Etcetera

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Werner Stangl

die ballade vom reiter ohne pferd
 

ein reiter reitet ohne pferd
fort von zuhaus und fort vom herd.
 
er reitet wohl ein halbes jahr,
weil's wetter grad so günstig war.
 
auf einmal fühlt der kühne reiter,
daß er so müd, er möcht nicht weiter.
 
da sieht der brave reitersmann,
daß auch sein pferd nicht weiterkann.
 
er sucht sich eine klare quelle,
wo auch zum ruhen eine stelle.
 
an einen baum bindt er sein pferd,
wie's für den reiter sich gehört.
 
er legt sich hin, ganz frei von kummer,
und bald sinkt er in tiefen schlummer.
 
er träumt, er ritte hundert jahr
und immerfort und immerdar.
 
er sieht sich selber voll entzücken
auf eines schönen pferdes rücken.
 
da merkt er plötzlich, noch im traum -
er sieht es, doch er glaubt es kaum -
 
daß er geritten ohne pferd,
fort von zuhaus und fort vom herd.
 
hier muß er wirklich herzlich lachen,
wer macht schon solche dummen sachen?
 
nun wacht er auf aus seinen träumen
und blicket hin zu jenen bäumen,
 
wo er den muntren quell gefunden,
und wo sein tier er angebunden.
 
da sieht er nun zu seinem schrecken
kein pferd, kein roß ist zu entdecken,
 
nicht einmal der verdauung reste,
nichts als nur bäume, sträucher, äste.
 
er rennet hin, er rennet her,
das reittier findt er nimmermehr.
 
der arme tropf, er kann's nicht fassen!
"das pferd hab ich im stall gelassen",
 
sagt er zu sich und kehret um,
zu fuß; fast geht ein jahr herum,
 
bis er betritt sein altes haus,
aus dem er einstens ritt hinaus.
 
er sucht im stall, in jedem zimmer,
von einem pferd kein blasser schimmer.
 
"vielleicht hab ich's am weg vergessen
vielleicht hat es ein wolf gefressen?"
 
nun, sei's wie's sei, auf jeden fall,
die reise macht er noch einmal.
 
und man erzählt, der brave mann
zog seine besten stiefel an.
 
und soll - so sagen es die leute -
stets weiterwandern, auch noch heute.
 

 


NEUE WEGE Nr. 228 23. Jg April 1968


 ©opyright Werner Stangl 1992

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