Seinen Hut setzte er noch im Haus auf und zog
ihn tief ins Gesicht. Ach wie oft er sich nicht
schon gemahnt hatte, diese Geste offensichtlichen
Verstecken-Wollens zu unterlassen, es gelang ihm
auch diesmal nicht. Zu groß war die
Übereinstimmung von körperlichem Ausdruck
und innerem Befinden. "Eine Tarnkappe wäre das
Ideale", dachte er darum und ließ den Hut, wo
ihn seine Beschützerhände so
vorsorglich platziert hatten um, ja um, aus dem
Haus getreten, direkt in die Arme seiner
Gemeindereferentin zu laufen.
"Ach, wo wollen Sie denn so schnell hin?" fragte
diese. Aber Gott sei Dank war er darauf
vorbereitet und hatte die Antwort bereits mehrfach
erfolgreich angewendet. So zögerte er kaum
einen Moment, (und vielleicht war das gerade das
Auffällige daran, denn hätte er sich
nicht, unter normalen Umständen,
zunächst einmal nach dem Befinden der
Angerempelten erkundigen müssen?) ihr die
bewährte Geschichte von dem alten Schulfreund
aufzubinden mit dem er sich noch ab und an -
Man-muß-ja-auch-mal-was-And'res-machen
- zum Schachspielen traf. Er sei auch schon
spät d'ran, die Fähre ginge jede Minute,
denn jener wohne ja op de schäl sick,
sie entschuldige dann wohl, morgen sei er wieder zu
sprechen, vielleicht könne ihr ja inzwischen
schon Frau Gerbig weiterhelfen...?
Sprach's und strebte der Via Veneto zu, der
Straße, die ihn zum Ufer des großen
Stroms führen würde, wo tatsächlich
die Fähre auf ihn wartete. Er war zivil
gekleidet, wie immer zu diesem Anlass und zunehmend
auch sonst. So satt war er es, ständig als
Instanz unterwegs zu sein, von allen erkannt,
angesprochen oder doch zumindest angestarrt zu
werden. Es war mal wieder Zeit war für die
monatliche Reinigung der Sinne von all dem
seelischen Dreck mit dem abzugeben er sich
verpflichtet hatte
Jesus, wenn er damals gewußt
hätte, wie lang ein Leben alleine
werden kann. Über die 33 war er schon ein
Drittel drüber und erfreute sich noch immer
bester Gesundheit, sah man mal von dem
empfindlichen Magen ab, der ihn hier und dort
für einige Tage aus dem Verkehr zog. In
Anbetracht seiner Reise Ziel über den
doppelten Wortsinn grinsend, trat er gerade von der
Brücke aufs schwankende Schiff, dem
Fährmann auf seine Frage: "Wie, iss att widde
ne Mons eröm?" ein munteres "Ja und der
Bursche will geschlagen sein!"
zurückgebend.
Auch hier hatte er sein perfekt erfundenes Alibi
zum Einsatz gebracht. Und war er erst auf der
anderen Seite, so kannte ihn niemand mehr, denn der
Strom trennte an dieser Stelle eine endemische Welt
von der anderen. Nur wenige Berufspendler,
Ausflügler oder Durchreisende kreuzten den
Fluss mit den hochsubventionierten Fähren, die
auf diesen 60 Stromkilometern ohne Brücke nur
eine Illusion von Verbindung schafften. In
Wirklichkeit blieb jeder auf seiner Seite und wenn
man doch mal ausflugsweise rüber fuhr, so
verblüffte einen die Fremdartigkeit dieser
so nah und doch so fernen Welt.
Statt sich aber der Entdeckung jenes unbekannten
anderen Ufers zu widmen, wird die Aufmerksamkeit
nahezu jeden Uferwechslers von einer besonderen
Eigenart des Szenarios gebannt. Der Entdeckung
nämlich, dass wir am nun anderen Ufer ins
Unbekannte verrückt die alte Heimat
ausmachen, die uns sonst nie so
gegenüber stand. Und schon suchen
unsere Augen nach Orientierungspunkten, da der
Italiener, da drüben das Rondell, dazwischen
die Via Veneto. Alles klar, wir sind wieder
daheim.
Er würde erst danach,
aufgewühlt und erleichtert zugleich, auf der
Überfahrt wie eine Schlange in seine Haut
fahren, das wildere Ufer wieder in den
Anblick zurück verwandelnd, der es
für Gewöhnlich war - bis zum
nächsten Mal.
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