Monika Ermert
Wie in der realen Welt lässt sich auch im Cyberspace nicht verhindern, dass heranwachsende Menschen mit Menschlichem oder Allzumenschlichem konfrontiert werden. Filter- Software arbeitet nicht immer zuverlässig und verwendet zumeist schwer nachvollziehbare Kriterien bei der Sperrung von Websites. Bis zum Sommer soll die Internet Content Rating Association (ICRA) im Auftrag der EU-Kommission ein globales Kategoriensystem für die Selbstdeklaration von Inhalteanbietern vorlegen.
Das unschuldige Bedürfnis, mit Hilfe einer Internet-Suchmaschine Informationen über fussballspielende «Young Boys» zu finden, die Suche nach «Teenager Websites», ja nur schon ein geringfügiger Schreibfehler beim Eintippen des Namens einer bekannten Suchmaschine kann genügen, dass sich jugendliche Surfer in die Rotlichtviertel des Internets verirren. Verständlich also, dass besorgte Eltern und Lehrer, wenn sie den Jugendlichen den Computer auch nicht verbieten, so doch diesen mit einer Kindersicherung ausstatten möchten. «Derzeit bekommen wir rund vier Anfragen pro Woche, Tendenz steigend», sagt Lorenz Ramseyer von der schweizerischen Fachstelle für Informationstechnologien im Bildungswesen1 (SFIB) in Bern. Die Enttäuschung sei dann allerdings gross, wenn man den Eltern oder Lehrern sagen müsse, dass sich das Problem Software-technisch nicht lösen lasse.
Es mangelt nicht an Programmen, die versprechen, unerwünschte Internet-Inhalte automatisch auszublenden. Eine amerikanische Initiative namens Getnetwise,2 die von Organisationen wie Safekids.com, Cyberangels, The National Center for Missing & Exploited Children oder der People for the American Way Foundation getragen wird, listet auf ihrer Website 111 solcher Filterprogramme auf. Sie haben sprechende Namen wie Netnanny, Cyberpatrol oder Netshepard.
Das weit verbreitete und auch auf deutsch erhältliche Filterprogramm Cyberpatrol zum Beispiel bietet «Cyber-Not»- und «Cyber-Yes»- Listen, in denen vom Hersteller Solid Oaks für schädlich befundene beziehungsweise als wertvoll erachtete Web-Adressen zusammengefasst sind. Ein Passwortschutz soll dafür sorgen, dass die Kleinen nicht schummeln und die Eltern freien Zugang behalten; die Möglichkeiten, Zeitlimits für den Aufenthalt im Web vorzugeben und/oder den Besuch von Chat-Kanälen einzuschränken, runden den Funktionsumfang der Software ab.
Alle Filterprogramme verwenden ähnliche Verfahren. Entweder verlassen sie sich auf Listen mit den Adressen erlaubter oder verbotener Websites. Oder sie konsultieren jedesmal, bevor sie eine Webseite auf dem Bildschirm anzeigen, eine Liste von Schlüsselwörtern und stellen sicher, dass die anzuzeigende Seite Wörter wie «sex», «violence» oder «rape» nicht enthält. Dabei können allerdings unter Umständen auch pädagogisch wertvolle Materialien, ein Dokument über Sussex oder eine sexualkundliche Abhandlung unterdrückt werden. Dort wo menschliche Zensoren die Aufgabe übernehmen, Internet-Seiten zu bewerten, sind sie angesichts des rasch wachsenden Umfangs des im Internet gespeicherten Materials, angesichts von bereits mehr als einer Milliarde Webseiten, rasch überfordert.
«Technische Lösungen allein können beim Medium Internet keinen absoluten Schutz bieten», heisst es daher auch in einer aktuellen Untersuchung3 des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. «Sie können die Aufklärung und die Massnahmen zum Aufbau von Medienkompetenz bei Jugendlichen nur begleiten.» Die Studie, die nach Auskunft eines Vertreters im Wirtschaftsministerium Grundlage für gesetzgeberische Massnahmen zur Sicherung des Jugendschutzes im Internet sein soll, weist zudem darauf hin, «dass die verfügbaren Filterprogramme überwiegend amerikanischer Herkunft sind und nicht auf den deutschsprachigen oder europäischen Kulturraum passen». Die Transparenz und die Überprüfbarkeit der Bewertungen sei in allen getesteten Fällen nur unzureichend gelöst. Manchmal wollen die Hersteller von Filterprogrammen ihre Anwender nicht nur vor Gewalt, Rassismus oder Sex schützen: So wurden etwa auch Informationsangebote, die wie die der Youth Alliance against Internet Censorship4 die Filterprogramme kritisieren, auf den Index gesetzt.
Vertreter der Computerindustrie und auch Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks setzen ihre Hoffnungen zunehmend auf die Selbstdeklaration der Inhalteanbieter, wie sie etwa im Rahmen der durch die Bertelsmann-Stiftung initiierten Internet Content Rating Association (ICRA)5 realisiert werden könnte. Experten haben im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung analysiert - und in einem Buch6 dokumentiert -, wer im Internet Verantwortung übernehmen müsste und wie mit dem Jugendschutz auch die Informationsfreiheit gesichert werden könnte.
Technische Basis für das vom Nutzer variabel einsetzbare Filtersystem bildet ein vom WWW- Consortium (W3C) entwickelter Standard zur Beschreibung von Daten. Mit der Platform for Internet Content Selection (PICS) - einer Anwendung des Resource Description Framework (RDF) - lässt sich in maschinenlesbarer Form definieren, was ein Web-Dokument enthält. Die Massstäbe können von beliebigen Gruppen festgelegt werden. Der Anwender kann daraufhin mit Filterprogrammen, die PICS/RDF unterstützen, vorgeben, welche Inhalte er gemäss welchen Kriterien auf seinem Rechner sperren möchte.
Filterung sei in Zukunft unausweichlich, schreibt Jack Balkin in einem Gutachten für die Bertelsmann-Stiftung. Balkin ist einer der zwölf «Weisen», die die ICRA mit der Erarbeitung eines Grundwortschatzes für die von ihm entworfene globale Filterarchitektur beauftragt hat. Bereits diesen Sommer soll mit der Programmierung begonnen werden. Balkin befürwortet eine globale Filterarchitektur, innerhalb der nationale Filterprovider auf der Basis einheitlicher Methoden für die Selbstdeklarationen von Anbietern landestypische Filterprodukte erarbeiten sollen. Damit soll die ideologische Hegemonie der USA verhindert werden und dem Nutzer die Wahlmöglichkeit zwischen liberaleren und konservativeren Produkten bleiben. Zum Credo der Selbstregulierer gehört ausserdem, dass niemand zur Bewertung seines Angebotes oder - auf der anderen Seite - zum Einsatz von Filtern gezwungen werden darf.
Doch die Software-Ingenieure können nicht verhindern, dass auch Regierungen in diesem Bereich Handlungsbedarf erkennen. In Australien sind Internet-Provider seit Beginn dieses Jahres gezwungen, bestimmte Inhalte auszufiltern. Und auch in der Studie des deutschen Wirtschaftsministeriums ist von einer staatlichen Kontrollinstanz die Rede. Netzaktivisten, die die Redefreiheit über alles stellen, aber auch besonnene Juristen empfinden solche Eingriffe als problematisch. Als Mittelweg zwischen der Skylla der Jugendgefährdung und der Charybdis der Zensur schlägt der amerikanische Rechtsprofessor Lawrence Lessig digitale Ausweise vor, mit denen Minderjährige im Internet als solche zu erkennen wären. Die Inhalte bleiben dabei unangetastet, aber der Zutritt zu ihnen wird eingeschränkt. Auch bei diesem Verfahren können Missbräuche nicht ausgeschlossen werden, und auch hier müssten Möglichkeiten geschaffen werden, um kulturelle Unterschiede zu berücksichtigen. Lessig ist aber überzeugt, dass sich ein solcher Eingriff in den elektronischen Informationsaustausch besser auf reine Jugendschutzmassnahmen beschränken lässt und in technischer wie auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht weniger Probleme aufwirft.
Es dürfte also noch eine Weile dauern, bis ein technisch gut funktionierendes, einfach handhabbares, allseits akzeptiertes Verfahren für die Filterung von Internet-Inhalten zur Verfügung steht. Vorerst ist also noch der persönliche Einsatz von Eltern und Lehrern gefordert, um Kinder und Jugendliche im Internet nicht auf Abwege geraten zu lassen. «Unseriöse Angebote auf dem Netz sind kein Grund, das Kind mit dem Bade auszuschütten und den freien Informationszugang zu unterbinden», heisst es daher in einer von der Bildungsdirektion des Kantons Zürich herausgegebenen Schrift mit dem Titel «Lösungsansätze für den Umgang mit problematischen Inhalten im Internet». Verantwortung lasse sich nicht an Schutzprogramme und Informationsfilter delegieren, schreibt der Autor Peter Bucher. Da sei es doch ehrlicher, sich den Risiken zu stellen. Die Bildungsdirektion - wie auch die SFIB - empfiehlt deshalb, dass Schüler, Eltern und Lehrer gemeinsam eine Charta für den Umgang mit dem Internet, dem wichtigsten Informationsmedium der Zukunft, unterschreiben. «Der Kontrolle kann man ausweichen, indem man sich nicht erwischen lässt, der Selbstverantwortung müssen sich alle stellen.»
Monika Ermert
1 http://www.educa.ch/d/index.html
2 http://www.getnetwise.org/
3 http://www.secorvo.de/projekt/jugendschutz.htm
4 http://www.peacefire.org/
5
http://www.stiftung.bertelsmann.de/english/internetcontent/projdesc.htm#mission
6 Jens Waltermann, Marcel Machill (Hrsg.): Verantwortung
im Internet. Selbstregulierung und Jugendschutz (erscheint im
Frühling 2000).
Neue Zürcher Zeitung, 11. Februar 2000