[Plakat zur Premiere von Brigitte Erdmann]
Probenfotos: Peter Wurst
Die Türe links wird aufgestoßen und ein Mann in einem weißen Arztmantel tritt mit militärisch-festem Schritt auf. Weiß trägt unter dem weißen Mantel vermutlich eine Uniform, zu erkennen sind allerdings nur die schwarzen Lederstiefel. Weiß ist etwa 45 Jahre. Ihm folgt ein Soldat mit einer Pistole im Gürtel - der Türsteher ist etwa 30 Jahre. Der Türsteher folgt untertänig, bleibt in etwa fünf Schritt Entfernung von Weiß stehen.
Weiß: (blickt sich um) Die Luft hier ist grauenhaft. (Zum Türsteher gewandt) Öffnen sie das Fenster.
Türsteher: Jawohl! (Geht zum Fenster und öffnet)
Weiß: (geht im Zimmer auf und ab, öffnet die rechte Türe, blickt hinaus) Sie haben ihre Instruktionen erhalten?
Türsteher: Jawohl!
Weiß: (schließt die Türe) Wir haben noch etwas Zeit. Holen sie die Stühle.
Türsteher: Jawohl! (Geht nach diesem Befehl bei der linken
Türe hinaus)
Weiß tritt zum geöffneten Fenster. Der Türsteher kommt mit den ersten beiden Stühlen, er zögert, blickt Weiß an.
Weiß: (ungehalten) Stellen sie die Stühle dort an die Wand! (er zeigt dabei neben das geöffnete Fenster)
Der Türsteher stellt wie befohlen die Stühle nebeneinander und entfernt sich wieder. Weiß steht dabei in der Mitte des Zimmers und beobachtet den Türsteher, wie er insgesamt acht Stühle hereinträgt und je vier rechts und links an der Wand anordnet.
Weiß: (blickt auf seine Uhr) Sie wissen, was sie zu tun haben?
Türsteher: Jawohl! (geht zur rechten Türe)
Weiß: Sie haben die Vorladungen zu kontrollieren und auf keine Fragen zu antworten. Haben sie verstanden?
Türsteher: (dreht sich zu Weiß um) Auf keine Fragen antworten. Die Vorladungen kontrollieren. Jawohl! (Geht bei der rechten Türe hinaus und schließt diese)
Weiß bleibt einen Augenblick überlegend stehen, geht dann zum Fenster, schließt es und zieht die Fensterklinke ab. Er vergewissert sich, daß das Fenster nicht mehr zu öffnen ist. Tritt bei der linken Türe ab. Nach einigen Augenblicken tritt Weiß bei einem Seiteneingang in den Zuschauerraum und setzt sich in die erste Reihe. Er hebt die Hand und der Transparentvorhang hebt sich.
Gerber: Guten Abend.
Seidler und Kindler: (fast gleichzeitig) Guten Abend.
Gerber blickt sich kurz um und setzt sich dann auf den Stuhl, auf den sich vorhin Seidler setzen wollte. Seidler blickt ihn beinahe vorwurfsvoll an, hebt dann eine Hand wie zum Protest. Blickt zu Frau Kindler, die sich inzwischen auf den zweiten Stuhl neben der rechten Türe gesetzt hat. Seidler schüttelt den Kopf und setzt sich auf den zweiten Stuhl neben der linken Türe. Gerber mustert den Raum, dann Seidler und Frau Kindler.
Kindler: (bemerkt, daß sie von Gerber gemustert wird) Sie haben auch eine Vorladung bekommen?
Gerber: (holt eine Brieftasche hervor und holt einen zusammengefalteten Zettel heraus) Vorladung. Sie haben sich am 26. 10. um 19 Uhr bei der oben genannten Adresse einzufinden. Unterschrift Dr. ... unleserlich.
Kindler: Wie bei mir. Und keine Begründung.
Gerber: Dabei ist der Termin doch ungewöhnlich, finden sie nicht?
Endler: Die werden schon wissen warum.
Gerber: (nach einer kurzen Pause) Hoffentlich dauert es nicht zu lange. Ich wollte mit meiner Frau ins Theater gehen. Ich habe telefonisch versucht, einen anderen Termin zu erhalten, doch (ironisch) am Telefon können keinerlei amtliche Auskünfte erteilt werden.
Kindler: Ich habe Zeit. Ob ich nun zu Hause sitze oder hier, das macht keinen Unterschied.
Seidler: Man kann sich gegen die Obrigkeit nicht wehren. Wir müssen gehorchen, ob wir wollen oder nicht.
Gerber: (an Seidler gewandt) Wissen sie, warum wir vorgeladen wurden?
Seidler: Nein! Wie gesagt, man hat sich zu fügen. (Steht auf, beinahe dozierend) Gegen den Staat und die Bürokratie kommt man nicht an. Alles wird durch Verordnungen und Erlässe geregelt. Es gibt immer mehr Zwang und immer weniger Freiheit. Es gibt keine Selbstverwirklichung, keine Individualität. Aber man lernt mit der Zeit, was man darf und was man nicht darf.
Gerber: (beinahe spöttisch) Früher oder später lernt man es.
Kindler: Zu meiner Zeit ...
Die rechte Türe öffnet sich erneut. Ender und Angelika, seine Frau, treten ein. Ender ist etwa 25 Jahre, sie etwas jünger. Beide sind betont nachlässig gekleidet. Sie trägt eine bunte Umhängetasche aus Stoff.
Ender: Guten Abend.
Angelika: (etwas leiser) Guten Abend.
Gerber: Guten Abend. (Humorvoll) Die nächsten Kandidaten.
Ender: (etwas irritiert) So ein unhöflicher Kerl da draußen. Hat mich gleich angeschnauzt, als ich ihn fragte, wie lange es heute wieder dauern wird.
Endler: Fragen stellen dürfen nur die da oben. Wir müssen nur die Antworten abliefern. Zu meiner Zeit ...
Seidler: (unterbrechend) ... war es auch nicht viel anders.
Gerber: Doch was wir antworten, das bleibt uns überlassen.
Ender: Das glauben sie? Wenn denen eine Antwort nicht in ihr Konzept paßt, dann stellen sie immer neue Fragen, bis man so denkt wie sie und so antwortet, wie sie es wollen.
Seidler: Wir müssen lernen, uns anzupassen.
Gerber: Ich kann zwar lernen, was ich in dieser Situation am besten sage, doch was ich glaube, was ich für richtig halte, das bestimme immer noch ich selber.
Seidler: (überlegen lächelnd) Mit der Zeit glaubt man auch daran, was man sagt.
Ender: Man muß sich dagegen wehren! Das ist die einzige Chance.
Seidler: Das ist sinnlos. Sie interessieren sich heute schon für unsere Gefühle. Eines Tages werden sie so weit sein, daß sie unsere geheimsten Regungen aufdecken können. Und von der Bloßlegung bis zur Kontrolle ist nur ein kleiner Schritt. Die erfinden schon die passenden Apparaturen, mit denen sie Löcher in unser Hirn machen können und dann
Gerber: Das werden wir nicht mehr erleben.
Seidler: Das ist zu hoffen.
Die Türe rechts wird aufgerissen und Jäger wird von zwei mit einer Maschinenpistole bewaffneten Soldaten hereingestoßen. Jäger ist etwa 30 Jahre alt. Er hat auf der Stirn eine blutige Schramme. Die Kleidung ist zwar nicht zerrissen, aber in Unordnung und weist auf Gewaltanwendung hin. Alle ziehen sich - beinahe ängstlich - vor ihm zurück. Frau Kindler ist die erste, die sich ihm nähert.
Kindler: (sich an Gerber wendend) Bringen sie bitte einen Stuhl.
Gerber nimmt einen Stuhl und stellt ihn in die Mitte des Raumes. Frau Kindler drückt Jäger vorsichtig auf den Stuhl nieder. Jäger läßt es beinahe geistesabwesend geschehen.
Seidler: (nähert sich vorsichtig) Den haben sie aber schön zugerichtet.
Kindler: Er braucht einen Arzt.
Gerber: (wendet sich an die Umstehenden) Versteht jemand etwas von Verletzungen?
Seidler: Ich war im Krieg. Da sieht man so manches. Doch ... ich weiß nicht ... ob ...
Kindler: Er wird ohnmächtig.
Seidler: Er sollte sich hinlegen. (Blickt sich um) Vielleicht könnte man ihn auf den Boden ...
Gerber: (geht zur Wand und holt zwei Stühle, die er nebeneinander stellt) Helfen sie mir doch.
Ender holt ebenfalls zwei Stühle und stellt sie zu den zwei anderen.
Gerber: (zu Ender) Nehmen sie ihn bei den Beinen.
Vorsichtig, von den anderen umstanden, legen sie ihn der Länge nach über die vier Stühle. Gerber und Ender treten zurück. Alle umstehen Jäger in einem offenen Kreis. Jäger kommt langsam zu sich.
Kindler: Sie haben ihn halbtot geschlagen.
Seidler: Vielleicht hat er auch nur einen Unfall gehabt. (Tritt näher zu Jäger) Wie ist das passiert?
Jäger: (richtet sich etwas auf) Heute ... heute nacht ... heute nachmittags ...
Seidler: (ungeduldig) Was war heute nachmittags?
Kindler: So lassen sie ihn doch in Ruhe.
Jäger: (stockend) Ich habe ihnen ... gesagt, daß ich nicht kommen werde. (Kurze Pause) Ich sagte, daß ich ... nicht länger ... mitmachen werde ... ich ... Schon vor einem halben Jahr ... haben sie mich bestellt ...
Kindler: Lassen sie ihn doch. In seinem Zustand ...
Seidler: Wir müssen wissen, was hier vorgeht.
Gerber: Das werden wir noch früh genug erfahren.
Kindler: (beipflichtend) Jetzt soll er sich erst einmal ausruhen. Sehen sie ihn doch an. Er bringt kaum ein Wort heraus. (Wendet sich an Jäger) Haben sie Schmerzen?
Jäger: Nein. Ich fühle sie nicht mehr.
Gerber: Lassen wir ihn in Ruhe. Wir können später mit ihm sprechen, wenn er sich erholt hat.
Jäger: (protestierend, aber schwach) Ich, ich will
Kindler: (schiebt Jäger ihre Handtasche unter den Kopf) So! Und nun sprechen sie nicht mehr.
Die anderen treten etwas zurück.
Ender: Ich werde das Fenster aufmachen. Die Luft hier herinnen ist zum Ersticken.
Seidler: Das geht nicht. Das Fenster läßt sich nicht öffnen.
Gerber: Das ist wie in einem Gefängnis.
Seidler: Die ganze Welt ist ein Gefängnis. Warum sollte hier keines sein?
Gerber: So ein Unsinn!
Die rechte Türe öffnet sich. Maximilian tritt ein. Er ist etwa 40 Jahre, hat schwarze nach hinten gekämmte Haare, trägt eine schwarze Hornbrille. Er will die Türe hinter sich schließen, da wird sie vom Türsteher wieder aufgedrückt und eine alte Frau hereingeschoben. Sie ist etwa 70 Jahre, geht vorgebeugt auf einen Stock gestützt. Maximilian wendet sich um, nimmt die alte Frau bei der Hand und führt sie zu einem Stuhl, auf den sich die Frau mühsam niederläßt. Sie blickt Maximilian dankend an. Die übrigen haben diesen Vorgang kaum bemerkt. Maximilian erblickt den auf den Stühlen liegenden Jäger, der regungslos liegt. Er ist etwas irritiert. Für einen Augenblick tritt vollkommene Stille ein.
Kindler: Guten Abend.
Maximilian: (noch immer verwirrt) Guten Abend. (Lauter) Guten Abend.
Gerber: Sie sind auch vorgeladen worden.
Maximilian: Vorgeladen? Vorgeladen!
Gerber: Ja, vorgeladen. Wissen sie, weshalb?
Maximilian: (memorierend) Wissen? Wissen! Gewissen! Weshalb? Halbes Gewissen. Gewiß!
Ender: Oh Gott! Ein Irrer! Der hat uns noch gefehlt.
Maximilian: (lächelnd) Irres Gewissen! Wirres Wissen. Gewiß.
Kindler: Hören sie auf.
Seidler: Richtig, so kommen wir nicht weiter.
Gerber: Wollen wir denn weiterkommen?
Seidler: Ich möchte endlich wissen, was das alles soll. Man hat uns hierhergeholt, ohne uns zu sagen, warum und wieso. Wir alle (unsicher) wollen doch wissen, warum wir hier sind? (Es tritt eine Pause ein) Ich werde den Türsteher fragen. (Geht energisch zur rechten Tür und versucht sie zu öffnen) Abgeschlossen!
Gerber: (geht zur linken Tür) Ebenfalls abgeschlossen. Meine Herrschaften, wir sind eine (ironisch) durch und durch geschlossene Gesellschaft.
Wieder tritt einen Augenblick Stille ein. Alle verharren in ihren Positionen. Die alte Prau nickt vor sich hin. Da fällt ihr plötzlich der Stock um, den sie neben sich angelehnt hatte. Alle wenden sich ihr zu. Angelika geht zur alten Frau und lehnt ihn wieder hin. Wieder eine kurze Pause.
Gerber: Wir sind vollzählig.
Seidler: Wie wollen sie das wissen.
Gerber: Acht Stühle, acht Personen. Alles hervorragend organisiert.
Maximilian: Acht Stühle organisiert. Acht Personen organisiert. Acht Stuhlpersonen. Organisationsstühle.
Gerber: (den Einwurf von Maximilian nicht beachtend) Wir müssen herausfinden, was sie von uns wollen.
Seidler: Jetzt auf einmal! Zuerst haben sie gesagt,
Gerber: Das ist jetzt uninteressant. Es ist besser, wenn wir Klarheit erhalten.
Ender: Es muß doch einen Grund geben, warum gerade wir (zeigt auf die Umstehenden) hierher vorgeladen wurden.
Gerber: (zuckt mit den Schultern) Vielleicht wollen sie etwas erfahren? Vielleicht wollen sie etwas wissen?
Seidler: Sie registrieren doch alles.
Gerber: In unserem Fall vielleicht nicht!
Ender: Was heißt Fall?
Gerber: Ein Vorfall eben. Über den sie Klarheit haben wollen.
Ender: Wir kennen einander doch nicht. Wir haben uns bewußt doch noch nie gesehen. Außer meiner Frau und mir.
Gerber: Irgendeinen gemeinsamen Bezugspunkt muß es doch geben.
Seidler: Vielleicht wohnen wir in der Nähe.
Gerber: Da ist zwar unwahrscheinlich, aber bitte. Ich wohne im zwölften Bezirk.
Seidler: Ich im dreizehnten.
Ender: Wir im achten.
Maximilian: Maximiliansbezirk. Maxibezirk.
Kindler: (kichernd) Ich wohne im neunzehnten.
Gerber: (sich an Jäger wendend) Und sie?
Kindler: Er ist eingeschlafen.
Gerber geht zur alten Frau, die vor sich hinnickend, unbeteiligt geblieben war.
Gerber: (laut) Wo wohnen sie?
Die alte Frau registriert kaum, daß sie angesprochen wurde. 8ie nickt nur vor sich hin, ohne eine Antwort zu geben. Sie lächelt.
Seidler: So kommen wir nicht weiter!
Gerber: Das kann es also nicht sein. Vielleicht ...
Es ertönt eine Stimme aus einem nicht sichtbaren Lautsprecher.
Stimme: Die Schuld ist allgemein.
Alle sind erschrocken. Sie verharren in ihren Positionen.
Maximilian: (nachäffend) Die Schuld ist allgemein. Die Schuld ist allgemein. Die Schuld ist allgemein.
Seidler: (erregt) Was war das? Und was soll das heißen?
Ender: Das ist sicher ein neuer Trick von denen.
Seidler: Wer ist schuld? Woran schuld? Ich bin nicht schuld! Ich habe nichts getan!
Gerber: Unsinn! Wenn sie uns eine Schuld vorwerfen, dann müssen sie uns nicht in dieser obskuren Art und Weise hier zusammenrufen.
Ender: Die Schuld ist allgemein! Vielleicht haben wir eine gemeinsame Schuld.
Gerber: Wozu gibt es Gerichte und Untersuchungsausschüsse?
Ender: Vielleicht bilden wir einen dieser neuen Laienuntersuchungsausschüsse.
Gerber: Wir sind keine Richter.
Angelika: Langsam glaube ich, daß wir angeklagt werden.
Gerber: Wessen wollen sie uns anklagen?
Angelika: Sie haben doch gehört
Kindler: Ich habe Angst.
Seidler: Ich finde diese Vorgangsweise unerhört. Ich werde mich beschweren. Ich bin eine anerkannte Persönlichkeit und habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich lasse mir das nicht bieten. Ich protestiere auf das Entschiedenste!
Gerber: Proteste helfen uns nicht. Und bei wem wollen sie denn protestieren. Wir sind nicht zuständig.
Seidler: Das weiß ich. Warum kommt denn niemand und sagt uns, was das soll.
Gerber: Das dürfen sie mich nicht fragen. Aber wir sind nun einmal in dieser Situation und wir müssen versuchen ...
Seidler: Was heißt versuchen? Wir haben ein Recht darauf zu erfahren ...
Gerber: Recht? Welche Rechte haben Gefangene? Und daß wir hier gefangen sind, wissen wir bisher mit Sicherheit. Das ist die einzige Tatsache!
Seidler: Ich bin nicht gefangen. Ich bin freiwillig hier ... Ich ... ich ... lasse mich nicht einsperren!
Ender: Trotzdem sind sie hier. Sie sind nur einer von acht Gefangenen.
Seidler: Aber ich bin doch ...
Gerber: Diese Diskussion bringt uns nicht weiter. Wir sind (ironisch) freiwillige Gefangene.
Ender: Wir sollten uns vorstellen. Mein Name ist Ender und das ist meine Frau Angelika.
Seidler: Endlich ein vernünftiger Vorschlag! Seidler, Dr. Seidler.
Gerber: Roche.
Kindler: Kindler, sehr erfreut.
Maximilian: Maximilian. Dr. Maximilian. Draximilian.
Jäger: Ich bin schuld. (Richtet sich auf)
Alle blicken verwundert zu ihm hinüber.
Seidler: Was wollen sie damit sagen?
Jäger: Sie sind doch Dr. Seidler von der Vierthalerschule?
Seidler: (verwundert) Ja, aber woher kennen sie mich?
Jäger: Das ist eine lange Geschichte.
Maximilian: Lange Geschichte. Geschichte! Geschichte.
Jäger liegt, auf einen Arm gestützt, quer über die Stühle. Die anderen, bis auf die alte Frau, umstehen Jäger bzw. holen sich die freien Stühle und setzen sich um ihn herum. Jäger spricht langsam, immer wieder stockend.
Jäger: Sie, Dr. Seidler, erinnern sich vielleicht an meinen Bruder - Abel Mandel?
Seidler: (nickt, sich besinnend) Ja, vor etwa sieben, acht Jahren
Jäger: Vor acht Jahren wurde mein Bruder von ihrer Schule ausgeschlossen.
Seidler: (abwehrend) Nicht m e i n e Schule! Damals war ich noch nicht Leiter, damals war ich nur ein kleiner Lehrer unter vielen ...
Jäger: Sie kennen die ...
Seidler: Ich habe mit der Sache nichts zu tun gehabt! Überhaupt nichts!
Jäger: Das meine ich nicht! Aber sie kennen die Geschichte meines Bruders?
Seidler: Ja, ihr Bruder hatte eine Mitschülerin ... hatte mit einer Mitschülerin etwas.
Jäger: Er hat sie vergewaltigt. -
Seidler: Deshalb wurde er von der Schule verwiesen. Es war ein einstimmiger Beschluß. Wir hatten keine andere Wahl.
Jäger: Mein Bruder wurde damals nicht nur von der Schule ausgeschlossen sondern in eine Korrekturanstalt gebracht.
Seidler: Aus der er dann geflohen ist.
Jäger: Mein Bruder ist geflohen und hat dieses Mädchen umgebracht.
Seidler: Es stand in allen Zeitungen. Dann ist das vertuscht worden. Mehr weiß ich davon nicht.
Jäger: Ja, es
wurde ein Veröffentlichungsverbot ausgesprochen. Mein
Bruder blieb verschwunden. Eines Tages wurde ich von der
Polizei abgeholt. Man schleppte mich in eine dieser damals
gerade eingeführten Verhörkammern, schloß
mich an einen Apparat an und verhörte mich. Stundenlang
immer dieselben Fragen. Doch sie glaubten mir nicht. Dennoch
wurde ich freigelassen. Man konnte mir nicht beweisen,
daß ich meinen Bruder decke. Das war erst der Anfang.
Ziemlich regelmäßig wurde -ich vorgeladen,
verhört und wieder entlassen. Mit ihren Worten waren
sie freundlich - aber so reden sie ja immer - doch sie
brachten mich soweit, daß ich meinen Bruder
verfluchte. Ich verlor meine Arbeit, denn oft blieb ich
zwei, drei Tage bei diesen Verhören. Endlich war es
ihrer Meinung nach so weit, war i c h soweit! Sie
erklärten mir, daß ich ihr Problem und damit auch
mein Problem lösen könnte. Sie dürften meinen
Bruder nicht töten, sie dürften ihn nicht einmal
verurteilen. Ich sollte ihnen diese Arbeit abnehmen. Ich
sollte meinen Bruder töten, meinen Bruder, dem ich die
Verhöre, den Verlust meiner Arbeit zu verdanken
hätte. Ich begann meinen Bruder zu hassen. Immer wieder
zeigten sie mir das Bild meines Bruders und das Bild des
Mädchens, das er getötet hatte. In immer
schnellerer Folge zeigten sie mir diese Bilder. Am Anfang
dachte ich noch, sie wollten herausfinden, wo mein Bruder
versteckt war, ob ich etwas wüßte. Doch die
Fragen hatten nur den Zweck, meinen Haß zu
schüren, mich gegen meinen Bruder und seine Tat
aufzubringen. Auf meine Fragen, wozu diese Verhöre
dienten, antworteten sie nur, daß es für das Wohl
der Gemeinschaft wäre. Oder sie sprachen auch von
Experimenten für die Zukunft, für ein besseres
Menschengeschlecht. Dann eines Tages, führten sie mich
in ein Zimmer. Ein langgestrecktes Zimmer, das wie ein
Schießstand aussah. Sie gaben mir auch eine Pistole
und ich sollte auf ein Ziel schießen, das sie mir
zeigen würden. Von Tonbändern spielten sie mir die
Schreie eines Mädchens vor, das vergewaltigt wird. Es
wären Schreie des Mädchens, das mein Bruder
getötet hatte. Ich fragte nicht mehr, woher sie diese
Aufnahmen hatten, ich glaubte ihnen alles, was sie
erzählten.
Zu diesem Zeitpunkt wußte ich nicht mehr, was ich tat
und woran ich glaubte. Sie zeigten mir Bilder meines Bruders
und des Mädchens, das er umgebracht hatte. Sie zeigten
mir Bilder, auf denen mein Bruder dieses Mädchen
erwürgte. Und immer wieder die Schreie des
Mädchens. Sie befahlen mir, auf das Bild meines Bruders
zu schießen. Ich schoß auf jedes Ziel, das sie
mir zeigten. Ohne auf die Gesichter zu achten. Gesicht,
Mädchen, Bruder, Schießen. Immer wieder. Und ich
lernte an diesem Spiel, wie sie es nannten, Gefallen zu
finden. Schießen, schießen und schießen.
Und dann kam dieser Tag, an dem sie mir keine Bilder mehr
zeigten. Ich flehte sie an, mir die Bilder zu zeigen, ich
bettelte um das Geschrei des Mädchens, seinen
Todesschrei. Ich war bereit, meinen Bruder zu töten.
Ich mußte es tun. Ich erschoß meinen Bruder, als
sie ihn hereinschleppten.
Die Umstehenden, die ihm gefolgt waren, weichen unwillkürlich einen Schritt zurück. Aber sie bleiben stumm. Es tritt eine Pause von etwa 20 Sekunden ein!
Jäger: (mit
tonloser Stimme) Als ich meinen Bruder auf dem Boden liegen
sah, trat ich seinen Körper mit den Füßen.
Gedankenlos, besinnungslos. Sie ließen mich frei. In
Gedanken habe ich meinen Bruder seit diesem Tag immer wieder
getötet, ihn getreten, die Gesellschaft von einem
Mörder befreit. Und mit diesen Gedanken befreite ich
mich! Ich begann die Lücken, die Unstimmigkeiten in den
Abläufen zu entdecken. Ich begann mir Fragen zu
stellen. Fragen, die ich früher beiseite geschoben
hatte, Fragen, die sie mit meinem Haß zum Verstummen
gebracht hatten. Wie konnten sie Bilder von meinem Bruder
besitzen, Bilder und Tonbandaufnahmen seiner Tat? Wie konnte
mein Bruder überhaupt aus einer ihrer sicheren
Anstalten ausgebrochen sein? Wie hatten sie meinen Bruder
gefunden? Ein Spiel hatten sie es genannt. Alles war nur ein
Spiel, wußte ich plötzlich.
Ich begann meinen Bruder zu suchen. Ich hatte ihn nicht
getötet. Wie besessen begann ich überall nach
meinem Bruder zu suchen. Ich würde ihn finden, davon
war ich überzeugt. Alles war ja doch nur ein Spiel,
mußte ein Spiel gewesen sein. Die Tat meines Bruders,
die Verhöre, der Mord an meinem Bruder. Ich nahm einen
anderen Namen an. Ich nannte mich Jäger.
Besessen von dem Gedanken, alles aufzulösen, meine
Schuld, an die ich nicht mehr glauben konnte, von mir
abzustreifen, suchte ich nach meinem Bruder. Eines Tages
standen sie vor meiner Tür, drangen in meine Wohnung
ein. Ich sollte die Suche nach meinem Bruder aufgeben. Er
sei tot. Es sei ihm und der Gesellschaft Gerechtigkeit
widerfahren. Ich sei nur ein Werkzeug dieser Gerechtigkeit
gewesen. In mir hätte sich die Gerechtigkeit der
Gesellschaft, das Wohl der Gesellschaft manifestiert. Da
begann ich zu verstehen, da begann ich zu ahnen - was ich
heute weiß. Alles war ein großes Experiment, sie
haben meinen Bruder manipuliert, mich manipuliert. Sie
wollten Herausfinden, wozu ein Mensch fähig ist. Sie
wollten die Grenzen finden. Ich wollte ein Ende machen. Aber
ich hatte denken gelernt, ich begann, sie und ihre Absichten
zu durchschauen. Ich begann einen Kampf gegen sie. Nicht
offen, versteckt. Ich arbeitete mit denselben Methoden. Ich
unterrichtete andere, dieses Spiel zu durchschauen. Den
Mantel herunterzureißen, der ihre Lügen verbirgt:
daß alles zum Wohle der Gemeinschaft wäre, zum
Wohle aller. Ich weiß, daß das heute das Ende
ist. Sie werden nicht länger zuschauen - und sie
schauen zu! Sprechen sie mich schuldig. Ich kämpfe
gegen die Gesellschaft. Ich bin schuldig.
Es tritt abermals eine kurze Pause ein.
Gerber: Wir alle sprechen sie frei. Sie sind nicht schuldig.
Jäger: Sie müssen mich schuldig sprechen. Sie erwarten es von ihnen. Wenn sie mich nicht schuldig sprechen, dann kommen sie vielleicht nie mehr hier heraus.
Gerber: Nein, das glaube ich nicht. Wir alle haben - bis auf Dr. Seidler - nichts von dieser Sache gewußt. (Wendet sich Zustimmung holend an die anderen. Diese schütteln den Kopf,- nur Dr. Seidler will etwas erwidern, besinnt sich dann aber) Nein! Es muß etwas anderes sein. Etwas Gemeinsames. Wer kann von sich behaupten, keine Schuld auf sich geladen zu haben?
Jäger: Die Schuld liegt nicht in uns. Sie machen uns schuldig.
Seidler: Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Ich habe nichts Unrechtes getan. Niemals hätte ich jemanden umgebracht.
Ender: Vielleicht sind wir ausgewählt worden, ihn schuldig zu sprechen, ihn zu verurteilen und ihn dann ... (er zögert)
Maximilian: (die Pause nützend) Ausgewählt verurteilen. Verurteilen. Ausurteilen.
Ender: Aber wir müssen doch irgendeine Funktion erfüllen. Wir sind gemeinsam hier eingeschlossen, wir werden gezwungen ...
Er wird unterbrochen. Wieder ertönt die Stimme aus dem unsichtbaren Lautsprecher.
Stimme: Alle sind schuldig.
Maximilian: Alle sind schuldig. Alle sind schuldig. Alle sind schuldig.
Alle stehen noch unter dem Eindruck der Stimme.
Seidler: (Maximilian anfahrend) Hören sie doch mit ihrem albernen Nachplappern auf. Wir sind alle nicht schuldig. Zumindest ich ...
Kindler: Alle! Sie haben doch gehört: alle!
Gerber: Wir müssen ihr Spiel mitspielen. Nicht weil sie es wollen, weil wir es müssen. Wir müssen handeln, wir sind dazu gezwungen, wenn wir hier jemals wieder herauskommen wollen.
Jäger: Sie dürfen mich nicht freisprechen. Ich habe mich schuldig gemacht. Sprechen sie mich schuldig, dann werden sich die Türen für sie öffnen.
Gerber: Dazu kann uns niemand zwingen. Niemand. Auch sie mit ihren Methoden nicht. Wir sind keine Richter und keine Henker.
Ender: Wir lassen uns nicht zwingen.
Jäger: Mich haben sie zum Mörder gebracht mit ihren Methoden. Sie werden sie zwingen, mich schuldig zu sprechen.
Kindler: Ich habe nichts zu verlieren, darum werde ich sie niemals schuldig sprechen.
Seidler: Sie haben nichts zu verlieren, aber ich ...
Ender: Hören sie doch mir ihren Unschuldsbeteuerungen auf. Wer weiß, was sie alles getan haben.
Seidler: (macht Anstalten, Ender anzugreifen) Das ist eine infame Unterstellung. Nehmen sie das sofort zurück oder ich ...
Ender: (kalt) Ich wüßte nicht, was ich zurücknehmen sollte.
Seidler: (stürzt sich auf Ender, wird aber von Gerber daran gehindert) Sie nehmen das sofort zurück ...
Gerber: (schreit) Aufhören!
Seidler: Mischen sie sich da nicht ein. Er hat behauptet, daß ich ...
Gerber: Merken sie denn beide nicht, daß uns das nicht weiterbringt. Genau das wollen sie doch. Nur wenn wir an einem Strang ziehen, kann es eine Lösung geben. Wir alle sind in dieser Situation - alle! Nehmen sie sich doch zusammen.
Kindler: Bitte hören sie auf zu streiten. Ich werde meine Geschichte erzählen.
Seidler: (der sich etwas beruhigt hat) Dazu kann sie niemand zwingen.
Kindler: Wer spricht von Zwang? Ich will erzählen.
Maximilian: Erzählen. Erzählen. Erzählen.
Seidler: Hören sie mit ihrem Gefasel auf!
Kindler: Bitte hören sie auf. Das hat doch keinen Sinn.
Maximilian: Keinen Sinn! Keinen Sinn. Keinen Sinn.
Seidler: (will etwas erwidern, macht aber nur eine abwertende Handbewegung) Mit ihnen ...
Kindler: Ich werde meine Geschichte erzählen. Ich habe einen Sohn, vielmehr, ich hatte einen Sohn. Mein Mann ist ein Jahr nach der Geburt von Walter gestorben. Da wurde ich von den Behörden vor die Alternative gestellt, entweder mich wieder zu verheiraten oder das Kind zur Adoption freizugeben. Ich lief von einem Amt zum anderen. Ich wollte nicht mehr heiraten. Überall sagte man mir: wenn sie nicht heiraten wollen, dann müssen sie ihren Sohn freigeben. Das Gesetz verbietet einer Frau, ein Kind allein - großzuziehen.
Seidler: Ein Kind braucht einen Vater! Sie hätten heiraten müssen, wenn sie ihren Sohn behalten wollten.
Kindler: Ich hatte meinen Mann geliebt.
Seidler: Trotzdem. Sie mußten ihrem Sohn einen Vater geben.
Kindler: Ich konnte es nicht. Sie nahmen mir das Kind und es erhielt neue Eltern. Gute Eltern. Sie besaßen ein schönes Haus, Geld, Einfluß. Mein Sohn würde es gut haben. Sie sagten, besser als bei mir. Was könnte ich ihm schon bieten.
Seidler: Dieses Gesetz ist gut.
Kindler: Gut für wen?
Seidler: Für unsere Kinder und Kindeskinder.
Kindler: So steht es auf dem Papier. Haben sie Kinder?
Seidler: Eine Tochter.
Kindler: Und es ist ihr eigenes Kind?
Seidler: Natürlich! Meine Frau und ich sind sehr stolz auf unsere Tochter.
Kindler: Ich wollte auch einen Sohn haben, auf den ich stolz sein könnte. Ich hätte ihn zu einem wertvollen Menschen erziehen können.
Seidler: Ohne Väter gibt es keine wertvollen Menschen.
Gerber: Unterbrechen sie Frau Kindler nicht immer.
Kindler: Schon gut.
Sie nahmen mir meinen Sohn. Anfangs durfte ich ihn noch
besuchen. Doch das Kind, das in einem fremden Haus bei
fremden Menschen aufwuchs, war nicht mein Kind. Eines Tages,
Walter war gerade vier Jahre alt, verbot man mir die
Besuche. Die Eltern fanden, daß ich mich in ihre
Erziehung einmischte. Ich hätte kein Recht mehr. Das
hätte ich mir früher Überlegen sollen. Ich
wußte, in welche Schule mein Sohn gehen sollte Als er
mit fünf Jahren in die Schule kam, verbarg ich mich
vis-a-vis vom Schultor, wo mich niemand sehen konnte.
Jahrelang beobachtete ich ihn. Er schien glücklich zu
sein.
Dann kam jener Tag. Walter war zwölf. Wieder hatte ich
ihn beobachtet. Da lief er wie immer aus dem Schultor heraus
über die Straße. Er stürzte. Ich
vergaß in diesem Augenblick alles. Ich lief zu ihm und
half ihm auf die Beine. Er blutete ein wenig. Ich wischte
das Blut von seinen Knien. Tut es weh, Walter, fragte ich.
Erstaunt blickte er mich an, woher kennst du meinen Namen?
Und dann sagte ich jenen Satz, der meine Schuld
begründete: Ich bin deine Mutter. Zuerst begriff er den
Sinn der Worte nicht. Dann rief er: du lügst, du bist
nicht meine Mutter. Er riß sich los und lief
davon.
Angelika: Das muß entsetzlich für sie gewesen sein.
Kinder: In diesem Augenblick wurde mir zum ersten Mal bewußt, was ich getan hatte. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Nach einigen Tagen erhielt ich eine Nachricht von den Behörden. Man machte mir klar, daß es besser wäre, wenn ich in eine andere Stadt zöge. Man würde mich notfalls zwingen. Damals war ich selber froh über diesen Vorschlag.
Angelika: Sie haben ihren Sohn nicht wiedergesehen.
Kinder: Doch, aber das ist eine andere Geschichte.
Angelika: Sie sollten sie erzählen. Vielleicht hilft es ihnen.
Kindler: Mir kann nichts mehr helfen, aber ich werde erzählen. Sie kennen meinen Sohn vielleicht unter dem Namen Walter Martens.
Gerber: Den Wissenschaftler?
Kindler: Ja, der Wissenschaftler. Es ist etwas aus ihm geworden.
Seidler: Auf den können sie stolz sein. Es war richtig, ihn in eine vollständige Familie zu geben. Sie können trotzdem stolz sein.
Kindler: Kann ich das?
Seidler: Meine Tochter soll auch eine Wissenschaftlerin werden. Sie besucht jetzt die Universität. Alle Tests ergaben hohe Begabungsreserven. Sie hat ausgezeichnete Zensuren. Der Staat sorgt für unsere Begabungen.
Gerber: Lassen sie Frau Kindler doch weitererzählen.
Kindler: Nein, erzählen sie nur von ihrer Tochter.
Seidler: Nun, meine Tochter wird eine bedeutende Forscherin werden, auch wenn sie anfangs nicht so recht wollte. Sie wollte Schauspielerin werden. Stellen sie sich vor: Schauspielerin!
Kindler: Nun, was ist daran so Schlimmes?
Seidler: Meine Tochter eine Schauspielerin. In meiner Position als Vater einer Schauspielerin. Diese Flausen habe ich ihr schon ausgetrieben. Sie hat anfangs zwar mit Trotz reagiert, doch ich habe ihren Trotz gebrochen. Seither ist sie eine ausgezeichnete Schülerin und eines Tages wird sie mir dankbar dafür sein.
Kindler: Das wünsche ich ihnen.
Gerber: Erzählen sie wieder von ihrem Sohn.
Kindler: Das ist
rasch erzählt. In einer U-Bahn-Station hielt mir jemand
die Türe auf - mein Sohn. Ich habe ihn sofort erkannt
und ich muß wohl einigermaßen betroffen
ausgesehen haben. Ich vergaß, die Türe zu halten
und ich bedankte mich auch nicht. Es waren nur einige
Sekunden gewesen - für mich war es eine Ewigkeit. Er
wird sich gewundert haben über die seltsame alte Frau,
die ihn zwischen Tür und Angel anstarrte. Erst als ich
mich gefangen hatte, dankte ich ihm. Er ging
kopfschüttelnd weiter.
Seit diesem Tag weiß ich, daß ich gelernt habe.
Seit diesem Tag habe ich keinen Sohn mehr. Ich habe niemals
einen Sohn gehabt. Niemals.
Angelika tritt zu ihr und legt die Hand um ihre Schultern. Es tritt einen Augenblick Stille ein.
Stimme: Schuldig.
Die Reaktionen sind jetzt weniger heftig als vorher.
Maximilian: Schuldig. Schuldig. Schuldig.
Ender: Auch wir sind schuldig.
Angelika: Ich weiß, was du meinst.
Seidler: (der aus dem Hintergrund hervorgetreten ist) Was soll es für einen Sinn haben, wenn wir uns alle hier entblößen? Das wollen sie doch nur. Um uns dann umso leichter verurteilen zu können. Wir werden uns aber nicht selber schuldig sprechen.
Gerber: Glauben sie nicht, daß es gleichgültig ist, was wir tun? Sie beobachten uns, sie beobachten unsere Reaktionen. Ob wir nun unsere Schuld bekennen oder nicht. Das ist vielleicht die letzte Chance ... unsere einzige, um ...
Angelika: Um dem zu entkommen? Glauben sie noch daran?
Gerber: Ich weiß es nicht. Aber hier zu sitzen und zu warten hilft uns nichts. Je besser wir einander kennenlernen, je mehr wir voneinander wissen ...
Angelika: Wir müssen diese Chance nützen, irgendwie ... Auch wir müssen unsere Geschichte erzählen. (Blickt Ender an)
Ender: Außer uns beiden weiß niemand davon, zumindest haben wir das geglaubt. Die Lage, in der wir uns jetzt befinden, beweist mir, daß sie alles wissen. Sie kennen die Bestimmungen, die Gesetze, die es uns heute erlauben, Kinder zu bekommen. Wir haben die vorgeschriebenen unzähligen Untersuchungen über uns ergehen lassen. Bis uns eines Tages mitgeteilt wurde, daß wir kein Kind haben dürfen. Kein normal gezeugtes Kind, denn die Verbindung unserer Chromosomen sei für die Gesellschaft nicht wünschenswert. Das stand in dem Befund. Man ließ uns eine Möglichkeit: eine künstliche Befruchtung mit geprüftem Samen. Angelika und ich haben lange darüber nachgedacht und wollten auf ein Kind verzichten. Doch ein befreundeter Kollege verriet mir den Namen eines Arztes. Dieser erklärte sich bereit, eine künstliche Befruchtung wieder abzutreiben. Die Entscheidung war nicht leicht. Doch wir stimmten dann überein, daß es die einzige Chance ist. So ließ sich Angelika künstlich befruchten. Das Kind wurde abgetrieben und wir zeugten ein Kind. Wir. Ein Kind, unser Kind. Wie wir von unseren Eltern gezeugt worden waren.
Gerber: Ich habe auch von diesen Bestimmungen gehört, daß nur geprüftes Erbgut für unsere glorreiche Jugend verwendet werden darf.
Angelika: Sie bestimmen unsere Zukunft. Sie wollen aber auch bestimmen, wie unsere Kinder aussehen sollen, welche Persönlichkeit sie haben sollen. (Bitter) Zum Schutz und Wohle der Gemeinschaft. Zur Optimierung künftiger Generationen.
Kindler: Wie alt ist ihr Kind jetzt?
Ender: Wir haben kein Kind. Als es gerade ein Jahr alt war, haben sie es nach einer ärztlichen Untersuchung im Krankenhaus dabehalten. Es müßte Überwacht werden. Es sei nicht gesund. Wir wären nicht in der Lage, es aufzuziehen.
Angelika: Sie haben unser Kind umgebracht.
Ender: Dafür gibt es keinen Beweis.
Angelika: Was ich heute erfahren habe, nimmt mir jede Hoffnung. Sie machen mit uns, was sie wollen. Wir haben keine Chance mehr, unser Leben und das Leben unseres Kindes selber zu bestimmen. Geprüft und nicht in Ordnung befunden.
Ender: Wie lange wollen wir uns das noch gefallen lassen? Wie lange wollen wir diese Zwänge noch hinnehmen?
Seidler: Wir haben keine Chance, etwas zu ändern. Wir sind acht Menschen in einer anonymen Masse, auf die es bei den Überlegungen dort oben nicht ankommt. Man muß das Ganze sehen, sagen sie immer. Sie lachen sicherlich nur über unser Geschwätz ...
Ender: (fanatisch) Sollen sie lachen, sollen sie uns auslöschen ...
Kindler: Glauben sie, daß sie uns ... alle ...
Seidler: Nein, das wagen sie nicht. Das können sie nicht. Wir haben doch schließlich Freunde, Bekannte, die nach uns fragen werden.
Kindler: Nach mir fragt niemand. -
Seidler: Aber mich können sie nicht so einfach liquidieren. Ich bin der Leiter einer Schule, meine Kollegen, meine Schüler werden sich das nicht gefallen lassen.
Ender: Sie haben doch vorhin selber gesagt, daß wir nur acht Einzelschicksale sind. Wir alle sind nicht so viel für die Gesellschaft wert.
Gerber: (zustimmend) Wir sind nicht die Menschheit. Wir sind nur ein unwesentlicher Bestandteil einer Maschinerie. Bestandteile wechselt man aus, wenn sie nicht mehr richtig funktionieren. Früher war es das Alter, die geringere Leistungsfähigkeit, wenn jemand abgeschoben wurde. Heute sind es die Chromosomen. Man wird ausgetauscht, wenn sie den Erwartungen der Herrschaften dort oben nicht entsprechen.
Seidler: Trotzdem sehe ich nicht den Sinn, daß gerade wir hier zusammengeholt wurden.
Gerber: Wir bedeuten für sie irgendeine Gefahr. Eine Gefahr, die wir zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht erkennen können. Darum ist alles, was wir hier sagen, lebensnotwendig.
Seidler: Ich habe mich immer loyal verhalten.
Ender: (Seidler nicht beachtend) Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen. Wir müssen eine Gemeinschaft bilden. Nur so haben wir eine Chance, vielleicht doch hier herauszukommen.
Gerber: Wir müssen zusammen ein Schwert schmieden, mit dem wir die Köpfe dieser Hydra abschlagen können. Nicht wir sind schuldig. Sie wollen nur, daß wir uns schuldig fühlen. Wir dürfen uns nicht zu Schuldigen machen.
Seidler: Die sind schuldig. Nicht wir. Keiner von uns ist schuldig.
Gerber: Sie spielen mit uns. Sie spielen mit unserer Angst und unserem Gewissen.
Seidler: (schreit) Wir sind unschuldig.
Stimme: Unschuldig ist wer schweigt.
Maximilian: Unschuldig ist wer schweigt. Unschuldig ist wer schweigt. Unschuldig schweigt.
Seidler: (läuft zur linken Türe und trommelt mit den Fäusten dagegen. Schreit) Ich habe immer geschwiegen! Die anderen sind schuldig! Ich bin unschuldig! Unschuldig! (Mit sich überschlagender Stimme) Unschuldig!
Die anderen haben den Ausbruch bewegt verfolgt. Zuerst sind sie unentschlossen. Gerber nähert sich Seidler, der vor der Türe weinend in sich zusammengesunken ist, legt die Hand auf seine Schulter, hilft ihm auf die Beine und führt ihn, der willenlos alles mit sich geschehen läßt, zu einem freien Stuhl. Seiler fällt hilflos darauf, stützt den Kopf in seine Hände.
Ender: Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren.
Gerber: Darauf warten sie nur.
Angelika: Diese Situation ist doch nicht zum Aushalten.
Maximilian:
(brüllend, daß die anderen sich ihm zuwenden) Ich
bin unschuldig. (Mit Genugtuung die Zuwendung bemerkend
stellt er sich auf einen Stuhl und beginnt zu deklamieren)
Maximilian, ich bin unschuldig. Ich hatte ihn geliebt. Ach,
armer Maximilian. Die Schuld ist allgemein. Auch du,
Maximilian. Es sind die besten, Maximilian. Das höchste
Gericht. Davor zu stehen, Maximilian. Alle. Die
Verurteilung. Unschuldig ist wer schweigt. Maximilian. Du
schweigst. Die Beweiskraft. Erdrückend. Maximilian.
Nicht du allein. Ich hatte ihn geliebt. Alle. Geliebt.
Guten Abend, Maximilian. Alle sind Mutter. Unschuldig. Ja,
mein Kind. Beschütze mich. Maximilian, ich bin bei Dir.
Mutter. Ich bin bei Dir. Maximilian. Mutter? Weine nicht.
Ich liebe Dich. (Beinahe zärtlich) Auch wenn du das
Glas zerbrochen hast. Schuldig, Mutter. Nein, mein Kind. Ich
habe es zerbrochen. Ich liebe dich, Maximilian. Mutter, ist
Liebe. Ist Schuld. Liebe ist Unschuld. Mutter, hilf mir.
Maximilian, ich bin bei dir. Mutter. Mutter. Mutter.
(beinahe erleichtert) Schuldig. Auch du? Tritt näher.
Auf deiner Stirn. Maximilian. Unschuldig? Nein. Maximilian.
Mutter, du. (Bricht zusammen)
Mutter. Mutter. Maximilian, mein Kleiner. Das Haar zu
streicheln. Maximilian. Ein Kuß. Mutter. Ich bin bei
dir. Unschuldig, Mutter. (Bricht in Tränen
aus)
Die anderen sind von seinen Worten ergriffen.
Angelika: Ich habe Angst.
Kindler: Wir alle haben Angst.
Jäger: (der nach seiner großen Erzählung wieder erholt ist) Sie brauchen keine Angst zu haben, keine Angst vor diesen Kreaturen. Sie haben nur ihre Gesetze. Wir haben unsere Gefühle und unseren Willen.
Angelika: Was nützen uns Gefühle?
Jäger: Gefühle kann uns niemand nehmen, auch sie nicht. Sie können unseren Verstand zerstören, aber nicht unser Fühlen. Sie können unsere Angst, unsere Liebe, unser Mitleid, unsere Hoffnung nicht mit Gesetzen bestimmen. Sie können uns nicht befehlen, keine Angst zu haben. Deshalb können sie uns auch nicht befehlen, daß wir sie fürchten.
Ender: Unsere Angst ist unsere Stärke.
Angelika: Das hilft uns nicht hier heraus.
Jäger: Das ist nun nicht mehr wichtig. Wir sind stark. Und unsere Situation soll uns stark machen im Kampf gegen diese Diktatur des Verstandes.
Ender: (legt die Hand um die Schultern Angelikas) Unsere Liebe macht uns stark.
Angelika: (umarmt Ender wortlos)
Jäger: Wir haben hier gelernt, wozu dieses Regime fähig ist. Ich habe einen Kampf gegen ihn begannen. Heute habe ich wieder die alte Kraft, den alten Haß in mir gefühlt. Der Haß gegen dieses Regime ohne Gefühl und ohne Menschlichkeit wird uns die Kraft geben für unseren Kampf.
Maximilian: (brüllend) Kampf! Kampf! Kampf!
Alle wiederholen leiser, teilweise zögernd, das Wort "Kampf". Alle treten sie zueinander und nehmen sich an den Händen. Sie wiederholen immer wieder das Wort Kampf, bis es schließlich im Chor wie eine Stimme klingt.
Stimme: Kampf! (Gelächter) Kampf! (Sich überschlagendes Gelächter)
Das Gelächter des Tonbandes wird von einem gemeinsamen Ruf "Kampf" aller übertönt.
Nach dem Schwur hat sich die Situation beruhigt.
Ender: Jeder hat seine Geschichte erzählt. Nun sind sie an der Reihe, Roche.
Gerber: (zögernd) Ja, ich bin an der Reihe. Auch ich bin schuldig geworden. Lange, zu lange liegt alles zurück.
Seidler: Sie vergessen nichts. Sie registrieren alles.
Gerber:
Ich habe meine Mutter verlassen. Ich bin vor ihrer Liebe
geflohen. Sie hatte alles für mich bestimmt, hatte
jedes Hindernis aus dem Wege geräumt. Sie hat mich
behütet, mich vor allen Gefahren versteckt. Ich glaubte
an die Nüchternheit, an die Kraft des Verstandes. Ich
haßte alle Gefühle. Ich hatte meine Mutter, die
immer von Gefühlen sprach. Ich bin vor diesen
Gefühlen davongelaufen. Das war vor vielen Jahren.
Ich nahm einen anderen Namen an und lebte in einer fremden
Stadt. Vor zwei Jahren bin ich zurückgekehrt. Ich hatte
in einer Welt der Rationalität gelernt, daß der
Mensch mehr ist als sein Verstand. Daß er auch mehr
ist als ein Bündel von Gedanken und Emotionen. Ich
hatte Sehnsucht nach Liebe, nach Geborgenheit. Ich hoffte
meine Mutter wiederzufinden. Ich suchte unser altes Haus
auf, doch es stand leer. Man sagte mir, sie wäre
ausgezogen. Ein Nachbar erzählte mir aber, daß
meine Mutter abgeholt worden war. Ich bin zu den
Behörden gelaufen. Doch dort wußte man nichts
über das Verbleiben meiner Mutter. Man sagte mir
nichts, oder man wollte mir nur nichts sagen. Ich begann
nach meiner Mutter zu suchen. Doch weiß ich nicht
einmal, wie sie aussieht. Lebt sie noch? Ich weiß,
daß ich eine Schuld auf mich geladen habe. Eine
Schuld, die ich nicht gutmachen kann. Doch glaubte ich an
eine Chance, wenigstens einen Teil dieser Schuld abtragen zu
können, ein Unrecht gutmachen zu können. Ich bin
schuldig.
Kindler: Wie alt ist ihre Mutter jetzt?
Gerber: Sie müßte zweiundsiebzig Jahre sein.
Kindler: So alt vielleicht wie diese Frau dort auf dem Stuhl?
Gerber: (folgt ihrem Blick) Ja, so alt ... vielleicht. (Zögernd, dann entschlossen) Nein, das kann nicht sein! Ich müßte meine Mutter doch wiedererkennen. (Pause) Ich müßte doch fühlen ... Kann man seine Gefühle denn verlieren? (Nähert sich der alten Frau, die aber unbeteiligt bleibt und nur vor sich hinnickt) Nein. (Er schüttelt immer wieder den Kopf. Kniet vor der alten Frau nieder, nimmt ihre Hände)
In diesem Augenblick wird die Bühne hell angestrahlt.
Die Türe links öffnet sich und Weiß tritt herein, begleitet von zwei Soldaten. Alle sind angezogen und abgestoßen zugleich.
Seidler: Wir wollen eine Erklärung ...
Ender: Wir wollen wissen ...
Jäger: Wir fordern Rechenschaft ...
Kindler: Endlich ... Weiß: (unterbricht die auf ihn Einstürmenden geradezu freundlich) Sie sollen eine Erklärung erhalten. Nehmen sie doch Platz. (Er weist mit einer Handbewegung die beiden Soldaten an, die Stühle wieder an die Wand zu stellen. Flankiert von den zwei Soldaten holt er einen Zettel aus der Tasche, bemerkt, daß sich noch niemand gesetzt hat) Nehmen sie bitte Platz.
Zögernd folgen alle seiner Aufforderung. Nur Gerber kniet nach wie vor kopfschüttelnd vor der alten Frau.
Weiß: Sie haben an einem Experiment teilgenommen. (Beschwichtigt einige, die sich protestierend erhoben haben) Bitte behalten sie doch Platz. Wir wollen zu einem Ende kommen. Ich habe ihnen das Resultat zu verkünden. Sie sind schuldig.
Weiß hebt die Hand und die beiden Soldaten heben die Maschinenpistolen und exekutieren die acht Personen mit zwei Garben. Die acht sinken zu Boden. Ruhig, wie man zu Boden sinkt, wenn man auf einem Stuhl eingeschlafen wäre. Weiß schickt die beiden Soldaten hinaus. Sie kommen mit dem Türsteher und zwei anderen Soldaten zurück. Alle Vorgänge sind lautlos! Im Zuschauerraum erheben sich auf eine Handbewegung von Weiß hin acht Personen, die im Zuschauerraum verteilt sind, und kommen auf die Bühne. Die acht Personen sind dem Aussehen nach identisch mit den acht Personen auf der Bühne, Kleidung, Haartracht müssen übereinstimmen. Der Transparentvorhang fällt. Die acht Personen treten zu ihren am Boden liegenden Doppelgängern.
Sie bewegen sich wie Marionetten. Weiß deutet den Soldaten mit einer Handbewegung, daß sie die acht Personen hinausbringen. Die Soldaten treiben die acht Personen, die alles teilnahmslos über sich ergehen lassen, zur rechten Türe hinaus.
Das Licht verdunkelt sich, nur die drei Lampen brennen wie am Beginn der ersten Szene. Weiß will bei der linken Türe abtreten. Besinnt sich. Nimmt aus der Manteltasche den Fensterknauf und öffnet das Fenster. Von draußen sieht man das gelbe Licht eines Sonnenaufgangs. Während Weiß langsam abtritt, wird die Sonne immer heller und überflutet schließlich den Zuschauerraum mit ihrem gleißenden Licht. Langsam fällt der Vorhang.
(Linz 1979)