[aus den Arbeitsmaterialien zum Unterricht an der Akademie für Sozialarbeit]
Die Untersuchung der Entwicklung der Moralvorstellungen des Menschen wird schon seit langem als zentraler Problembereich der Sozialwissenschaften betrachtet. Allerdings ist es schwierig, den Aspekt der Moralentwicklung von den anderen Bereichen der sozialen Entwicklung und Sozialisation - wie z.B. der Entwicklung der Persönlichkeit und Verhaltensmustern, Aggression, Fleiß oder Leistungsmotivation - immer eindeutig abzugrenzen.
Man versteht unter moralischer Entwicklung vornehmlich jene Teilprozesse der Sozialisation, die zur Internalisierung von grundlegenden sozialen Normen und Regeln führen, wobei erwartet wird, daß ein Individuum auch dann den Regeln gemäß handelt, wenn es die Neigung spürt, sie zu übertreten, und wenn weder eine Überwachung vorhanden noch Sanktionen zu fürchten sind. Neben diesem Widerstand gegen die Versuchung ist auch der Aspekt des Schuldgefühls wichtig, d.h., daß nach der Verletzung kultureller Normen selbstbestrafende oder selbstkritische Empfindungen wie Reue und Angst auftreten. Die Internalisierung eines Standards impliziert schließlich auch, daß das Individuum aufgrund der erworbenen Regeln Urteile über eigenes und fremdes Verhalten fällen kann.
Konkretes moralisches Verhalten kann allerdings niemals isoliert
betrachtet werden, denn einerseits wird dieses immer auch von
Aspekten der Persönlichkeit und andererseits der
aktuellen Situation mitbestimmt werden. Untersuchungen zur
Ehrlichkeit bei Kindern etwa haben gezeigt, daß Faktoren wie
die Intelligenz, die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub oder
auch die Aufmerksamkeit meist in Verbindung zu moralischem Verhalten
stehen. Moralisches Verhalten muß daher im großen und
ganzen als das Resultat derselben situativen Kräfte,
Ich-Variablen und Sozialisationsfaktoren verstanden werden, die auch
jene Verhaltensweisen determinieren, die nicht unmittelbar moralisch
bedeutsam sind.
Nach Jean Piagets Entwicklungstheorie kommt das Kind aus einem
amoralischen Stadium in ein Stadium des Respekts gegenüber
unverletzlich scheinenden Regeln. Das Kind betrachtet solche Regeln
allerdings wie andere Dinge (Kindlicher Realismus) und ist
unfähig, zwischen subjektiven und objektiven Aspekten der Umwelt
bzw. seiner Erfahrung mit ihr zu unterscheiden (Egozentrismus).
Während das Vorschulkind und Schulkind von einer
autoritätsbestimmten (heteronomen) Moral geleitet wird
(moralischer Realismus) entwickelt sich gegen Ende des
Grundschulalters eine selbstbestimmte (autonome) Moral, die
unabhängig von den erwachsenen Bezugspersonen wirksam ist.
Aufbauend auf Piagets Modell entwickelte Lawrence Kohlberg ein differenziertes Stufenmodell mit drei Hauptniveaus und sechs Stadien moralischen Verhaltens. Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von hypothetischen moralischen Konfliktsituationen vor (etwa, ob man ein teures Medikament stehlen darf, um den Tod seiner eigenen Frau abzuwenden) und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu. Zwar ergab sich eine gute Übereinstimmung mit den theoretischen Annahmen, doch zeigte sich auch, daß es große Unterschiede im Entwicklungsverlauf der einzelnen Kinder gibt und daß auf den einzelnen Altersstufen Urteile im Sinne verschiedener Stadien abgegeben werden, je nach Situation und Problemstellung. Es wird daher im folgenden darauf verzichtet, bei den einzelnen Stadien Altersangaben anzugeben.
Präkonventionielles StadiumIn diesem Stadium ist das Kind für klare Etikettierungen wie "gut und böse", "richtig oder falsch" empfänglich. Es legt diese entweder im Sinne der materiellen oder hedonistischen Konsequenzen der Tat (Bestrafung, Belohnung, Austausch von Vergünstigungen) aus oder im Sinne der physischen Macht derjenigen, die die Regeln und Etikettierungen aufstellen.
Heteronome Moralität
Die materiellen Konsequenzen einer Handlung entscheiden darüber,
ob eine Tat als gut oder schlecht angesehen wird, unabhängig von
der menschlichen Bedeutung oder dem Wert dieser Konsequenzen. Das
Kind orientiert sich ausschließlich an der Strafvermeidung und
der Unterwerfung unter die Macht und nicht an der Achtung vor der
zugrundeliegenden moralischen Ordnung, die durch die Bestrafung und
Autorität aufrechterhalten wird. Die soziale Perspektive des
Verhaltens ist immer individuell (Egozentrismus) und Handlungen
werden rein nach dem äußeren Erscheinungsbild beurteilt
und nicht nach irgendwelchen "dahinterliegenden"
Intentionen.
Individualismus, Zielbewußtsein und
Austausch
Richtiges Handeln ist das, wodurch die eigenen Bedürfnisse und
-gelegentlich - die Beürfnisse anderer befriedigt werden. Die
menschlichen Beziehungen werden wie die Beziehungen auf einem
Marktplatz gesehen. Gerecht ist, was ein gleichwertiger Austausch,
ein Handel oder ein Übereinkommen ist. Elemente von
Fairneß, von Reziprozität (Wechselseitigkeit) und
gerechtem Teilen sind vorhanden, sie werden aber eher pragmatisch
interpretiert. Gegenseitigkeit ist eine Angelegenheit von "eine Hand
wäscht die andere", nicht von Loyalität, Dankbarkeit und
Gerechtigkeit, d.h., unabhängig von konkreten Personen
existierenden Normen. Die soziale Perspektive ist deutlich
individualistisch, wobei bereits die Einsicht besteht, daß es
Interessenskonflikte gibt und Gerechtigkeit ein relativer Begriff
ist.
Konventionelles StadiumIn diesem Stadium wird die Unterstützung der Erwartungen der Familie, Gruppe oder Gesellschaft des einzenen als wertvoll an sich verstanden, unabhängig von den unmitterbaren oder offensichtlichen Konsequenzen. Die Haltung des einzelnen ist nicht nur konform mit den persönlichen Erwartungen und der sozialen Ordnung, sondern sie ist auch von Loyalität dieser Ordnung gegenüber gekennzeichnet, was sich in einer aktiven Unterstützung, Verteidigung und Rechtfertigung der Ordnung und in der Identifizierung mit den sie tragenden Personen oder Gruppen äußert. Auf diesem Stadium erlebt das Kind sich als MItglied einer Gemeinschaft.
Wechselseitige Erwartungen, Beziehungen und interpersonale
Konformität
Gutes Verhalten ist ein Verhalten, das anderen gefällt, ihnen
hilft und von ihnen gelobt wird. Man beobachtet Konformität mit
stereotypen Vorstellungen davon, was "natürliches" oder
Mehrheitsverhalten ist. Das Verhalten wird schon häufig nach der
dahinterstehenden Absicht beurteilt. "Er meint es gut" wird zum
erstenmal wichtig. Man bemüht sich um Lob, indem man "lieb" ist
("braves Kind"). Man möchte in den eigenen Augen und in denen
anderer als "guter Mensch" dastehen und dadurch die Zuneigung anderer
gewinnen. Die soziale Persepktive des Handelns orientiert sich an dem
Gefühl der Gemeinschaft, der Übereinkünfte und
Erwartungen, die Vorrang vor individuellen Interessen bekommen. Das
Kind kann sich bereits in einen anderen hineinversetzen.
Soziales System und Gewissen
Das Kind orientiert sich an der Autorität, an festen Regeln und
an der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Richtiges Verhalten
besteht darin, seine Pflicht zu tun und die gegebene soziale Ordnung
um ihrer selbst willen zu erhalten. Das Recht steht im Dienste der
Gesellschaft, einer Gruppe oder Institution, wobei eingesehen wird,
daß Regeln dazu da sind, das Funktionieren der Gemeinschaft zu
gewährleisten. Auf dieser Stufe macht man einen Unterschied
zwischen dem gesellschaftlichen Standpunkt und der interpersonalen
Übereinkunft bzw. den auf einzelne Individuen gerichteten
Motiven. Das Kind kann auf dieser Stufe den Standpunkt des sozialen
Systems einnehmen, das Rollen und Regeln festlegt.
Postkonventionelles, autonomes oder von Prinzipien geleitetes StadiumIn diesem Stadium besteht ein deutliches Bemühen, moralische Werte und Prinzipien zu finden, die ihre Gültigkeit und Bedeutung unabhängig von der Autorität von Gruppen oder Menschen haben, die diese Prinzipien vertreten, aber auch unabhängig von der Identifizierung des einzelnen mit diesen Gruppen.
Das Stadium des sozialen Kontraktes bzw. der
gesellschaftlichen Nützlichkeit
Richtiges Handeln wird in erster Linie im Sinne allgemeiner,
individueller Rechte und der von der gesamten Gesellschaft kritisch
geprüften und gebilligten Normen definiert. Das Kind ist sich
des Relativismus der persönlichen Werte und Meinungen klar
bewußt, sowie der damit verbundenen Notwendigkeit,
Verfahrensregeln einzuhalten, die zu einem Konsens führen.
Abgesehen von dem, worauf man sich verfassungsmäßig und
demokratisch geeinigt hat, ist das Recht eine Angelegenheit der
persönlichen "Werte" und "Meinungen". Die soziale Perspektive
ist auf dieser Stufe der Gesellschaft vorgeordnet, wobei Konflikte
zwischen einzelnen legalen Handlungen erkannt und integriert werden
können.
Das Stadium der universalen ethischen Prinzipien
Das Recht ist durch die Gewissensentscheidung im Einklang mit den
selbstgewählten, ethischen Prinzipien definiert, die sich auf
die logische Vollständigkeit, Allgemeingültigkeit und
Konstanz berufen. Diese Prinzipien sind abstrakt und ethisch
("goldene Regel", "kategorischer Imperativ"); es sind keine konkreten
moralischen Regeln wie die zehn Gebote. Im Grunde sind es
allgemeingültige Prinzipien der Gerechtigkeit, der
Reziprozität, der Gleichheit der Menschenrechte und der Achtung
vor der Würde des Menschen als Einzelwesen. Auf dieser Stufe hat
das Individuum die Perspektive eines moralischen Standpunktes,
daß jeder Mensch seinen (End)Zweck in sich selbst trägt
und dementsprechend behandelt werden soll.
Ein kleiner Test:
Zusammengefaßt nach:
Kohlberg, L. (1976). Moral stages and moralization: the cognitive
development approach. In: Kohlberg, L. (Hrsg.): Moral development and
behavior. New York: Holt, Rinehart & Winston.
Colby, A. & Kohlberg, L. (1978). Das moralische Urteil: Der
kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz. In: Steiner,
G. (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band VII: Piaget
und die Folgen. Zürich: Kindler.
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