtungen - etwa: "es regnet draußen" werden zahlreiche "theoretische" Vorannahmen getroffen: z. B. daß es so etwas wie Regen gibt, daß der Regen vielleicht ein Hindernis für einen Spaziergang sein kann, daß der Regen aus Wasser besteht, daß es so etwas wie drinnen und draußen gibt, oder daß es herinnen auf Grund des Daches wahrscheinlich trockener bleibt als draußen.
Damit ist zunächst widerlegt, daß Wissenschaft mit Erfahrung (Beobachtung oder Beschreibung) beginnt. Das bedeutet nicht grundsätzlich, daß Beobachtung keine Rolle in der Psychologie spielen sollte - vielmehr folgt daraus nur, daß ihr ein falscher Stellenwert zugeschrieben wird.
Die zweite Schwierigkeit des Induktivismus besteht in der Behauptung, daß die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis durch Beobachtungen von unvoreingenommenen Beobachtern geschaffen wird. "Dieser Standpunkt ist, wenn man ihn auch nur einigermaßen wortwörtlich auffaßt, absurd und unhaltbar" (CHALMERS 1986, S. 37).
Bei Beobachtungen und Experimenten können realistischerweise immer nur Ausschnitte aus der physischen und psychischen Umwelt beobachtet, registriert und gemessen werden. Eine Auswahl der zu untersuchenden Faktoren wird immer unter einer bestimmten Perspektive stehen, das heißt, von der Intention eines (Forschungs)Subjektes abhängen. Dabei kann niemals von vornherein gesagt werden, welche Merkmale schließlich für die Aufgabenstellung relevant sind. Diese Voreingenommenheit stellt nicht den individuellen Mangel einer Person dar, vielmehr resultiert diese aus der Unmöglichkeit, eine Beobachtung von einer "vorausgehenden" Theorie zu trennen.
Versuchte Lösungen des Induktionsproblems
Es gibt - vor allem in der allgemeinen Wissenschaftstheorie - zahlreiche Versuche, das Induktionsproblem zu lösen. In der Psychologie etwa in der Form, in Anlehnung an CARNAP & STEGMULLER (1959) den induktiven Schluß auf einen Wahrscheinlichkeitsschluß zu reduzieren - wobei diese Einschränkung in eine Zwei-Sprachen-Theorie (Trennung von Beobachtungs- und Theoriesprache) mündet -, oder die POPPERsche Konzeption der "Basissätze" - solche besagen, daß an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle ein bestimmter Sachverhalt besteht - zu übernehmen. Des weiteren wird in jüngster Zeit versucht, die aus der Physik stammende mengentheoretisch formalisierte Konstruktion der T-Theoretizität auf allgemeine epistemologische Fragen zu übertragen (non-statement view), wobei dies in der Psychologie insofern auf Schwierigkeiten stößt, als hier die üblichen empirischen Daten den hohen quantitativen Ansprüchen dieses Modells nicht genügen.
Da das Induktionsproblem derzeit nicht befriedigend lösbar scheint, ist das deduktiv-nomologische Paradigma der Psychologie auf Grund der fehlenden Basis eine dem Gegenstand nicht adäquate Lösung. Es bleiben daher nur zwei Alternativen: überhaupt auf eine Lösung zu verzichten, das heißt, wie bisher auf erkenntnistheoretisch äußerst fragwürdiger Basis weiterzuarbeiten, oder das Paradigma zu "wechseln", das heißt, den erkenntnistheoretischen Anspruch, empirische Wissenschaft zu betreiben, aufzugeben.
Radikaler Konstruktivismus als neues Paradigma
In den letzten Jahren sind Vertreter eines radikalen Konstruktivismus mit einem extrem relativistisch-solipsistischen Ansatz hervorgetreten, der Erkenntnis nur als (Re)Konstruktion eines im übrigen isolierten Organismus für möglich hält, das heißt, Beobachtung und Wahrnehmung als individuelle kognitiv(re)konstruktive Prozesse postuliert. Erkenntnis ist demnach nur als konsensuales (Re)Konstruieren einer gemeinsamen Welt möglich.
Ein solcher Paradigmenwechsel aber hat für die wissenschaftliche Psychologie - da (Erkenntnis)Gegenstand und Methode interaktional und daher untrennbar sind tiefgreifende gegenstands- und methodenspezifische Konsequenzen. Die derzeit übliche nomologische
Methodologie und Theorienbildung der Psychologie wäre prinzipiell unhaltbar.
Aufgaben für eine Neue Psychologie
Die Position des Forschungssubjektes innerhalb der Psychologie muß neu thematisiert werden (nicht bloß als zu kontrollierender bias des Untersuchungsdesigns).
Das prädefinierte "Gefälle" zwischen Wissenschaftler (Forschungssubjekt) und Untersuchungsgegenstand (Versuchsperson) müßte -aufgehoben werden (nicht aus ethischen, sondern erkenntnistheoretischen Gründen).
Die vordringlichste Aufgabe für die Psychologie würde darin bestehen, die individuellen Freiheitsräume des handelnden Individuums zu thematisieren und au erforschen (als emanzipatorischer Beitrag der Psychologie im Kanon der Wissenschaften). Dies bedeutet u. a. eine Neuorientierung der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie.
Eine neu zu definierende Allgemeine Psychologie hätte als "Hüterin des Paradigmas" eine Integration der zersplitterten Teildisziplinen der Psychologie zu leisten. Ein Ausgangspunkt dafür könnte in einer kritischen Analyse des "normalen " Wissenschaftsbetriebes liegen.
Die Psychologie hätte den "aufklärerischen" Auftrag zu übernehmen, die individuellen Möglichkeiten für ein Zusammenleben in einer Gemeinschaft konsensual mit anderen Human- und/oder Sozialwissenschaften zu erkunden und zu befördern. Das anzustrebende Ziel wäre eine Versöhnung der epistemologischen Paradigmen, das heißt letztlich die Versöhnung der Wissenschaft mit dem Menschen. Nur im gemeinsamen (Er)Schaffen sind die Probleme unserer Zeit lösbar. Die Psychologie hätte dazu einen substantiellen Beitrag zu leisten.
siehe auch:
Ein Modell psychologischen Handelns oder Von der Möglichkeit einer psychologischen Metaphysik. (pdf, 92kb)
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