SIEB.10/Prosa

:4711

Werner Stangl

unendlichkeit

 

vermutlich hatte man vergessen, am abend die unendlichkeit abzuschalten. man hatte es vergessen und man hatte die folgen zu tragen. war es ein wunder, daß die unendlichkeit schließlich durchgebrannt ist? zwischen zwei klimmzügen ist das seil zerrissen. nicht in der mitte, mehr gegen das eine ende zu. und man fühlte es, man erahnte es ohne daß man es wußte: die unendlichkeit war durchgebrannt.

bald fand man eine ersatzunendlichkeit, aber sie war nicht wie die alte, die durchgebrannte. sie machte zwar genausoviel lärm, aber die kenner rieben ihre zungen an ihren dicken unterlippen und nickten: sie wußten es. man hatte sich schon damit abgefunden, man stieß sich nicht mehr daran. ersatz war gefunden, qualität war nebensache. der prozentsatz wuchs in superlativen, und die werbetrommel versprach, bald abhilfe zu schaffen. slogans wie "die neue unendlichkeit, ein neues lebensgefühl" oder "so schön wie's einmal war, wird's wieder" lösten einander ab.

die spannung war groß.

im triumphzug wurde sie durch die stadt getragen. der bürgermeister sprach und man applaudierte. und noch viele leute redeten und priesen. endlich war sie da, die neue unendlichkeit. endlich. und wieder nickten die kenner, diesmal befriedigt. einige skeptiker brachte man zum schweigen. miesmacher gibt es immer. mit einem riesigen flaschenzug wollte man sie hochheben, um sie am fernsehturm zu befestigen. man sprach von einigen millionen, die der chef der fernsehgesellschaft bezahlt haben sollte. aber das war alles nebensache. allein zählte die tatsache, daß man sie wieder hatte: eine neue, eine bessere, eine ideale unendlichkeit.

die ersatzunendlichkeit hatte man gestern entfernt, und sie schlief am städtischen schuttabladeplatz. vergessen und mißachtet.

wie sie glänzte, die neue unendlichkeit, wie sie leuchtete. die strahlendste unendlichkeit, die es je gab. langsam hob sie sich gegen den himmel. die umstehenden menschen zeigten ihre weißen hälse. die sonne, die am bedeckten himmel stand, konnte sie nicht blenden. man hatte schon lange nicht solch ein fest gefeiert. einigen alten damen standen tränen in den augen.

höher, immer höher stieg sie. hurra! hurra! und welchen lärm sie machte. da plötzlich riß das seil, das gepriesene, das unzerreißbare! Die unendlichkeit zerschellte in tausend und abertausend illusionen, und alles stürzte sich auf die scherben, um wenigstens ein souvenir zu haben. abseits standen wieder die kenner und nickten: wir haben es ja immer gesagt. dann gingen sie nach hause. und sie nickten noch beim essen. man soll auch ein paar leute gesehen haben, die auf den schuttabladeplatz pilgerten. ein gerücht vermutlich.

 


Veröffentlicht in:
NEUE WEGE Nr. 229 24. Jg September 1968

 

 

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