Damit Schüler den Unterricht lieben wie ihren Computer Wenn Jugendliche Dinge selbst herausfinden, beginnen sie zu verstehen - Pauken nützt nur der Bildungsstatistik
Von Rainer Werner
BERLIN. Seit Vergleichsstudien deutschen Schülern ein allenfalls mittleres Niveau bescheinigt haben, reagieren Politiker reflexartig mit der Forderung nach mehr Leistung. Darunter verstehen sie mittels formalisierter Tests abfragbares Wissen, ausgedrückt in Zensuren. Mehr Leistung bedeutet so mehr Kontrollen. Hinter solchen Forderungen verbirgt sich ein fundamentales Missverständnis darüber, wie Schüler erfolgreich lernen.
Werfen wir einen Blick in eine Unterrichtsstunde an einem Gymnasium. Der Lehrer steht vor einer neunten Klasse und unterrichtet Geschichte: die Entstehung des Deutschen Reiches von 1815 bis 1871. So steht es im Lehrplan. Er fängt an, die historischen Fakten zu schildern, verteilt einen Arbeitsbogen und schreibt wichtige Daten an die Tafel. Dann versucht er die Klasse in eine Diskussion darüber zu verwickeln, warum nur die Einigung des Reiches "von oben" möglich war. Das gelenkte Unterrichtsgespräch, so der didaktische Terminus, ist ein dünnes Rinnsal: Ein paar Interessierte - meistens mit häuslicher Vorbildung - versuchen sich mit einer Antwort. Der Rest ist Schweigen. Dieses Ping-Pong-Verfahren - Lehrer diskutiert mit vier Schülern - lässt die Mehrheit der Klasse unberührt. Es bleibt offen, ob die Passiven nur gelangweilt sind oder das Thema nicht verstehen. Geprüft wird das in der Stunde nicht. Der Lehrer tröstet sich mit Entwicklungspsychologie: Pubertierende Jugendliche interessieren sich mehr für das andere Geschlecht als für den preußischen Verfassungskonflikt.
Ist das ein Trost? Muss Unterricht in der Mittelstufe so aussehen? Szenenwechsel: Universität. Der Didaktiker Gerold Scholz pflegt in Seminaren mit seinen Studenten zu experimentieren. Sie sollen aus beliebigen Fächern Faktenwissen aus dem Gedächtnis abrufen. Die Ergebnisse sind kläglich, obwohl die Schulzeit oft wenige Jahre zurückliegt. Scholz leitet daraus seine Grundthese ab: "Kinder sind nicht belehrbar. Sie können nur selbst lernen." Schule und Universität verhalten sich zueinander wie kommunizierende Röhren. Halbgares Wissen und die ungefestigten Lernmethoden aus der Schule pflanzen sich in die Uni fort und lassen in manchen Fachbereichen die Abbruchquoten höher ausfallen als die Abschlussquoten.
Was macht den Schulunterricht besser ? Messungen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung haben ergeben, im Schnitt sind nur 2,6 Prozent des Unterrichts nicht lehrerdominiert. In einer Klasse mit 30 Schülern kommt jeder Schüler eineinhalb Minuten lang zu Wort - falls der Lehrer ganz schweigt. Gängige Unterrichtsmethoden sind das gelenkte Unterrichtsgespräch, die direkte Instruktion, der Vortrag. Unhinterfragt und unangefochten gaben Lehrer das Methodenrepertoire von Generation zu Generation weiter. Erst in den Jahren nach der 68er-Bewegung kamen Gruppen- und Partnerarbeit - ergänzend - dazu. Jeder experimentierfreudige Lehrer kann ein Lied davon singen, wie oft seine kommunikative Sitzordnung (U-Form, Karree, Gruppentische) vom nächsten Lehrer wieder zurückgebaut wird, weil er sich nicht zurechtfindet.
Der Trugschluss, der die traditionellen Lernformen legitimiert: Bei den Schülern bleibt für kurze Zeit tatsächlich Wissen hängen - meistens bis zur Klassenarbeit. Würde man dieselbe Klausur vier Wochen später erneut schreiben lassen, hätten sich die Kenntnisse deutlich verflüchtigt. Schüler wissen besser als Lehrer, dass sie für das Kurzzeitgedächtnis lernen. Deshalb büffeln sie am Tag vor dem Test.
Von der Lerntheorie ist bekannt, nur etwa zehn Prozent der Schüler gehört zum abstrakt-verbalen Lerntyp, dem es leicht fällt, den herkömmlichen Lehrervortrag zu verstehen. Die meisten Jugendlichen werden dem praktisch-anschaulichen Typ zugerechnet, der auf das Selbstmachen angewiesen ist. Jeder Erwachsene kann einmal einen der vielen in Zeitschriften angebotenen Lerntests machen. Er wird dabei erleben, was die empirische Forschung zeigt: Was man hört, behält man zu 20 Prozent, was man sieht und liest zu 30 Prozent. Was man sich in tätiger Weise selbst aneignet, bleibt zu 80 Prozent präsent.
Im Alltag können wir dazu ein aufschlussreiches Experiment studieren: in Bereichen wie der Computertechnik oder Telekommunikation, wo Schüler den Erwachsenen, ja oft den Fachlehrern für Physik und Mathematik überlegen sind. Fragen wir, wie sie ihr immenses Wissen und die raffinierten Fertigkeiten erworben haben, bekämen wir ein müdes Lächeln, das besagen soll: selbst beigebracht. Und zwar mit selbsttätigem Lernen, mit einem Lernen mit hoher Motivation und zu einem bestimmten Zweck, oft mit praktischem Nutzen. Welches Schulfach kann diesen Dreiklang bieten: Motivation, Eigentätigkeit und praktischen Nutzen ?
Was kann die Schule daraus lernen? Dauerhaft wird Wissen, wenn es systematisch und mit eigenem Entdecken erworben und angewendet wird. Es gibt inzwischen Schulen, die sich solchen entdeckenden Lernformen zugewandt haben. Eine Hamburger Gesamtschule hat den Englischunterricht der Oberstufe zu einem fächerverbindenden Projekt umgestaltet. Die Schüler bilden sich zum Fremdenführer für Ausländer aus, die über die Sehenswürdigkeiten der Stadt auf Englisch informiert werden sollen. Das Projekt läuft mit dem Segen des Fremdenverkehrsamts. Ausbildungsinhalte sind kultur-historisches Wissen, der englische Wortschatz und rhetorische Fähigkeiten. Zur Verblüffung der Lehrer war der Lerneffekt in der Fremdsprache ungleich größer als beim herkömmlichen Unterricht mit englischen Sachtexten. Der zweite Zugewinn betraf die Persönlichkeit der Schüler. Sie wurden in den wenigen Wochen der Arbeit als Fremdenführer selbstsicherer als in Jahren normalen Unterrichts.
Die Kultusminister müssen die Reform des Unterrichts anstoßen. Was Not tut, ist die Ausarbeitung von Lernarrangements in jedem Fach, die mehr Selbsttätigkeit im Lernen ermöglichen. Dabei darf das Ziel des Lernens nicht immer nur gesichertes Wissen sein. Um Kreativität und Methodenbewusstsein zu schaffen, sollte entdeckendes Lernen, der Umgang mit unterschiedlichen Lösungswegen mehr als bisher geübt werden. Lehrer müssen ihre Scheu vor den modernen Medien ablegen, weil sich hier effektive Lernmethoden auftun, die man für den Unterricht nutzen kann. Wichtig ist dabei die sinnvolle Einbindung in jedes Fach. Erfahrungen in Geschichte und Politischer Weltkunde zeigen, dass Schüler ohne strukturierendes Vorwissen in der unverstandenen Flut der Information, die im Internet abrufbar sind, hilflos umher schwimmen. Aufgabe des Unterrichts ist mehr denn je, Grundlagen zu vermitteln, Strukturen und Modelle, denen sich das konkrete Wissen zuordnen lässt.
Zurück zu unserer Geschichtsstunde in der neunten Klasse. Wie könnte eine Methode aussehen, die alle Schüler einbindet und von ihnen eine aktive Teilnahme einfordert ? Ansatzpunkt ist das Prinzip, Geschichte erfahrbar zu machen. Die Klasse wird in kleine Gruppen aufgeteilt, die sich mit den Lebensbedingungen der einzelnen Schichten und den politischen Erwägungen der Entscheidungsträger befassen. Dazu erhalten sie vom Lehrer Material, Quellen über das Leben der Menschen im 19. Jahrhundert. Alle Schüler sollen sich die Lebensumstände so aneignen, dass sie im Rollenspiel ihre Schicht oder Vertreter einer Partei handelnd vertreten. Die Konflikte, Entscheidungen, Weichenstellungen der historischen Situation werden spielerisch nachgestellt. Die Schüler reden nicht über Geschichte, sie handeln als historische Figuren.
Es gibt Lehrer, die ab und zu solche Sternstunden in ihren Klassen zaubern. Den Unterrichtsalltag prägen sie freilich nicht. Den Entdeckungsreisen steht alleine schon der 45-Minuten-Rhythmus der Schule entgegen.
Rainer Werner ist Deutsch- und Geschichtslehrer an einem Berliner Gymnasium.
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© Frankfurter Rundschau 2000
Dokument erstellt am 17.08.2000 um 21:05:18 Uhr
Erscheinungsdatum 17.08.2000